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ROBERT MÜLLER

Das Drama Karl Mays


Er hatte gefehlt; er tat Buße - Karl May. Mehr kann auch weder das christliche Gemüt noch die bürgerliche Gesellschaft verlangen. Einer ihrer Vertreter - und preußische Gerichtsvorsitzende sind gemeiniglich rigorose Vertreter - hat den Standpunkt, den einzunehmen die Öffentlichkeit jetzt geneigt scheint, mit diesen Worten formuliert: »Ein Verbrechen wären doch solche phantastischen Dinge bei einem Dichter nicht, und ich halte Herrn May für einen Dichter!«

Diese Worte, die einen Richter als Menschen und Dichter ehren, sind bei dem letzten großen Ehrenbeleidigungsprozeß in Berlin, den Karl May gegen seinen Gegner gewann, gefallen. Wer sich das jugendliche in schönen Affekten befangene Gemüt auch noch als Richter bewahrt hat, ist auch ein Stück Dichter geblieben. Es wäre zu wünschen, daß alle Richter ihre Aufnahmsfähigkeit für Gebilde einer schöpferischen Phantasie also wahrten; Justitia würde, wenn sie schon blind ist, hinter ihrer Binde die Träume der Menschenseele nach Größe und Kraft besser verstehen und die daraus emporbrechenden Strahlen der Leidenschaft gütiger zu deuten wissen. Ihr Urteil ist sachlich, wie das des Kaufmannes, sie arbeitet mit der Waage. In der Moral aber, wo es nur Ausnahmen gibt und die Regel erst dazu gefunden werden muß, kann immer alles auch anders sein, alles verhält sich paradox, und Karl May hat dort schon lange gewonnen. Juridisch genommen, hat er drei Verurteilungen und einen letzten späten Sieg zu verzeichnen. Die Meinung eines bürgerlichen Funktionärs rehabilitiert ihn. Die bürgerliche Gesellschaft hat ihre Abrechnung mit ihm gemacht und nun soll alles wieder gut sein; darauf bezieht sich jene andere Mahnung eines Verteidigers: »Es handelt sich doch nur um lange zurückliegende Jugendsünden. Ich bitte, dem alten Mann diese Quälerei zu ersparen!«


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Rachsüchtiger denn das bürgerliche, hat das literarische Scherbengericht Karl May aus den Bezirken der schöpferischen Tätigkeit gewiesen. Aber dieser Akt der Empörung war nicht echt. Denn seltsamerweise gelang es den literarischen Kritikern, May nur mit Hilfe seiner bürgerlichen Inkonvenienzen beruflich kaltzustellen. Die germanischen Rassen haben, gleich der hellenischen, der Solidarität der Anständigkeit stets mit bissiger Konsequenz Opfer bringen müssen. Es fällt dem Einzelnen in ihrer Mitte eben schwerer, brav zu sein, und sein Temperament verpflichtet ihn zur Verfolgung eines jeden andern, weil er sich vor diesem wie vor dem leibhaftigen schlechten Beispiel fürchtet. Die romanische Rasse, in deren Pace die persönliche Expansion eine viel geringere Gefahr bildet, verfährt gegen den Schädling der Persönlichkeit rein mechanisch, sie eliminiert ihn, sie paralysiert ihn durch eine äußerst strikt gehandhabte Konvention, aber sie schenkt ihm ihre Sympathie und richtet ihn keineswegs zugrunde. Noch vor seiner schmutzigsten Geste ist sie an der Pracht des Tuns entzündet. D'Annunzio erfreut sich der bedenklichsten Skandalgeschichten bei Hoch und Nieder; aber man zuckt mit den Achseln, lächelt über ihn, entschuldigt ihn, ecco, ein Künstler, und reserviert seiner Arbeit trotzdem den unbeeinträchtigten Respekt. Die Engländer dagegen wollen lieber etwas weniger Geist als einen Oskar Wilde in ihren Sitten gelten lassen. Sie glauben noch, wie gemeiniglich der teutonische Schlag der Kunstverehrer, an die unbefleckte Empfänglichkeit des Künstlers. Die Amerikaner versagen ihrem Edgar Poe das gute Angedenken ohne Vorbehalt. Und die Deutschen trinken, um nur ihren letzten Kulturlapsus zu nennen, auch heute noch lieber Bier, als daß sie einen Peter Altenberg verstehen lernten. Dieser, o Grauen, säuft Wein und predigt Wasser. Das Paradox ist der Feind des Brauherrn. Das Motiv der Buße geht nicht in ihren literarischen Kopf. Und es bleibt ihnen das Geheimnis der physisch-christlichen Buße Altenbergs ebenso verschlossen wie das der psychisch-christlichen Oskar Wildes. Sie schütteln diesen Kopf. Vor der motivistischen Lebensarbeit eines Karl May verlieren sie ihn. Er rollt und schiebt alle neun Musen um. Das Gepolter auf dieser Kegelbahn füllt unsere Tage, und kein Stündchen ist frei zu Muße und Buße.

Die bürgerlichen Verfehlungen, die May vorgeworfen werden, sind grob und unentschuldbar. Ah? Vor etlichen Jahren trieb sich im Gebiet


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der Wolga, im östlichen Ungarn, in Bessarabien und am schwarzen Meere eine blasse schwindsüchtige Figur umher, ein sonderbar aus Bös und Gut gemengter Mensch im Desperadohabitus, mit blühender Phantasie und einem nach Liebe und Anständigkeit schmachtenden Ritterherzen. Er arbeitete, doch er schuf sich eine Zeitlang den Unterhalt auch durch Taschendieberei. Soviel erhaltende Kraft war in ihm, daß er sich trotz Schwindsucht und saurem Aufstoßen und Träumen von schönern und stärkern Menschen nicht dahingab, sondern das Leben zwang, es bei seiner querulanten Seele auszuhalten. Heute heißt der Mann Gorky, er ist der größte Proletenkünstler und eskamotiert dem Bürgertum die Seele aus dem Leibe. Daß es sich niemals rentiert und nach wie vor ein elendes Leben bleibt, ist sein Schicksal. Dann haben wir da einen norwegischen Bauern, einen halbgebildeten Menschen mit großem Entwicklungstriebe, ein Wunder an planvoller persönlicher Durchdringung mit Feinheit und Kultur. Auf seinem Kreuzzuge nach dem Glück passiert ihm in Amerika, daß er den Hehler bei einem Einbruch macht. Er wird in verschiedene kriminelle Handlungen verwickelt, er fährt einmal in seinem ewigen Mißgeschick einer Person den Kopf ab. Hm? Gott bewahre! Der Mann ist ein Phantast. Aber dann schreibt er Bücher, die Helden lassen an Tiefsinn nichts zu wünschen übrig, es sind ewig reuige Charaktere, die mit ihren Impulsen zu ringen haben, wundersame phantastische Gemische aus Selbstzucht und moral insanity. Ihre Aktion pendelt zwischen dem ethischen Genie und dem Hochstapler hin und her. Und was ists mit den bewußten drei Telegrammen Johann J. Nagels?* Noch Immer hat sich das kleine norwegische Städtchen über Herrn Nagels fragwürdige Heldentaten nicht beruhigt, noch immer verschlingt die deutsche Literatur seine Dialektik leihbibliothekenweise, diese Dialektik, die nur aus einem Intellekt der ewigen Buße kommt, aus einer Geistigkeit, die begnadet ist mit ethischen Ausschweifungen, bei der nicht das bürgerliche Gesetzbuch, sondern das Paradoxon fruchtbar und läuternd wirkt. An diesem Nagel ist nichts echt als das intensive ethische Empfinden, nichts faktisch als das Problem,


* Diese Telegramme, die Geldforderungen ankündigen, erweisen sich später als fingiert. J. J. Nagel, die Hauptfigur in Hamsuns Roman »Mysterien«, hat sie irgendwie lanziert, und es bleibt unaufgehellt, ob seiner Handlung ein krimineller Dolus, Großmannssucht oder nur eine waghalsige, in bürgerliche Sphären übergreifende Phantasie zugrunde liegt.


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und dieses Problem ist und bleibt sein Kardinalerlebnis. Sie überschätzen ihn ins Effektive, er aber ist ein kühner Balanzeur von Vorstellungen. Er redet ihnen seine Romantik aus, und nun drängen sie ihm diese aus Herzensnoblesse erst recht auf, ihm blutet das Herz, daß er ihre frohen Erwartungen von seiner Abenteuerlichkeit enttäuschen muß. Er erfährt an einer bürgerlichen alltäglichen Sache das Problem, sie schleppen ihm den Glorienschein eines Tuns zu, von dem er höchstens den Schimmer erlebt. Die Andern tragen ihm den Heroismus faustdick auf, und er handelt wie ein bürgerliches Wundertier. Es hilft ihm nichts, daß sein guter Geschmack verletzt ist. Ewig geht sein Sinn im Büßergewande, und doch handelt er prunkhafter, als das christliche Gebot in ihm es gestattet, jene tiefe und sachliche Bescheidenheit in den Angelegenheiten dieser Welt, die nur zum Geistigsten kommt.

Dieser Nagel steckt auch in dem Dichter May, den sie einen pathologischen Lügner genannt haben. Es ist kein Zufall, daß sich hinter den heutigen Hamsunverehrern jenes Naturell verbirgt, das einst zu einem fanatischen Mayleser prädestinierte. Zwischen beiden liegt allein die Reife und wissenschaftliche Aufklärung von Jahrzehnten. May, ein begabter Knabe mit bunten ausbrecherischen Trieben, hat sein tiefstes und einziges Erlebnis gehabt wie jener merkwürdig vitale autokratische Nagel, die Rückkehr zur sozialen Ordnung, das Einsehen in die ethische Verpflichtung des Einzellebens. Er hat den Kampf zwischen Selbstzucht und dem Verstand einer gesunden Urteilskraft, der die Satzungen der Gemeinsamkeit vorerst einmal unfaßbar bleiben, zu einem günstigen Ende geführt, das auch den Tatsachenmenschen genügen kann. Er ist, wie jener göttliche Nagel, das bestgelungene Exemplar von einem Theoretiker, einem Realitätsfanatiker in höherer Ebene, aber sie nehmen ihn für einen Praktikus, weil er eine Menge Geschicklichkeiten inne hat. Sein schriftstellerisches Talent, seine Fabulierlust nehmen sie als Berichterstattung. Sie sehen die Pracht seiner Rede und ahnen das Gleichnis nicht dahinter. Jeder andere hätte mit diesem Talente Verhältnisse angezettelt, um Liebesbriefe schreiben zu können oder wäre Journalist geworden. Der halbgebildete May, dem ein ungemünzter Schatz von Erzählungsgütern und belletristisches Rohmaterial in billigen Kolportagemustern zugänglich war, warf sich auf den Erzählerberuf und handhabte ihn mit der ganzen Kunstlosigkeit, die dem Naturgenie eigen


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ist. Die Fingerfertigkeit, die ihm aus dieser Uebung erwuchs, kam ihm später, als er seine eigentliche Karriere als Erzähler von Reiseromanen begann, zustatten. Gewiegte Erzähler wie Jakob Wassermann und der neue Otto Soyka haben ein gutes Wort für jene primitive und reine Art des Erzählens eingelegt.

May wurde durch die Entdeckung seines Vorlebens moralisch und literarisch zugrunde gerichtet. Schädlicher aber als die Irrwege, auf denen sich seine schöpferische Fruchtbarkeit erging, sind jene Arbeiten, die von besonnenen Schriftstellern anonym für die Spalten von Blättern geschrieben werden, die der Urteilslosigkeit der öffentlichen Meinung Vorschub leisten. Viele der Besten, die ihre Kunst heute nicht nährt, verdienen sich ihren eigentlichen Lebensunterhalt auf diesen Schleichwegen. May, der zum Prügelknaben künstlerischer Ungehörigkeiten erhoben ward, hat auch hiefür bluten müssen.

Seine Flegeljahre, so die übrige lyrisch-deutsche Jugend zu freien Rhythmen und kleinen Anfangsbuchstaben benützt, verwendete May zum Erleben. Er hatte darin mehr Erfolg als jene mit dem Substrat ihrer Krämpfe. Er stahl Uhren und Pferde. Kurz, er erlebte. Er war schon damals Weltmann genug, um zu wissen, daß es gefährlicher ist, Pferde auf einer Landstraße zu entführen, längs der der Telegraph spielt oder doch wenigstens die Schnellpost verkehrt, als auf irgend einer entlegenen Weide am Colorado. Dann kam ihm auf ganz naive Weise die Einsicht, daß es ein Leiden in fremden Seelen gab, vor dem er wie der reine Tor dagestanden hatte. Er wandelte sich und kämpfte um den besseren Menschen, der in ihm lag. In diesem Augenblicke hatte er dann sein eigentliches originales Erlebnis; es hat ihm die künstlerische Weihe gegeben. Immer wieder hat er das Bußdrama geschrieben. Die viel belächelte Bekehrung seiner Bösewichter in zwölfter Stunde ist das schönste und gerechtfertigtste Motiv seiner reichen Produktion. Dafür steht dem Drama des Schut, dem Drama der beiden Brüder in Satan und Ischariot und dem Drama der Marah Durimeh das Drama des idealen Menschen, des kumulativen Helden gegenüber. Der Indianer Winnetou, der die Vorzüge einer sinnlichen mit denen einer vernünftigen Kultur verbindet, wäre wert, allen denen, die nach dem neuen Nervenmenschen suchen, als Prototyp vorgeführt zu werden. - Die Schaffung dieses Typs entspricht einer tiefen visionären Gemütskraft, einer Sehnsucht


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nach Reinlichkeit, die an den Bänglichkeiten unserer Mannesschönheit herbe gelitten haben muß. Ein besserer Erzieher aller kommenden Tugenden als Winnetou mag für unsere Knaben kaum gefunden werden. Alles was männlich, fein und kräftig ist, wird in entscheidenden Situationen an dieser Gestalt vorgebracht, die wahrlich kein Psychologe, aber ein richtiger Erzähler und ein stark ethisch empfindender Mensch sich ersonnen hat. Wie die Heilandsgestalt eines neuen Menschen erscheint sie immer wieder in dem Wust von Lächerlichkeit, Absurdität und Eigennutz, zu dem sich die Aktion May'scher Gestalten verknäuelt. Es ist die lichte liebe Stelle in dem Bußdrama, das Einer erst mit seinem schier übernatürlichen Orientierungssinn im Leiden erlebt und später mit Präzisionstreffsicherheit niedergeschrieben hat. Und hier wird die ganze unparadoxe und sehr gewöhnliche Inkonsequenz von Gegnern zuschanden, die Einem sowohl das, was er nicht, als auch das, was er erlebt hat, vorwerfen.

Das vollblütige Komödiantentum, aus dem heraus May sich mit seinen Phantasiegestalten identifiziert, mag gesellschaftlich irreführen; künstlerisch erweckt es Vertrauen und gibt eine gewisse Gewähr, daß die nüchterne wissenschaftliche Behandlung fiktiver Gestalten wie bei Jules Verne hier nicht zu fürchten ist. Die frische und menschliche Befruchtung, die aus jenen Büchern quillt, ist mit dem das Gemüt und die Leidenschaft keineswegs berührenden Stil des romanischen Phantasieplauderers wenig vergleichbar. Die Menschen May'scher Einbildungskraft haben Leben, Probleme, Wirtschaft und Bedingungen. Jules Vernes Automaten sind von vorneherein zur Lösung einer mathematischen Frage, die abenteuerlich umkleidet scheint, bestimmt. Ueber den chemischen magnetischen elektrischen Verwicklungen verschwinden die Personen, und man vermißt jenes durch nichts ersetzbare Fluidum der ethischen und humanen Fragen. Der May'sche Reiseroman steht der angelsächsischen Fancyschriftstellerei näher. Das Abenteuer erscheint pädagogisch zurechtgerückt. Aber der Ueberschuß an Bußfertigkeit und bekennerischem Temperament rechtfertigt, was im Allgemeinen im Phantasieroman künstlerisch unstatthaft zu sein pflegt, die Gentlemanisierung des eigenen Ichs. Dem gültigen Leser fällt dieser Ich-May nicht unangenehm auf. Er empfindet ihn richtig, wie er vom Fabulierer geplant war, als eine zu Winnetou parallele Figur. Er wirkt das Privatleben des


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Autors mit dem des Buchhelden in Eins zusammen, denn er hat noch Phantasie und schenkt jenem die Aufklärung seiner bürgerlichen Bedingungen. Er ist als Rezeptiver noch so stark künstlerisch, daß er es verschmäht reinen Wein eingeschenkt zu bekommen, etwa wie eine liebende Frau über die Verhältnisse des Geliebten hinweggleiten kann. Jeder Künstler braucht zur Arbeit eine bestimmte Autosuggestion, und es tut letzten Endes Keinem weh, wenn Einer sich malerisch photographieren läßt oder Ulrik Brendel'sche Gelüste angesichts der Bälge seiner Großmannstaten äußert.

Ein J. J. Nagel-Naturell, das sich aus Menschenfreundlichkeit ins Heldentum drängen läßt, trägt bösen Lohn davon. Wollen sie einen Messias haben? Nein, sie wollen einen König von Zion. Sonst lieber gleich einen Barnabas her! Jener aber fällt ihnen schließlich doch hinein. Er muß ihnen etwas zum Besten geben. Und so spielt er ihnen denn auf. etwas, das ihm recht liegt, das schon ziemlich abgedroschen für ihn ist, und amüsiert sich über ihre Sentimentalität. Er ist ein herzensguter Kerl, und wenn die lieben Kleinen von ihm verlangen, daß er ein Kamel sein müsse, so sie ferner noch Achtung vor seiner Humanität haben sollen, ist er imstande und krabbelt ihnen auf allen Vieren etwas vor. Aber eines Tages wissen sie, daß sie sich im Grunde ihrer schönen Seele eigentlich einen schweinischen Jux mit sich erlaubt haben, und sie betasten das Futter seiner Röcke, um zu sehen, ob auch seine breiten Schultern am Ende nur ausgestopft seien. Um nicht die allgemeine Aufmerksamkeit zu erregen, hat sich Einer inmitten wilder Seelen in einen schmucken Trapperanzug geworfen, in dem er weniger von seiner Umgebung absticht. Am andern Tag fallen sie über ihn her, weil sie erfahren haben, daß der wahre Trapper höchstens einen alten Zylinder oder eine Radfahrmütze zum Schutz gegen den Sonnenstich übrig hat, etwa wie sie Sam Hawkens trägt oder einer der Brüder Snuffles, diese lebensechten Typen aus dem wilden Westen, die keinem Bret Hart und Mark Twain in ihrem positiven Humor besser gelungen sind. - Das kommt davon, wenn man glaubt, daß die Menschheit Künstlerblut in sich habe und dankbar sei, sobald man nur auf ihre bürgerlichen Phantastereien eingehe!

Die Kunst ist umso größer, je unüberbrückbarer die Distanz zum Objekt gewesen ist. Nur das Problem mußte erlebt sein - und im Falle


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May war es erlebt. Das Drama und der Humor waren erlebt. Sogar einige Situationen waren gewagt worden, bevor es an den Schreibtisch ging. Und das ist viel, wenn der Künstler dann noch Zeit fand, diese Situation zu gestalten. Muß er englisch, französisch sprechen oder polyglott sein, um die Phrasen und sprachlichen Kniffe einer fremden Rasse, deren Aeußerungen er dem Tatsachenbericht einer Zeitung entnehmen kann, zu beherrschen? Muß er, um Afrikanisches zu schildern, jemals etwas anderes als eine gute Photographie gesehen haben, die ihm genug Spielraum läßt, um die Tropen zu erleben, die er, vielleicht aus Erfahrungen atavistischer oder transzendentaler Natur in sich trägt wie ein uraltes Rudiment aus jenen Tagen, da seine Urfahren in Grönland noch im Djungle lebten? Er lernt vielleicht bei Forschern und aus dem Bädeker, ungefähr wie ein Romancier aus der Geschichte lernt. Die Distanz ermöglicht ihm eine bessere Uebersicht. Er vermeidet das Reiselatein des Impressionisten - sind sie denn alle des Teufels, diese inferioren Gemüter, die vor einer Palme stupide werden und uns ganz schlichte klimatische Verhältnisse beschreiben, als ob sie von der Sonne sprächen? Wer an der Hand ihrer exotischen mystischen Eindrücke die Wirklichkeit wiedersieht, schweigt aus Scham, daß er unfähig ist die Stimmung wiederzuerkennen. Das Weltgefühl eines Karl May aber verbäuerlicht mit gutem Bedachte den ganzen Sinnenzauber der Barbarei und trifft über einen Erdteil hin wirklich ins schwärzeste Afrika. Es hat etwas auf sich mit seinem Bärentöter. So rächen sich verkannte Dinge an der Menschheit als Symbole. Der Dichter hält es mit dem Statistiker und die Wahrheit kommt zu Ehren. Er packelt mit einem Reisebüro und sofort geht die Geschichte schief. Bestenfalls tut er eine unnötige Reise, um sich bestätigen zu lassen, was er schon längst vorher niedergeschrieben hat. Denn je mehr er ein Dichter ist, desto bestimmter ist die Art und Weise, wie ihm das Leben mit allen Winden ins gleiche Segel bläst. Sein Mastbaum ist die Idee, und wenn er kentert, trägts ihn irgendwohin, der Mast schlägt aus und setzt Wurzeln an, da kommt jeder Kontinent gerne geschwommen und bietet sich freiwillig an. Der Dichter hat wieder festen Boden unter den Füßen. So ein wahrer Dichter ist May. Die Kontinente parieren ihm, solange er nur auf seinem Bußmotive dahintreibt.

(»Der Brenner«, Heft 17, 1. 2. 1912)


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