Die Zeit der aktiven Beschäftigung Robert Müllers mit Karl May war nur eine kurze Episode in seinem Leben. Sie dauerte von Jänner bis Mai 1912. Wie die Leser dieser Jahrbücher wissen, hat er damals in drei Publikationen für ihn Zeugnis abgelegt, mit den Waffen des Geistes für ihn gekämpft und ihm die vorzüglich vorbereitete Gelegenheit zum letzten Vortrag in Wien geboten, dessen triumphaler Erfolg die letzten Lebenstage des großen Erzählers verklärt hat. Aber nach dem Mai 1912 war das Thema »Karl May« für ihn erledigt.
Leichter als eine Erklärung, warum jene Episode im Leben Robert Müllers so kurz gedauert hat, ist die Antwort auf die Frage zu geben, was ihren Beginn veranlaßt haben mag. Offenbar war dies Karl Mays Sieg gegen Lebius in der Gerichtsverhandlung am 18. Dezember 1911. Robert Müller, wohl ein Kenner und Freund der Reiseerzählungen von der Schulzeit her, war im »Akademischen Verband für Literatur und Musik« mit literarisch begabten Kameraden, die begeisterte Anhänger Karl Mays waren, zusammengetroffen. Sie alle hatten gewiß die Verfolgung und Ächtung, der dieser seit ein paar Jahren ausgesetzt war, mit Empörung und Mitleid beobachtet, und als nun endlich sein gehässigster Feind wegen grober Beleidigung verurteilt worden war, scheint Robert Müller, der Tatkräftigste in der kleinen Schar, der Ansicht gewesen zu sein, daß nun der geeignete Zeitpunkt für Aktionen zugunsten Karl Mays gekommen sei. Anknüpfend an das erwähnte Urteil, schrieb er unter dem Titel »Das Drama Karl Mays« eine Apologie, die er seinem Wunsch gemäß im »Brenner« veröffentlichen konnte. Wie sehr ihn dies gefreut hat, ist aus seinem Brief vom 27. Jänner 1912 an Ludwig von Ficker zu sehen (1), dessen Anfang hier wiedergegeben sei, da er den Briefschreiber von einer überaus sympathischen Seite zeigt:
»Ihr lieber schöner Brief hat mir eine sehr sehr große Freude gemacht. Es wird unter a l l e n Umständen eine Ehre für mich sein, in Ihrer Zeitschrift veröffentlichen zu dürfen, und stets wird die Dankbarkeit auf meiner Seite sein. Ich selbst lebe zwar von dem Ertrag meiner Schriftstellerarbeit. Ich ziehe es aber immer vor, ohne Honorar in einer so vornehmen Art zu erscheinen, wie sie Ihre Zeitschrift verbürgt, als bezahlt von einem künstlerisch verkümmerten Blättchen dem Publikum serviert zu werden. Dazu kommt, daß meine Arbeiten stets nur aus einer Sehnsucht oder unterm Gestaltungszwang eines Erlebnisses geschrieben werden; und ihr Erscheinen macht mich dann schon an und für sich froh. Und nun, ich werde sehr glücklich sein, wenn ich meinem »Karl May« künftig im Brenner begegnen werde; es war und ist eine Angelegenheit des Herzens und der Überzeugung für mich.«
Am 17. Februar bat Müller um Zusendung des »Brenner«-Heftes vom 1. Februar, das seinen Beitrag über Karl May enthielt, an diesen, den er in den nächsten Tagen einladen wolle, als Gast des »Akademischen Verbandes« in Wien - und evtl. auch in Innsbruck - zu lesen. Am 1. März hatte er den Antwortbrief Karl Mays in den Händen und sandte ihn an Ludwig von Ficker, um diesen darüber zu unterrichten, daß May die Einladung nach Wien angenommen hatte. Und am 4. März gab Robert Müller nach Rückfrage in Radebeul bekannt, daß Karl May nach Inusbruck erst im Herbst kommen könnte, weshalb es wohl am besten wäre, »die Sache sich im Sand verlaufen« zu lassen.
Dieser Brief vom 4. März verblüfft dadurch, daß Robert Müller neun Seiten lang in einem sehr wenig freundlichen Ton zu Karl May Stellung nimmt. Es ist anzunehmen, daß dieser Brief in gereizter Stimmung, die rasch wieder verflogen sein mag, geschrieben wurde. Wäre dies zur Erklärung ausreichend, so fände ich es überflüssig, den Brief aus der Dunkelheit des Archivs ins Licht der Jahrbücher zu ziehen. Ich bin aber der Ansicht, daß er neben augenblicklicher Mißstimmung auch Problematisches in der Stellung Robert Müllers zu Karl May verrät und es daher ein Fehler wäre, ihn bei der Behandlung unseres Themas zu übergehen.
Was mag es gewesen sein, was damals Robert Müller in Mißstimmung gegen Karl May versetzt hat? Zwei Briefe, die uns nicht bekannt sind, dürften dabei eine Rolle gespielt haben. Den Brief Karl Mays, der die Annahme der Einladung nach Wien überbrachte, fand Robert Müller »lustig«, woraus zu entnehmen ist, daß er ihn sich anders erwartet hatte. Vielleicht hat es ihn enttäuscht, daß Karl May sich durch die Einladung zu wenig beeindruckt, durch die Ehre, unter
anerkannten Größen der Weltliteratur auf dem Programm des »Akademischen Verbandes« zu stehen, nicht erschüttert gezeigt hat. Jedenfalls schrieb Robert Müller, seinem Geschmacke nach verdiente es »eine Bemerkung des Selbstzweifels, wenn man ... zwischen Wedekind und Shaw zu Worte kommt ... Aber das kann man von niemand verlangen, und ferner ist anzunehmen, daß diese Voraussetzung eines solchen Geschmackes eben bei May nicht zutrifft. Er hat die Distanz nach oben, über sich hin, in einer geradezu unverständlichen Weise nicht.«
Der andere Brief, von dem ich vermute, daß er in Robert Müller kritische und skeptische Gedanken über Karl May geweckt hat, war Ludwig von Fickers Klarstellung, daß ein Vortrag Mays in Innsbruck keinesfalls unter der Patronanz des »Brenner« stattfinden könnte. Der Herausgeber dieser für eine Leser-Elite geschriebenen, stark avantgardistischen Zeitschrift tat gewiß gut daran, eine Aufgabe abzulehnen, für die er nicht zuständig war. Das steht durchaus nicht im Widerspruch zum Wohlwollen, das Ludwig von Ficker der Sache Karl Mays wiederholt bewiesen hat. Es ist etwas anderes, ob man geschliffene Essays zur Verteidigung Karl Mays veröffentlicht, oder ob man diesen in einer Massenveranstaltung mit seinen Lesern zusammenzubringen unternimmt.Tatsächlich zeigte Robert Müller für Ludwig von Fickers Haltung volles Verständnis, fühlte sich aber sichtlich genötigt, nun auch Sinn und Zweck der Wiener Veranstaltung nochmals zu überdenken und diese vor sich und Ludwig von Ficker zu rechtfertigen. Er schrieb darnber:
»Ich habe im Sinn, einen ethical clubevening im amerik. Sinne daraus zu machen: Er bekommt einen 2000er Saal, billige Preise. Da hat er seine Kirche. Und dann, ich bin hier Kultur-Unternehmer, verfahren wir über May zu Kokoschka, Kraus, Loos und Shaw, wenn wir das Vertrauen einer breiteren Masse gewonnen haben. Um einen Mann durchzusetzen, muß man die Statisten, die Mitläufer drillen. Das ist die Dialektik, mittels der ich jetzt eine vielleicht, nein sicherlich künstlerisch nicht einwandfreie und meiner Empfindung nach unorganische Idee zu stützen suche. Ein bißchen kitschig wird die Geschichte wohl werden; aber ich bin überzeugt, daß wir keinerlei Unheil anstiften - eine Gefahr, die von der Innsbrucker Vorlesung sicherlich schwerer würde abzuwenden sein.«
Was an Robert Müllers kritischem Brief vor allem unangenehm berührt, ist die übertriebene Betonung infantiler Wesenszüge des alten Mannes. »Es ist alles recht anfängerhaft und trotz furchtbarer Anstrengungen zurückgeblieben, infantil. Ist er nicht der Typ des "moralischen Parvenüs"? Des Menschen, der sich von Haus mit seinen Tugenden schlecht und billig stand, aber durch Arbeit zu einer gewissen moralischen Position gelangte. Ein solcher Mann bezieht alles in seinen kleinen beschränkten Kreis, versimpelt ... die Probleme, glaubt alles gelöst zu haben und stellt keine Fragen mehr an sein Selbstgefühl ... Ist es z. B. nicht einfältig, an den Erfolg seiner Thesen inmitten großstädtischer Bewegtheit zu glauben? Es i s t einfältig und kennzeichnet das geistig Provinzlerische seines Ingeniums ...« Als »das wahre May-Publikum« erhoffte sich Müller für den Wiener Vortrag jedoch nicht, wie man erwarten könnte, die zum Teil noch infantilen jugendlichen May-Leser, sondern »die Gutmütigen und Grundgütigen, die aus ihrer Geistigkeit heraus eine infantile Daseinsart verstehen und entschuldigen können«. So werde May »für die Intellektuellen exploitiert«; er »selbst aber ist zu direkt und alles andere eher denn intellektuell. Er hat von den Werten und der Tiefe unserer Geisteskultur, von der neunmal geschwänzten Katze des Paradoxons, keinen Begriff. Begriffe, ich glaube, das hat er überhaupt nicht. Er ist vollständig unabstrakt. Denn durch die phantastische Gleichnisterminologie seiner Ethik darf man sich nicht täuschen lassen. Sie ist keineswegs transzendent, sondern nur eine Linien- und Raumverlängerung, nicht meta physin, sondern im Gegenteil in die Form hinein. Er ist Spiritist, nicht Spiritualist ...« Durch diese »Infantilität« gelangt May in Müllers Augen jedoch in eine Nachbarschaft zum damals schon verstorbenen großen Tolstoi: »Unterscheidet sich denn der gealterte Tolstoy (Tolstoy - May, ein Thema?) mit seinen christianischen Denkresultaten so wesentlich von May? Nein, so wie ich den alten Tolstoy kenne, fast gar nicht. Es ist bei beiden der typische greisenhafte Infantilismus.« (2) Gewiß wäre der Vergleich Tolstoi - May ein interessantes Thema. Er wäre aber wohl im Aufzeigen von Verschiedenheiten ergiebiger als im Nachweis von Gemeinsamkeiten. Das in die Augen springende Gemeinsame der beiden alten Dichter bestand wohl nur darin, daß sie ihr Christentum sehr ernst genommen haben und auch zu radikalen Folgerungen bereit
waren. Aber im Gegensatz zu Tolstoi neigte May kaum zu Verstiegenheiten. In seiner Religiosität scheinen neben pietistischen auch starke rationalistische Einflüsse wirksam gewesen zu sein. Hatte er sich trotzdem einmal verstiegen, so holte ihn sein gesunder Menschenverstand bald wieder auf den Boden der Wirklichkeit zurück. Sehr klar zeigt uns dies die Tatsache, daß er Kara ben Nemsi als Gast des Ustad auf seine berühmten Gewehre zunächst feierlich verzichten, sie aber später, da er ohne sie nicht auskommt, wieder in Besitz nehmen läßt. Als wäre er nach versuchsweise unternommener Versenkung in den Geist des Absolutpazifismus wieder zu jenem kraftvollen, kampfbereiten Pazifismus zurückgekehrt, dem er sich schon früh zugewendet hatte und dann in »Ardistan und Dschinnistan« so großartigen Ausdruck verliehen hat. Robert Müller aber war, wie sogleich gezeigt werden soll, ein kriegerischer Imperialist und stand jeglichem Pazifismus und - mit starken Einschränkungen, die sich aus seiner konservativen Gesinnung ergaben - wohl auch dem Christentum ablehnend gegenüber. Allerdings blieb dieser Gegensatz, so schwerwiegend er infolge der überragenden Bedeutung des Friedensgedankens in Karl Mays Werk auch war, durch persönliche Sympathie überdeckt und hat während der kurzen Dauer der Beziehungen zu keiner Störung geführt. Zu rasch folgten einander der erste Brief, das Zusammentreffen, der Vortrag, der Tod.
»Ich glaube«, schrieb Robert Müller am Schluß seines langen Briefes, »was ich schon früher, als ich daran ging, eine Apologie zu schreiben, geglaubt habe: Er ist ein großes altes phantastisches Kind, und man sollte nicht bös mit ihm sein. Er meint es riesig ehrlich. Er macht sich gewiß allerhand Kümmernisse.« Aber was er so, ein wenig gönnerhaft, zusammenfaßte, erfuhr doch eine gewisse Berichtigung, als Müller Karl May in Wien persönlich kennengelernt hatte; er berichtete Ludwig von Ficker darüber am 21. März: »May selbst kenne ich nun. Eindruck: sehr sehr sympathisch, Größe nebst Einfalt und Kindereien, ohne Zweifel etwas Genialisches und vor allem: ein Humor,der auch vor dem eigenen Selbst nicht kehrt macht. Alles in Allem eine angenehme Enttäuschung. Ganz Temperament bei 70 Jahren. Haltung: Papa, Weltweiser, Witzbold, jovialer alter Herr etc. etc. in dieser Richtung. Das Vortragsthema ist keineswegs glücklich gewählt, aber die Energie und das Feuer des Sprechenden werden hoffentlich nachhelfen!«
Über den Vortrag und über Mays Tod wurde im Jahrbuch 1970, das auch Robert Müllers »Nachruf auf Karl May« wiederveröffentlicht hat, berichtet. Als Abschluß der May-Episode im Leben Robert Müllers folgte der polemische Aufsatz »Totenstarre der Fantasie«, es folgte aber auch rasch (im Herbst 1912) seine »Apologie des Krieges« (3), die mit unüberbietbarer Deutlichkeit zeigt, wie weit Robert Müller von Karl Mays Friedensgedanken entfernt war.
Mit welch großem, aber nach meiner Empfindung auch hohlem Pathos führen schon die Einleitungsworte dieses Essays in medias res: »Der Krieg kommt aus dem Blute in die Welt; Blut ist eigentlich Krieg in tropfbar flüssigem Zustand. Das irgendwie Bestechende am Krieg ist seine Blutigkeit; wo Krieg ist, da ist Blut, aber wo Blut ist, da ist auch Krieg, und eins ist die Eigenschaft des andern.«
In Robert Müllers Augen waren also Kriege unvermeidlich. Sie waren aber nach seiner Überzeugung auch förderlich, wobei es ihm weniger um technischen Fortschritt zu tun war, den sie ja tatsächlich bewirken, als um die Fortentwicklung des Menschen, der Völker, der Staaten. Müller hielt Staaten für »große geheimnisvolle Tiere««, von denen jedes »eine Spezies für sich« sei, »ein plumpes Stück organischen Lebens, dessen unterste Daseinsvorgänge als gar nicht dumm und brutal genug begriffen werden können«. »... der Geistige wird vorerst einmal leugnen, daß so etwas Garstiges wie Machtfragen, Meerbeherrschung, Kolonisationspläne, Gebietserweiterung, Eroberung mit Gewaltmitteln und dergleichen unbedingt zu einer hochentwickelten Gesellschaft gehörten. Er wird sie als Ausgeburten unedler Triebe, "Militarismus", "Imperialismus«" usw. empfinden. Wobei er aber vergißt, daß ein schmutziger, aber gewaltiger Verdauungsprozeß die gesündeste Vorarbeit zur Aufzüchtung eines fein entwickelten Gehirns ist.« (4)
Verteidigungen des Krieges waren in der Zeit vor 1914 nichts Ungewöhnliches. Es ist für die Widersprüche jener Zeit bezeichnend, daß damals, als Alfred Nobel in der Erkenntnis, der sich beschleunigende technische Fortschritt müsse Kriege zu Katastrophen unvorstellbaren Ausmaßes entwickeln, den Friedenspreis stiftete, und als die Haager Friedenskonferenzen 1899 und 1907 die ersten, noch minimalen Erfolge erzielten im Bestreben, Kriege entbehrlich zu machen, daß zu eben dieser Zeit in Übereinstimmung mit Ansichten, die in Intelligenz und
Jugend vorherrschend waren, ein als Ethnologe und Soziologe hervorragender Gelehrter in einem Werk »Philosophie des Krieges« die Überzeugung von der Unentbehrlichkeit der Kriege mit Bestimmtheit vertrat, wobei er seine Ausführungen bis zum Bonmot zuspitzte, »wenn es keinen Krieg gäbe, müßte man ihn erfinden« (5). Daß Karl May in dieser Frage so entschieden auf der Seite der Klarsichtigen und Weitblickenden stand, gereicht ihm zu hoher Ehre, während zur Entlastung Robert Müllers geltend gemacht werden kann, daß er noch jung und unerfahren war und über den Krieg die damals weit verbreitete Ansicht vertrat.
An Imperialismus dürfte er jedoch das zeitübliche Maß in seinem Kraftmenschentum überschritten haben. Als begeisterter Bürger des habsburgischen Vielvölkerreiches ein entschiedener Gegner der Alldeutschen, verkündete er in seinem Wunschdenken, die Zeit des Nationalismus sei zu Ende, und proklamierte dessen Ablösung durch den »Imperialismus, der gegenwärtig das Gesetz der großen schöpferischen Völker geworden« sei (6). Im Gegensatz zu den Alldeutschen wies er dem deutschen Expansionsdrang nicht in Europa, sondern in fernen Ländern seine Ziele. »Wenn die Bagdadbahn gebaut ist und wenn mit ihrer Hilfe das große arabische Reich deutscher Signatur ... gegründet wird«, dann sollte dieses die Verbindung »eines zentralafrikanischen deutschen Staates« zu »den jetzt holländischen Besitzungen Sumatras und Javas« herstellen und dieser deutsche »Kolonisationsgürtel am Äquator ... in den deutschen (hoffentlich vermehrten) Südseeinseln seinen Abschluß« finden. Vorsichtshalber fügte er noch hinzu, daß »die westliche Erstreckung über Rio Grande do Sul und Chile nicht ganz auszuschließen« sei. Zwischen Deutschland und Österreich wünschte er »Arbeitsteilung«: »Österreich besorgt den näheren Osten und den Süden. Deutschland, nach dieser Richtung hin befreit, waltet der Welt.« (7)
In Hinsicht auf Karl Mays Reiseroman »Und Friede auf Erden« sind zwei Äußerungen Robert Müllers zur Ostasienpolitik interessant. Anfang 1914 schrieb er in schroffstem Gegensatz zu Karl May: »Ich betrachte es als eine der mir gesetzten Aufgaben, meine Generation auf den mit ihrem Eintritt in die Weltgeschichte beginnenden Entscheidungskampf zwischen Orient und Okzident aufmerksam zu machen. Der friedliche Ausgleich ist unmöglich und wäre ethisch wertlos.« (8) Aus dem Zusammenhang ergibt sich, daß hier unter dem Orient Ost-
asien zu verstehen ist. Aber sechs Jahre später, als er für eine Ostorientierung Deutschlands eintrat, fand er auch für China und die Chinesen freundliche Worte: »Der Chinese, Gentleman des Ostens, ist nichts weniger als jung. Aber er hat geruht, wir sehen ihn neu, sein Regenereszenzvermögen ist gewaltig. Von China ... führt eine gute geistige Linie in das deutsche Herz Europas, auch eine Mitte.« (9)
Nicht nur in dieser Einzelheit, sondern auch in grundlegenden Fragen hat natürlich das große Erlebnis des Krieges die Ansichten Robert Müllers gewandelt. Es hat ihn zu einem gemäßigten Pazifismus bekehrt - Kurt Hiller bezeugt ihm Endziel-Pazifismus (10). Aber nach einem Weg, der die Deutschen wieder zu Einfluß auf die Welt führen könnte, suchte er auch jetzt und meinte, ihn in einer Ostorientierung Deutschlands zu sehen. Nach Ablauf eines halben Jahrhunderts den Fanfarentönen zu lauschen, durch die er damals (1920) die Deutschen zum Versuch bewegen wollte, »eine geistige Führerschicht im bolschewistischen Weltreich, der Geistesadel einer Hemisphäre« (9) zu werden, wäre nicht ohne Reiz. Aber es hat nichts mit unserem Thema zu tun, während eine nur drei Jahre später veröffentlichte, vermutlich nicht minder wirklichkeitsferne Vision von der Entstehung einer stark indianisch geprägten Edelrasse in Amerika geeignet ist, zum Abschluß unserer Untersuchung zu führen.
Es handelt sich um Robert Müllers Essay »Der Americano«, der im Jahr vor seinem Tod erschien. Dort hat er noch einmal Karl May erwähnt (11). Allerdings ganz nebenbei, er nennt seinen Namen nur beispielsweise als den eines Verfassers von Indianergeschichten. Dagegen schwärmt er mit dem ganzen großen Überschwang, dessen er fähig war, vom amerikanischen Lyriker Walt Whitman, zeigt sich von dessen Gesängen berauscht und sieht aus diesen die herrlichste Rasse aufsteigen, auf die je die Sonne schien. Walt Whitman »wird den neuen Menschentyp zeugen ..., den Americano, den amerikanischen Menschen rings über die ganze Erde. Amerika ist eine Eigenschaft.« Dieser Americano werde viel Indianisches in seinem Wesen haben. »Die Indianer vermochten ... durch die eigentümliche Poesie, die ihrem Wesen entströmte ..., bei ihren Bezwingern den Charakter der Amerikanität ... körperlich festzubannen ... Der Vererbungsprozeß dieses dominierenden Wesens geht aber nicht nur körperlich vor sich. Walt
Whitman ist ein Beispiel, wie das Nomadische der alten nordamerikanischen Stämme, wie Urwald und Prärie die Seele und den Geist formen.« Schon sieht Robert Müller auch unter Europäern immer häufiger »uramerikanische« Gesichter auftauchen und hält es für möglich, daß dies auf »eine körperliche Anähnlichung durch phantasiemäßige Imprägnation« zurückzuführen sei. Denn »die Indianer ... bevölkerten die Phantasie unserer Jugendzeit, .. . auch die europäischen Jugenden der letzten Dekaden sind unter diesem physischen Vorbild aufgewachsen.« Nach Robert Müllers Ansicht wurde durch die Indianergeschichten der Boden für Walt Whitman auch in Europa bereitet, so daß dieser mehr als irgendeiner habe »der Dichter der jüngeren europäischen Geschlechter« werden können. »Die Indianergeschichten, Karl May, ... finden ihre Zuspitzung und Veredlung in Walt Whitman.« Wäre hier nicht eine Gelegenheit gewesen, in besonderer Weise an Winnetou zu erinnern? Hatte doch Robert Müller 1912 von ihm geschrieben: »Alles was männlich, fein und kräftig ist, wird in entscheidenden Situationen an dieser Gestalt vorgebracht, die ... ein richtiger Erzähler und ein stark ethisch empfindender Mensch sich ersonnen hat.« (12) Hätte sich nicht leicht auch eine Brücke zu »Winnetou« IV« schlagen lassen, zu jenem Abschlußband, dessen eigenartige Schönheit vor allem auf dem Kontrast zwischen dem Absterben alten und dem Aufsteigen neuen Indianertums voll Hoffnung auf eine große Zukunft beruht? Gewiß. Aber das durfte man wohl damals von Robert Müller nicht mehr erwarten. Er hatte sich von Karl May, über den er einst so Schönes geschrieben, schon zu weit entfernt.
2 Wie schön hat Robert Müller vier Wochen später diese unschönen Worte ins Verklärende gewandelt, als er in seinem »Nachruf auf Karl May« (Jb-KMG 1970, 106 ff.) vom »Knabengreis« sprach, der »ein Knabe war ... in seinem Drange nach Bessersein«!
3 »Der Ruf« - Herausgegeben vom Akademischen Verband für Literatur und Musik in Wien. 3. Heft (Sonderheft »Krieg«)
4 Robert Müller, Was erwartet Österreich von seinem jungen Thronfolger?, München 1914, 86. Das Buch wurde in der kurzen Zeit zwischen der Ermordung des Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand und dem Ausbruch des Krieges geschrieben.
5 Rudolf Steinmetz, Philosophie des Krieges, Leipzig 1907, 190 (zitiert nach Heinrich Lammasch, Völkermord oder Völkerbund?, Den Haag 1920, 34)
1 Die Briefe Robert Müllers an Ludwig von Ficker sind im Besitz des Brenner-Archivs in Innsbruck. Dessen Leiter, Herrn Dr. Walter Methlagl, danke ich bestens dafür, daß ich sie für die vorliegende Arbeit benutzen konnte.
6 Robert Müller, Was erwartet Österreich von seinem jungen Thronfolger?, 22 f.
7 ebd.23 und 25 f.
8 Robert Müller, Karl Kraus oder Dalai Lama Der dunkle Priester, Wien 1914, 32 (Einzige Nummer der Zeitschrift »Torpedo«)
9 Robert Müller, Bolschewik und Gentleman, Berlin 1920, 62
10 Kurt Hiller, Leben gegen die Zeit, Reinbek 1969, 138
11 Robert Müller. Rassen, Städte, Physiognomien. Berlin 1923; die zitierten Stellen sind auf den Seiten 52 - 56. Es ist selbstverständlich möglich, daß außer in diesem Buch auch in mir unbekannten Arbeiten Robert Müllers Karl May erwähnt ist.
Nachbemerkung der Redaktion: Das Bild, das sich Robert Müller von Karl May machte, als er dessen Zusage für den Vortrag empfing, spiegelt sich auch in einem Brief, den May selbst am 1. 3. 1912 an den ihm befreundeten Studenten Oskar Neumann in Wien schrieb und in dem er von der Einladung berichtet: Ein Herr Robert MÜller, der Wien VIII, Florianigasse 75 wohnt, hat den Brief geschrieben, doch ohne mir zu sagen, wer und was er ist. Nun kenne ich leider weder diesen Herrn noch diesen Verband ... Ist es Ihnen vielleicht möglich, mir ... Auskunft zu ertheilen, und zwar möglichst umgehend, damit ich weiß, wie ich mich zu verhalten habe? Ich würde den Vortrag wohl halten und wäre eines guten Erfolges sehr sicher, aber der Verein soll auch in Beziehung auf sein Ansehen, in dem er steht, auf seine Mitgliederzahl und seine öffentliche Bedeutung den Wünschen entsprechen, die ich da zu stellen habe ... Hieraus geht auch hervor, daß May Müllers »Drama«-Text offenbar nicht zur Kenntnis genommen bzw. ihn nicht genügend gewürdigt hatte, um sich den Namen des Verfassers zu merken. Oskar Neumann wußte die gewünschten Auskünfte über den »Akademischen Verband« nicht zu geben, und zu Recht schrieb ihm Klara May später, am 22. 5. 1912: »Es ist doch ein guter Verein, wie kam es, daß Sie ihn nicht kannten?« Neumanns Hilfe erbat sie auch, als sie nach Mays Tod daran ging, die zweite Auflage von »Mein Leben und Streben« vorzubereiten, die auch den Wiener Vortrag »nach dem flüchtigen Entwurf des Dichters und persönlichen Erinnerungen der Zuhörer rekonstruiert« enthalten sollte: »Bitte, gehen Sie doch einmal zu Herrn Schriftsteller Robert Müller, Florianigasse 75, und beraten Sie mit ihm, wie ich die Stenogramme vom Vortrag bekommen kann, ich muß sie s o f o r t haben. Was ich hier habe, ist nur das Gerippe und würde sehr mangelhaft sein. Es liegt mir s e h r viel daran, daß ich so viel wie möglich wieder zusammenbringe. Bitte, lassen Sie sich's
s e h r angelegen sein, und schreiben Sie mir recht bald darüber ...« (13. 4. 1912). Leider aber scheinen doch keine ausführlichen Aufzeichnungen bei Mays Vortrag gemacht worden zu sein, denn schon am 9. 4. benachrichtigte sie Neumann: »Die Sache mit den Stenogrammen ist erledigt. Ich konnte nichts im größeren Umfang haben ...« Zu Robert Müller scheint sie um diese Zeit direkte Verbindung gehalten zu haben, wie aus dem Brief vom 22. 5. an Neumann hervorgeht: »Kennen Sie den neuen Angriff von Hock? Kennen Sie Hock? Ich habe geantwortet. Robert Müller hat es in Händen ...« Ihre Antwort auf Hocks Angriff erschien am 15. 6. 1912 im Wiener »Forum«: auf Hock auch bezieht sich die »Anmerkung der Herausgeberin« auf S. 256/57 der 2. Auflage von »Mein Leben und Streben«, die ihr allerdings eine Klage Oskar Gerlachs eintrug; die betreffenden Seiten mußten daraufhin aus dem Buch entfernt werden.