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Dieter Sudhoff / Hartmut Vollmer

Einleitung


I

Karl Mays Orientzyklus, der sechsbändig - wegweisend und maßstabsetzend - 1892 seine bei Fehsenfeld/Freiburg i. Br. erschienenen 'Gesammelten Reiseromane' eröffnete, zählt neben der Winnetou-Trilogie zu den beliebtesten und meistgelesenen Werken des Schriftstellers. Die Bandtitel Durch die Wüste (bis 1895 Durch Wüste und Harem), Durchs wilde Kurdistan, Von Bagdad nach Stambul, In den Schluchten des Balkan, Durch das Land der Skipetaren und Der Schut haben eine derartige Popularität gewonnen, daß sie sich gewissermaßen 'verselbständigen' konnten und teilweise zu geflügelten Worten geworden sind.

   Die bis heute ungebrochene Faszination, die diese Bücher ausüben, ihre Popularität und ihre literarische Bedeutung lassen sich, wie die verschiedenen Beiträge des vorliegenden Studienbandes ausführlich zeigen werden, vielfältig begründen. Schauplatz, Zeit/Historie, Geschehen, Figuren, Erzählform sind bei der Beantwortung der Frage nach dem besonderen Reiz des großangelegten Werks gleichermaßen zu berücksichtigen.

   Karl May hat es zweifellos meisterhaft verstanden, bereits mit den ersten Seiten, ja mit den ersten, abenteuerpräludierenden Zeilen seiner Werke den Leser in den Bann zu ziehen. Die Introduktion des Orientzyklus, die Otto Forst-Battaglia gar mit den wuchtigen 'Anfangsakkorden' von Tolstojs Anna Karenina, Manzonis Die Verlobten oder Sienkiewiczs Mit Feuer und Schwert verglichen hat1, ist dafür ein sehr anschauliches Beispiel.

   Die Handlung setzt unvermittelt ein, mit einem Dialog zweier seltsam erscheinender Figuren, einem auf den ersten Blick an Don Quichotte und Sancho Pansa erinnernden Paar, das einsam durch die Wüste zwischen Algerien und Tunesien reitet:

"Und ist es wirklich wahr, Sihdi, daß du ein Giaur bleiben willst, ein Ungläubiger, welcher verächtlicher ist als ein Hund, widerlicher als eine Ratte, die nur Verfaultes frißt?"

"Ja."

"Effendi, ich hasse die Ungläubigen und gönne es ihnen, daß sie nach ihrem Tode in die Dschehenna kommen, wo der Teufel wohnt; aber dich möchte ich retten vor dem ewigen Verderben, welches dich ereilen wird, wenn du dich nicht zum Ikrar bil Lisan, zum heiligen Zeugnisse,



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bekennst. Du bist so gut, so ganz anders als andere Sihdis, denen ich gedient habe, und darum werde ich dich bekehren, du magst wollen oder nicht." (I 1)

Die Abenteuer beginnen, als die beiden Reiter, Kara Ben Nemsi, der Ich-Held, und sein skurriler, treuer Begleiter Hadschi Halef Omar, der kleine großmannssüchtige Diener, dessen Eigenart viel zur Beliebtheit des Orientzyklus beigetragen hat, unerwartet eine Spur im Sand entdecken, die zu einem Ermordeten führt. Das handlungsretardierende Gespräch zuvor, in dem May auf ironische Weise die Spaltung von Schein und Sein im Charakter Halefs entlarvt, läßt den Überraschungsmoment um so stärker wirken. Die Abenteuer werden fortan nicht mehr enden; wie Glieder einer langen, bunten Kette sind sie aneinander geschmiedet und leiten den Leser mit unseren beiden Helden auf eine weite, atemlose Reise von den Ebenen der Sahara bis in die tiefen Schluchten und zerklüfteten Gebirge des Balkan. In einem großen Bogen zeichnet May eine Welt, deren exotischer, orientalisch-balkanischer Zauber überschattet wird vom Verbrechen, Verbrechen vielerlei Art (wie den Untaten der Brüder Hamd und Barud el Amasat, Abrahim-Mamurs, Abu-Seïfs, Manach el Barschas, des Schut und seiner Bande), gegen das die Guten (Kara Ben Nemsi und seine Begleiter) heroenhaft und für die Gerechtigkeit streitend ins Feld ziehen. Dabei wird dem Leser ein breites geographisch-ethnographisches und historisches Panorama der bereisten Stätten dargeboten.

   Es gehört zum Phänomen Karl May - und hierin beweist sich ohne Frage die Erzählkunst des Schriftstellers -, daß ein derart breit angelegtes Opus, dessen eigentliche Handlung sich auf immer wiederkehrende Motive (wie Gefangennahme, Befreiung, Verfolgung, Überfall, Belauschen, Zweikampf, Entlarvung) reduzieren läßt, den Leser doch durch immer neue Variationen des Gleichen zu fesseln vermag. Obwohl der Zyklus weithin aus einer Vielzahl von Episoden besteht, gelingt es May, durch alle Handlungsverwicklungen und Wechsel der Schauplätze oder Figuren einen verknüpfenden Faden zu legen. Das ist um so bemerkenswerter, betrachtet man den Entstehungshintergrund des orientalischen Epos.

   Der sechsbändigen Buchausgabe lagen Texte zugrunde, die May in Fortsetzungen in der katholischen Wochenschrift 'Deutscher Hausschatz' (DH, Pustet Verlag, Regensburg) 1881-88 (7.-14. Jg.) veröffentlicht hatte, wobei er die ursprünglich sieben Er-


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zählungen [Erzählungen]der Zeitschriftenfassung für die Fehsenfeld-Reihe auflöste und neu verteilte. Die unter dem Obertitel "Giölgeda padi[´s]hanün" (Im Schatten des Großherrn) im 7. Jahrgang des 'Hausschatzes' ab Januar 1881 erschienenen sechs Erzählungskapitel gingen in Band 1 (Durch Wüste und Harem) und den ersten Teil von Band 2 (Durchs wilde Kurdistan) der Buchausgabe ein: Abu el Nassr (DH VII, Nr. 16-19 = I, Kap. 1-2), Die Tschikarma (DH VII, Nr. 21-23 = I, Kap. 3-4), Abu-Seïf (DH VII, Nr. 24-30 = I, Kap. 5-7), Eine Wüstenschlacht (DH VII, Nr. 31-36 = I, Kap. 8-10), Der Merd-es-Scheïtan (DH VII, Nr. 37-45 = I, Kap. 11-12; II, Kap. 1), Der Ruh 'i Kulyan (DH VII, Nr. 46-52 = II, Kap. 2-4). Überdies griff May bei der Senitza-Episode (DH: Die Tschikarma; I, Kap. 3-4) - sie wesentlich bearbeitend - auf eine frühere Novelle zurück, die er unter dem Pseudonym 'M. Gisela' und dem Titel Leïlet 1876 in der Zeitschrift 'Feierstunden am häuslichen Heerde' veröffentlicht hatte und die ein Jahr später unter dem Titel Die Rose von Kahira in Peter Roseggers Zeitschrift 'Heimgarten' nachgedruckt worden war.

   Den zweiten Teil des Kurdistan-Bandes bildeten die Reise-Abenteuer in Kurdistan (DH VIII, 1881/82, Nr. 3-9, 16-26). Band 3, Von Bagdad nach Stambul, beinhaltet vier Erzählungen, die im 8., 9. und 11. Jahrgang des 'Hausschatzes' (1882-84) erstveröffentlicht waren: Die Todes-Karavane (DH VIII, 1882, Nr. 26-36; DH IX, 1882, Nr. 1-8 = III, Kap. 1-5), In Damaskus und Baalbeck (DH IX, 1882/83, Nr. 10-16 = III, Kap. 6), Stambul (DH IX, 1883, Nr. 21-25 = III, Kap. 7) und Der letzte Ritt (Anfangsteil) (DH XI, 1884, Nr. 6-11 = III, Kap. 8). Der restliche Teil von Der letzte Ritt (DH XI, 1885, Nr. 49-52; DH XII, 1885/86, Nr. 1-17, 19-22, 52) bildete Band 4, In den Schluchten des Balkan (IV, Kap. 1-6), der vom Anfang der umfangreichen 'Hausschatz'-Erzählung Durch das Land der Skipetaren (DH XIV, 1888, H. 4-6) komplettiert wurde (IV, Kap. 7-8). Der Rest dieser 'Hausschatz'-Geschichte erstreckte sich über die Bände 5 und 6, Durch das Land der Skipetaren (DH XIV, 1888, H. 6-12) und Der Schut (DH XIV, 1888, H. 12-17). Eigens für die Buchausgabe fügte May dem Schut-Band einen Anhang hinzu, der den Tod des edlen Rappen Kara Ben Nemsis, Rih, schildert.

   Insgesamt sind die Textvarianten zwischen Zeitschriftenerstdruck und Buchfassung trotz einzelner beachtenswerter Detailveränderungen (dies betrifft vor allem Streichungen Mays) nicht sehr gewichtig. Sie beziehen sich besonders auf sprachliche Moderni-


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sierungen [Modernisierungen], stilistische Korrekturen, auf die Reduzierung fremdsprachlicher Ausdrücke sowie die Streichung direkter Anreden an die 'Hausschatz'-Leser.2

   Obgleich die Eigenständigkeit einzelner Abenteuerepisoden des Orientzyklus (äußerlich) schon in den Erzählungstiteln bzw. -kapiteln der Zeitschriftendrucke erkennbar ist, hat Karl May die Texte doch bereits in der Erstfassung geschickt zu verbinden gewußt. So verwendet er etwa den Obertitel "Giölgeda padi[´s]hanün" noch einmal bei der Erzählung Der letzte Ritt und greift den "Giölgeda"-Untertitel Reise-Erinnerungen aus dem Türkenreiche für die Geschichte Durch das Land der Skipetaren auf. Aber auch um eine inhaltliche Verflechtung der Episoden bemühte sich May. Während die ersten beiden Bände der Buchfassung nahtlos ineinanderübergehen, nimmt May im dritten Band Handlungsstränge des ersten Buches wieder auf (die Geschichten um Abrahim-Mamur, Galingré, Omar Ben Sadek, Senitza), verknüpft sie durch Zusammenführung der handlungstragenden Figuren der zurückliegenden Episoden und leitet damit zur großen Geschichte um den verbrecherischen Schut und seine Bande über, die den zweiten, in den Balkanländern spielenden Teil des Zyklus bestimmt.

   Daß sich das Ganze kompositorisch so zusammenfügt, erstaunt nicht nur wegen der verschiedenen Erzählungsteile, die dem großen Orientwerk zugrundeliegen. Ein Blick auf die Erscheinungsdaten der Zeitschriftentexte, die May direkt für den Abdruck schrieb, zeigt einige bemerkenswerte Unterbrechungen, über deren Ursache die Biographie des Schriftstellers Auskunft gibt. Auffällig sind etwa die unregelmäßigen Publikationsdaten derjenigen 'Hausschatz'-Texte, die später in die Bände 3 und 4 der Hexalogie eingingen, sowie der längere Zeitraum zwischen dem Erscheinen der diskontinuierlich veröffentlichten Erzählung Der letzte Ritt (1884-86) und der wiederum regelmäßig abgedruckten umfangreichen Erzählung Durch das Land der Skipetaren (1888). Wie die Kommentare und Antworten der 'Hausschatz'-Redaktion auf Leseranfragen bezeugen, brachten Mays Verzögerungen und Säumnisse bei der Manuskriptabgabe die Zeitschrift in nicht unerhebliche Schwierigkeiten und Verlegenheiten: "Die Fortsetzung der Reise-Erzählungen von Karl May wird in dem bald beginnenden neuen Jahrgang unserer Zeitschrift Statt finden. Der Herr Verfasser ist wieder auf Reisen", hieß es beispielsweise im September 1883, nachdem im Februar/März die letzte Erzählung


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Stambul abgedruckt worden war3; einen Monat später: "Die Fortsetzung der Reiseabenteuer von Karl May kann vielleicht schon in einer der nächsten Nummern Statt finden"; "Dr. K. May ist wieder auf der Rückkehr nach Deutschland begriffen. Die Fortsetzung der Reiseabenteuer wird nun nicht mehr lange auf sich warten lassen", so der verhaltene Optimismus der Redaktion im Dezember 1883; im März 1884: "Herr Dr. Karl May ist am 19. Februar 'nach langer Irrfahrt', wie er uns schreibt, wieder in der Heimat angekommen und will nun seine Reise-Erzählungen alsbald fortsetzen"; im Juni 1884: "Herr Dr. Karl May hat uns sofort nach seiner Rückkehr nach Deutschland die schleunige Fortsetzung seiner Reiseerzählungen zugesichert, aber bis jetzt ist uns das Manuscript noch nicht zugegangen; sobald uns dieses vorliegt, werden wir mit dessen Veröffentlichung ohne Verzug beginnen."

   Die verzweifelt herbeigesehnte Fortsetzung konnte indessen erst im nächsten Jahrgang erscheinen: im November 1884 beglückte May Redaktion und Leser mit dem Beginn der Erzählung Der letzte Ritt, die nach sechs Nummern im Dezember jedoch wieder abbrach und erst im September 1885 fortgesetzt wurde. Und erneut verursachte die Unterbrechung bei der 'Hausschatz'-Redaktion arge Nöte: "Leider ist ein von Dr. Karl May an uns rechtzeitig abgesandtes Manuscript-Packet bis jetzt noch nicht hier eingetroffen und wahrscheinlich auf der Post verloren gegangen" (Dezember 1884); "Daß leider die Fortsetzung des 'letzten Rittes' von Karl May so lange auf sich warten läßt, ist nicht unsere Schuld. Wir sind zur Zeit ganz ohne Nachricht von dem Verfasser" (April 1885); "Leider ist das von Dr. Karl May uns fest versprochene Manuscript des Schlusses von Giölgeda (der letzte Ritt) noch nicht in unseren Händen. Wir begreifen die Ungeduld der Leser, und es ist uns diese Verzögerung überaus peinlich" (Juli 1885). Als die Fortsetzung des Letzten Ritts zwischen Februar und September 1886 erneut ausblieb, wurden die Worte der Redaktion deutlicher (Juni 1886):

Es ist uns höchst peinlich, daß abermals - und ganz gegen unsere Erwartung - eine Unterbrechung in der Reise-Erzählung "Der letzte Ritt" eingetreten ist. Leider haben wir bis jetzt das fehlende Manuscript noch nicht erhalten und entbehren zur Zeit jede Nachricht von dem Verfasser. In Zukunft werden wir freilich niemals mehr mit der Veröffentlichung irgend eines Werkes beginnen, ohne daß uns das Manuscript vollständig vorliegt.


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Die abschließende 'Reise-Erinnerung' des Orientzyklus, Durch das Land der Skipetaren, erschien dann erst im übernächsten Jahrgang, in kontinuierlicher Folge vom Januar bis September 1888.

   Vergegenwärtigt man sich Mays Vita in der ersten Hälfte und Mitte der 1880er Jahre, so stellt sich die "lange Irrfahrt" des Schriftstellers, mit der die 'Hausschatz'-Redaktion seine Säumigkeit bei den Lesern zu entschuldigen suchte, als sehr doppeldeutig dar.

   Als Karl May mit seiner zwei Jahre zuvor geheirateten jungen Frau Emma im Spätsommer 1882 zur Erholung nach Dresden reiste - pausenlos hatte er in der Mansardenwohnung am Hohensteiner Altmarkt an den Fortsetzungen des Orientzyklus geschrieben -, kam es zur schicksalhaften Wiederbegegnung (nach dem Bruch der Zusammenarbeit 1877) mit dem Kolportageverleger Heinrich Gotthold Münchmeyer. Rückblickend schrieb May darüber in seiner Selbstbiographie Mein Leben und Streben (1910):

Als ich aus seinem Geschäft getreten war, hatte er keinen passenden Redakteur für die von mir gegründeten Blätter gefunden. Er selbst verstand nicht, zu redigieren. Sie verloren sehr schnell ihren Wert; die Abonnenten fielen ab; sie gingen ein. Dabei blieb es aber nicht. Es wollte überhaupt nichts mehr gelingen. Verlust folgte auf Verlust, und jetzt stand es so, daß er die Hamletfrage Sein oder Nichtsein nicht länger von sich weisen konnte. Er habe soeben, in diesem Augenblick, darüber nachgedacht, durch wen oder was er Rettung finden könne, doch vergeblich. Da seien wir beide gekommen, grad wie vom Himmel geschickt. Und nun wisse er, daß er gerettet werde, nämlich durch mich, durch einen Roman von mir, durch meine schöne, junge, liebe, gute Herzensfrau, die mir keine Ruhe lassen werde, bis dieser Roman in seinen Händen sei.4

Und May ließ sich tatsächlich zur 'Rettungstat' verleiten, indem er Münchmeyer von 1882 bis 1887 fünf gewaltige, in 513 Lieferungsheften mit 12.390 Seiten erschienene Kolportageromane schrieb, die dem Schriftsteller am Ende zum Verhängnis werden sollten, eine Prozeßlawine auslösten, die über sein letztes Lebensjahrzehnt stürzte. Was Karl May in der Retrospektive als "moralische Verpflichtung" gegenüber Münchmeyer ansah5, auch als Folge des Drängens seiner gefallsüchtigen Frau, war - wie Hans Wollschläger zu Recht betont - wohl ebenso eine Entscheidung, die von der "Aussicht auf wesentliche Aufbesserung der finanziellen Lage" des Ehepaars bestimmt wurde.6 Dies wird evident, bedenkt man, daß May für die 'Hausschatz'-Beiträge seines Orientzyklus, die er vom Januar 1881 bis Juni 1882 veröffentlichte


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(immerhin rund 1500 spätere Buchseiten), bei einem Honorar von etwa einer Mark pro Manuskriptseite "ganze 1840,- Mark" verdiente7, und die Ansprüche seiner lebenslustigen Frau wie auch seiner eigenen Träume vom zukünftigen Glück dürften nicht unbedingt bescheiden gewesen sein.

   May begann mit der Niederschrift des ersten Münchmeyer-Romans Waldröschen oder Die Rächerjagd rund um die Erde. Großer Enthüllungsroman über die Geheimnisse der menschlichen Gesellschaft von Capitain Ramon Diaz de la Escosura im Herbst 1882, vermutlich nach Vollendung der 'Hausschatz'-Erzählungen Die Todes-Karavane, In Damaskus und Baalbeck und Stambul.8 Die Erzählung Der letzte Ritt dürfte er parallel zu seinem zweiten Münchmeyer-Roman Die Liebe des Ulanen (entst. 1883-84) und/ oder zwischen dem Abschluß dieses Romans und dem dritten, Der verlorne Sohn (entst. 1883-85), und vierten, Deutsche Herzen, deutsche Helden (entst. 1885-86), möglicherweise auch neben diesen Kolportagewerken geschrieben haben. Die Geschichte Durch das Land der Skipetaren entstand nach dem letzten Münchmeyer-Roman Der Weg zum Glück (entst. 1886-87).

   Die unglaubliche literarische Produktivität Mays in dieser Zeit verdeutlicht sich vollends durch die Tatsache, daß er für die 'Illustrierte Knaben-Zeitung' 'Der Gute Kamerad' 1886-88 die beiden Jugenderzählungen Der Sohn des Bärenjägers und Der Geist der Llano estakata sowie weitere kürzere Beiträge für Zeitschriften schrieb. - Zudem wurde er durch den Tod seiner Mutter am 15.4.1885 von einem schweren Schicksalsschlag getroffen, mit dem sein ganzes unterdrücktes Liebestrauma aufbrach.9 Vor diesem Hintergrund werden die Veröffentlichungsunterbrechungen des Orientzyklus im 'Deutschen Hausschatz' leicht verständlich.10

   Der Frage, inwieweit eine gegenseitige Beeinflussung in den Arbeiten am Orientzyklus und an den Kolportageromanen feststellbar ist, kann an dieser Stelle nicht detailliert nachgegangen werden. Interessant ist jedenfalls, daß der Orient Schauplatz einer Episode in Die Liebe des Ulanen ist und noch erzählbestimmender in Deutsche Herzen, deutsche Helden erscheint, dessen zweites, unter dem Titel Die Königin der Wüste bekannt gewordenes Kapitel eine derartige Nähe zum Orientzyklus offenbart, daß es in der Radebeuler bzw. Bamberger Ausgabe als eigenständiger Band 60 (Allah il Allah) der 'Gesammelten Werke' veröffentlicht und zur Ich-Erzählung mit den beliebten Protagonisten Kara Ben


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Nemsi und Hadschi Halef Omar bearbeitet werden konnte. Wenngleich eine genaue Untersuchung noch weitere Parallelen aufzeigen würde, muß hervorgehoben werden, daß es May fraglos gelungen ist, in qualitativ unterschiedlichen Literaturgenres zu gleicher Zeit musterhafte Werke zu schaffen.

   Beim zeitgenössischen Publikum sorgten Mays orientalische 'Hausschatz'-Erzählungen geradezu für Furore. Wie die Resonanz der Leser beweist, die sich in den redaktionellen Mitteilungen des 'Hausschatzes' dokumentierte, war der Erfolg so enorm, daß er sich durchaus mit dem 'Starkult' heutiger Zeit vergleichen ließe. So findet man im Zusammenhang der abgedruckten Orientgeschichten beispielsweise immer wieder Leserwünsche nach privat-persönlichen Informationen und nach Fotos des beliebten und bewunderten 'promovierten' Reiseschriftsteller-Helden: "Einstweilen müssen wir uns auf die Mittheilung beschränken", so eine Notiz im 'Hausschatz' vom Oktober 1881, "daß Herr Dr. K... M... etwa 45 Jahre alt ist und leider gegenwärtig krank darnieder liegt in Folge einer wieder aufgebrochenen alten Wunde. Auf seinen weiten und gefahrvollen Reisen in allen Theilen der Erde hat er sich selbstverständlich manche Wunde geholt"; "Ihre warmen Wünsche in Bezug auf Veröffentlichung des Bildnisses Ihres Lieblings werden wahrscheinlich befriedigt werden. Jener Dame, welche sich nach dem Alter des interessanten 'Weltläufers' erkundigte, können wir verrathen, daß er, wenn wir nicht irren, in der Mitte der vierziger Jahre steht" (November 1881).

   Schon früh trieb die enthusiastische Bewunderung seiner wachsenden Lesergemeinde den Schriftsteller, der sich lange Jahre vergeblich nach Liebe gesehnt hatte, geächtet wurde in den Zeiten seiner kriminellen Delikte, in die Rolle einer zur Legende werdenden Identifizierung seines eigenen Ich mit dem heldenhaften Ich-Erzähler der abenteuerlichen 'Reise-Erinnerungen'. Unmißverständlich gab der 'Hausschatz' im März 1881 kund:

Der Verfasser der Reise-Abenteuer hat alle Länder, welche der Schauplatz seiner Erzählungen sind, selbst bereist. Unlängst ist er von einem Ausflug nach Rußland, Bulgarien, Konstantinopel etc. zurückgekehrt, und zwar mit einem Messerstich als Andenken. Denn er pflegt nicht, mit dem rothen Bädeker in der Hand im Eisenbahn-Coupé zu reisen, sondern er sucht die noch wenig ausgetretenen Pfade auf.

Gleichzeitig war die christliche Zeitschrift - ganz im Sinne des Autors - darum bemüht, zu betonen, daß die spannenden Reiseabenteuer von einem didaktischen Anliegen bewegt wurden:


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Die Reise-Abenteuer May's beruhen allerdings auf wirklichen Erlebnissen, welche ja wohl romantisch eingekleidet und poetisch ausgestaltet sein können, ohne daß der Kern: - treue Schilderung von Land und Leuten, sittlichen, religiösen und socialen Zuständen - unecht ist. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, dienen diese Abenteuer nicht bloß zur genußreichen Unterhaltung, sondern auch zur vielfachen Belehrung in angenehmster Form der Darstellung. (DH, März 1882)

Neben der literarischen "Irrfahrt" mit seinen uferlosen Münchmeyer-Romanen begab sich May immer weiter auf eine psychische "Irrfahrt", auf der er sich immer tiefer zwischen Phantasie und Wirklichkeit verstrickte. Der Reiseschriftsteller konnte das strahlende Bild letztlich nicht mehr verwischen und zerbrechen, das seine Leser in dem Verfasser der 'Reise-Erinnerungen' sahen und das sie sich wünschten: das ersehnte und erträumte Ideal eines omnipotenten Ich hatte unwiderruflich zur Realität zu werden.11

   Der literarische Erfolg wuchs noch gewaltiger an - und damit verstärkte sich auch der Anspruch der Identität von Autor und Ich-Fiktion -, als ab 1892 im Freiburger Verlag von Friedrich Ernst Fehsenfeld Mays Werke gesammelt in Buchform erschienen. Dem Orientzyklus kam dabei eine entscheidende Bedeutung zu, nicht nur deshalb, weil mit ihm als 'Prunkstück' dieses Literaturgenres die Reihe der 'Gesammelten Reiseromane' begann; er hatte in Fehsenfeld offenbar überhaupt erst den Gedanken entstehen lassen, dieses aufsehenerregende Buchprojekt, das den Weltruhm Karl Mays begründen sollte, ins Leben zu rufen: "Ich begann zu lesen und kam nicht mehr davon los", schilderte der Verleger 1933 kurz vor seinem Tod die fesselnde Entdeckung "Giölgeda padi[´s]hanüns" im 'Hausschatz'; "Familie, Geschäft, Essen und Trinken, alles vergaß ich! [...] Diese Erzählungen aus ihrer Zerstückelung in den Zeitschriften herauszuholen, sie in Bücher zu fassen und so der deutschen Jugend und dem ganzen Volk zu schenken, das war ein Gedanke, der mich nicht wieder losließ."12

   Wie genau May die orientalischen 'Hausschatz'-Texte für die Buchausgabe umfangmäßig kalkulierte, belegt sein Brief an Fehsenfeld vom 3.12.1891:

Bitte, rechnen Sie den ersten Band, wenn es möglich ist, zu 600 Seiten, also das Heft zu 60. Heute sende ich Ihnen die ersten vier Kapitel, welche über 160 Seiten also fast 3 Hefte ergeben. Zwei meiner Spalten ergeben ca. 5 Ihrer Seiten. Der ganze Roman wird, von event. Änderungen, welche ich vornehmen werde, jetzt abgesehen, ca. 3.800 Seiten ergeben. Jedenfalls streiche ich einige Längen; rechnen wir also 6 Bände zu 600 Seiten.13


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Allerdings wurde der Textumfang bei den Bänden 5 und 6 im Vergleich zu den vorhergehenden merklich geringer, so daß May sich genötigt sah, für den Schut-Band noch den etwa hundertseitigen Anhang zu schreiben, der mit dem Tod Rihs den Orientabenteuern ein sehr elegisches Ende setzte.

   Karl May hat erst 1899 den Orient selbst betreten, am Beginn einer sechzehnmonatigen Reise, die vieles in seinem Leben und literarischen Schaffen grundlegend veränderte. Am jetzt wirklich gesehenen und erlebten orientalischen Schauplatz zerbrach die für Jahre beglückende Scheinidentität von Imagination und Realität. Dieser Zusammenbruch bedeutete zugleich eine psychisch-geistige Neuorientierung, einen literarischen Neubeginn, der ein höchst artifizielles, symbolisch-allegorisches Werk entstehen ließ. May hat im Alter rückblickend versucht, den tiefen Gehalt seines neuen Schreibens auch für sein früheres Oeuvre geltend zu machen. Und er bezog sich hierbei explizit auf den Orientzyklus:

Meine "Reiseerzählungen" haben [...] bei den Arabern von der Wüste bis zum Dschebel Marah Durimeh und bei den Indianern von dem Urwald und der Prairie bis zum Mount Winnetou aufzusteigen. Auf diesem Wege soll der Leser vom niedrigen Anima-Menschen bis zur Erkenntnis des Edelmenschentums gelangen. Zugleich soll er erfahren, wie die Anima sich auf diesem Wege in Seele und Geist verwandelt. Darum beginnen diese Erzählungen mit dem ersten Bande in der "Wüste". In der Wüste d.i. in dem Nichts, in der völligen Unwissenheit über Alles, was die Anima, die Seele und den Geist betrifft.14

So handele es sich bei den geschilderten Erlebnissen um "ein echt deutsches, also einheimisches, psychologisches Rätsel", das May "in ein fremdes orientalisches Gewand kleide, um es interessanter machen und anschaulicher lösen zu können".15 Obwohl dies unbestreitbar eine nachträgliche Verklärung seines früheren Schaffens war, läßt sich die späte Behauptung zumindest literaturpsychologisch durchaus verifizieren, besonders im Hinblick auf Mays Interpretation von Hadschi Halef Omar als Verschlüsselung seiner "eigenen Anima", seiner eigenen menschlichen Fehler.16

   Der Orient, Schauplatz der Bibel und der Märchen aus Tausendundeiner Nacht, bot sich für das gleichnishafte Schreiben geradezu an, und so trat der antipodische amerikanische Schauplatz im Spätwerk zwangsläufig zurück. Die den Lesern seit dem Orientzyklus vertrauten Kara Ben Nemsi, Hadschi Halef Omar und Marah Durimeh erkor May zu zentralen Figuren seines Alterswerks, die seine philosophisch-religiösen Ideale und Ideen in 'menschheitsgeschichtlichen Fabeln' allegorisierten.


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   In den letzten Lebensjahren plante Karl May eine erneute Reise in den Orient, um dort Material für eine zehnbändige Serie Fern im Osten. Erzählungen aus Steppe und Wüste zu sammeln, deren fiktiver Autor 'Hadschi Kara Ben Halef, der Scheik der Haddedihn' sein sollte und deren Hauptthema das wohl noch lange Zeit unlösbare Problem der 'Versöhnung von Orient und Okzident' gewesen wäre.17 Dieser Orientzyklus hätte sich gewiß ganz anders gezeigt als das Epos vor der Jahrhundertwende, das den Ruhm Karl Mays als Reiseschriftsteller wesentlich mitbegründen half.

II

Die außerordentliche Popularität des Orientzyklus beim Leser, die selbst im Oeuvre Karl Mays nur noch vom Winnetou-Mythos übertroffen wird, hat in der wissenschaftlichen Rezeption erstaunlicherweise bisher keine wirkliche Äquivalenz erfahren: Kursorisch und in Einzelaspekten immer wieder sporadisch behandelt, ist ein analytisches Gesamtbild der sechs Orientbände, bei dem die Perspektive nicht aus eigener Betroffenheit von vornherein ideologisch verengt ist, noch heute ein beklagenswertes Desiderat, und natürlich kann auch unser Sammelband jahrzehntelang Versäumtes bestenfalls in Ansätzen kompensieren. Der gewiß abschreckende Umfang des Zyklus von 3.765 Fehsenfeld-Seiten vermag allein die Zurückhaltung der seriösen Forscher kaum zu erklären, gehört der ähnlich monumentale Waldröschen-Roman doch inzwischen gerade seines Paroxysmus wegen zu den am häufigsten untersuchten Werken Karl Mays. Ursächlich für das auffallende Defizit scheint vielmehr ausgerechnet die Originalität der 'Reise-Erinnerungen aus dem Türkenreiche' zu sein, die doch zu einem guten Teil ihre literarische Qualität und ihre bleibende Wirkungskraft ausmacht; zumindest die kategorial denkende Germanistik sieht sich offenbar mit dem gleichen Problem konfrontiert wie die Filmindustrie, die bislang auch kein rechtes Bild von Mays Orientphantasien zu entwerfen wußte, weil ihr die cineastischen Klischees fehlten, wie sie der amerikanische Western den entsprechend unbedarften Winnetou-Adaptionen überreich offerierte.

   Während sich Mays Indianererzählungen relativ mühelos im vertrauten Kontext einer ungebrochenen, von Cooper und Sealsfield hergeleiteten Tradition des exotisch-abenteuerlichen Ameri-


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karomans [Amerikaromans] betrachten und werten lassen, fällt die literarhistorische Einordnung des Orientzyklus weit schwerer und ist auf eher willkürliche Analogiebildungen angewiesen. Wohl gibt es auch hier einige bedeutende Vorläufer, wie etwa der Aufsatz von Rudolf Beissel dokumentiert, doch entstammen sie selten der Schemaliteratur, der viele Germanisten May gerne zurechnen mochten; vor allem aber fungierten mit wenigen Ausnahmen wie Wilhelm Hauff nicht sie als initiale Anregungen für May, sondern zeitgenössische Presseberichte und orientalistische Fachwerke. Diese nonfiktionale Quellenorientierung dürfte mitverantwortlich für das wissenschaftliche Desinteresse sein, denn sie trug neben dem ohnehin zivilisationsnahen Schauplatz zur Relativierung der Exotik bei und damit zu einem entmythologisierten Realismus, der manchem May-Forscher nicht ins Konzept vom allein eskapistischen Schreiben passen will. Bedauerlich ist diese Rezeptionsmisere allemal, denn gerade Mays osmanische Abenteuer haben angesichts noch der heutigen nationalen, religiösen und sozialen Konflikte im Nahen Osten trotz aller politischen Wandlungen weitaus weniger an Relevanz und Aktualität verloren als seine romantischen Ikonographien vom 'roten Gentleman', die schon zur Entstehungszeit als anachronistische Utopien wirkten.

   Anders als seine Exegeten hat May selbst die orientalische Hemisphäre zeitlebens gegenüber dem amerikanischen Fluchtraum favorisiert: Der in jeder Beziehung realitätsnähere und damit menschlichere Kara Ben Nemsi hat nicht nur mehr Auftritte als der martialisch idolisierte Old Shatterhand mit seinem makellosen Blutsbruder Winnetou, in der autobiographischen Projektionsfigur des fehlerhaften Hadschi Halef Omar steht ihm auch die vielleicht sympathischste Gestalt des ganzes [ganzes; IR] Werkes zur Seite, und es ist gewiß kein Zufall, daß Mays erste Weltreise 1899/1900 ihn nicht in die 'dark and bloody grounds' führte, sondern ihn zur gescheiterten Imitation gerade seiner orientalischen Gedankenspiele trieb, denen er schon das häusliche Interieur nachgestaltet hatte; im Alterswerk schließlich, provoziert durch die morgenländische Desillusion, werden östliche Phantasmagorien zum beinahe einzigen Assoziationsfeld und reichen gar noch in den topographisch singulären Amerikaroman Winnetou IV hinein. Nie vergaß Karl May, daß seine Entwicklung zum eigenständigen Autor icherzählter 'Reiseerinnerungen' 'im Schatten des Großherrn' begann. Daß er auch seinen späteren Aufstieg zum wilhelminischen Erfolgsautor den ersten sechs Fehsenfeld-


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Bänden zu verdanken hatte, ist gegen solche literarische Innovation nur eine Marginalie.

   Der vorliegende Studienband über den Orientzyklus vereint wie sein Vorläufer, der im Frankfurter Suhrkamp Verlag erschienene Materialienband Karl Mays 'Winnetou'. Studien zu einem Mythos (1989), gültig gebliebene Aufsätze der älteren und jüngeren May-Forschung mit innovativen Neubeiträgen. Der dort formulierte, einigermaßen ehrgeizige Anspruch, das Thema möglichst erschöpfend zu behandeln und zugleich Entwicklung und Vielfalt des Diskurses aufzuzeigen, war diesmal angesichts der skizzierten Rezeptionslage und der in keinem Verhältnis zum Gegenstand stehenden Umfangsvorgabe freilich nicht aufrechtzuerhalten. Auf eine Kapitelstruktur, die solche Reduktion nur künstlich kaschieren würde, wurde daher verzichtet; beibehalten bleibt hingegen die thematisch orientierte Gruppierung, die methodische und analytische Korrespondenzen augenfällig machen kann, und auch der Pluralismus der May-Forschung findet sich wieder in exemplarischen Arbeiten gespiegelt: Das Spektrum reicht von literarhistorischen und zeitgeschichtlichen Überblicksdarstellungen über formal-ästhetische, quellenkundliche, ideologiekritische und biographisch-psychologische Fragestellungen bis hin zur Untersuchung einzelner Episoden oder Figuren und zur Bewertung der Filmrezeption.

   Die frühe Karl-May-Forschung, die nach dem Ersten Weltkrieg mit naivem Enthusiasmus begann und zwischen 1918 und 1933 ihr Forum in den 'Jahrbüchern' des Radebeuler Karl-May-Verlags besaß, ist durch zwei Aufsätze Franz Kandolfs und Beiträge von Rudolf Beissel und Amand von Ozoróczy vertreten. Die Problematik dieser frühen Arbeiten ist unverkennbar: Selbstmystifikationen Karl Mays wie seine Frühreisen (ein Lieblingsthema noch des alten Ozoróczy) werden guten Glaubens akzeptiert, das Fehlen von Fakten wird durch Spekulationen ersetzt, May-Zitate erscheinen in der bearbeiteten Radebeuler Fassung und gelegentlich irritieren sogar einige zeitbedingt nationale Zwischentöne. Trotz dieser Mängel und obwohl manche Detailbehauptung von der späteren Forschung widerlegt wurde (worauf im Einzelfall nicht immer hingewiesen werden kann), haben die ausgewählten Aufsätze, die schon seinerzeit aus der Masse meist unbedarft-apologetischer 'Jahrbuch'-Artikel herausragten, in ihren Grundthesen über den historischen Wert hinaus eine inhaltliche Relevanz behalten, die ihren Wiederabdruck zur Verpflichtung macht.


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   Initiator der 'Karl-May-Jahrbücher' und in den ersten drei Jahren (zusammen mit Fritz Barthel) auch ihr Herausgeber, ehe er sich mit dem May-Verleger Euchar Albrecht Schmid überwarf, war der promovierte Jurist und Schriftsteller Rudolf Beissel (1894-1986), der Karl May bei dessen letztem Prozeß in Berlin-Moabit (1911) noch persönlich kennengelernt hatte.18 Abgesehen von seiner Gründerrolle ist es Beissels bleibendes Verdienst, Karl Mays Werk als einer der ersten nicht isoliert betrachtet, sondern in den Kontext des exotischen Abenteuerromans gestellt zu haben. Seine umfassende Lektürekenntnis wirkt noch heute bestechend, und mehr noch als sein Aufsatz über den Indianerroman und seine wichtigsten Vertreter 19 ist es der hier erstmals wieder vorgelegte Abriß des orientalischen Reise- und Abenteuerromans (1920), der fortwirken wird, blieb er doch erstaunlicherweise bis heute ohne Nachfolge. In den biographischen und bibliographischen Details nicht immer zuverlässig, vermittelt Beissel ein komplexes Bild des Genres vom altorientalischen und griechischen Epos bis zu May-Epigonen wie Leopold Gheri und leistet damit auch einen kulturhistorisch wichtigen Beitrag. Erwähnt sei, daß die Reihe der Autoren, die an Mays Erfolg teilhaben wollten und seine Sujets kopierten, sich bis in die Gegenwart fortgesetzt hat: Noch 1977-80 veröffentlichte Edmund Theil (geb. 1913) einen Zyklus Jagd auf die Raubkarawane (6 Bände, Neuauflage 1986), in dem der deutsche Ich-Erzähler Hami seine angeblichen Abenteuer mit seinem arabischen Freund Sahdik, einem Enkel Hadschi Halef Omars, im Ägypten und Libyen von 1932 kolportiert. Im übrigen bestätigt sich die unverwechselbare Eigenart der Orientbände Karl Mays gerade vor der internationalen Traditionskulisse, die Beissel entfaltet, und wenn auch die Liste der zeitgenössischen deutschen Autoren, die sich vom 'bengalischen Feuer' und dem Zauber der 'tausendeins Nächte' inspirieren ließen, mühelos über Retcliffe oder Wachenhusen hinaus erweiterbar wäre, war es doch allein May, der das Genre Ende des 19. Jahrhunderts etablierte und dessen fraglos ungenaues Orientbild die Vorstellungen noch des heutigen Publikums prägt.

   In das allererste 'Karl-May-Jahrbuch' von 1918, das noch während des Weltkriegs entstand, nahm Rudolf Beissel auch den hier ebenfalls erstmals wieder veröffentlichten Aufsatz Karl May und sein Orient des späteren Wiener Burgschauspielers Amand von Ozoróczy (1885-1977) auf.20 Ozoróczy, der mit May seit 1907 in gutem Kontakt stand, hatte sich mit sensiblem Verständnis noch


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zu Lebzeiten des Dichters in verschiedenen Essays besonders für dessen meist verkanntes Spätwerk eingesetzt und dabei in kriegshungriger Zeit den Friedensgedanken propagiert; als Summe seiner pazifistischen Überlegungen veröffentlichte er 1928 seinen großen Aufsatz Karl May und der Friede.21 Auch in seinem Beitrag über Mays Orientbild, den Ozoróczy verwundet im Kriegslazarett schrieb, steht die Friedensfrage trotz einiger zeitbedingter Auslassungen als eigentliches Thema im Mittelpunkt; daneben vermittelt er einen zwar sehr gedrängten, in den wesentlichen Gedankengängen aber doch zutreffenden Überblick über Mays Haltung zum Orient von den ersten Kindheitseindrücken durch die Märchen der Großmutter bis zur Orientreise und ihren literarischen Folgen im Alterswerk. Wissenschaftlich von geringerem Erkenntniswert, beeindrucken Ozoróczys Ausführungen doch vor allem durch ihren poetisch-feuilletonistischen Stil, der sie selbst zum literarischen Kunstwerk erhebt.

   So wie Ozoróczy allzu blauäugig in seinem Orient-Aufsatz den österreichisch-ungarischen Vielvölkerstaat als verwirklichte Utopie des Völkerfriedens feierte, um dann den Zusammenbruch der Monarchie erleben zu müssen, irrte er sich auch eklatant in der Annahme, die 'Orientalische Frage' sei ausgerechnet durch die Bündnispolitik im Weltkrieg "endgültig gelöst". Wie unlösbar diese Frage damals war (und unter gänzlich anderen Bedingungen noch lange bleiben wird), verdeutlicht der kenntnisreiche Neubeitrag Eckehard Kochs zum zeitgeschichtlichen Hintergrund von Mays Orientzyklus, der Mays abenteuerliche Schilderungen in Relation zu den tatsächlichen Verhältnissen im Osmanischen Reich des 19. Jahrhunderts setzt. Bei diesem Vergleich bestätigt sich zwar der schon oft lautgewordene Vorwurf, May habe aus den eurozentrischen Vorurteilen seiner Zeit heraus die 'türkischen Zustände' und den Islam in negativer Verzerrung dargestellt, eingedenk der Informationen, die ihm zur Verfügung standen, überrascht dann aber doch, wie insgesamt richtig und relativ tolerant er Land und Leute zu beschreiben wußte und wie modern manche seiner Gedankengänge noch heute anmuten. Mays Orient- und Islambild ist eben doch weit differenzierter als es voreingenommene Kritiker(innen) wie Hofmann/Vorbichler, Feruzan Gündo[`´g]ar oder Laila Hamaiel wahrhaben wollen.

   Eckehard Koch gehört wie alle anderen Neubeiträger zur Karl-May-Gesellschaft, von der - seit ihrer Gründung im Jahre 1969 - die May-Forschung nicht nur wesentliche Impulse erhielt, son-


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dern [sondern] auch überwiegend getragen wird. Erster Vorsitzender der Gesellschaft ist der Münchener Strafrechtsprofessor Claus Roxin, der zusammen mit dem Bamberger Schriftsteller Hans Wollschläger und dem Hamburger Literaturprofessor Heinz Stolte auch die seit 1970 erscheinenden 'Jahrbücher der Karl-May-Gesellschaft' herausgibt. Roxins Bemerkungen zu Karl Mays Orientroman, die in ihren ersten Kapiteln auf seinen Einführungen in die 'Hausschatz'-Reprints (1977/78) basieren, zugleich aber auch das Grundlagenmaterial für eine hoffentlich noch geschriebene Monographie darstellen, bieten einen exzellent skizzierten Gesamtblick auf den Orientzyklus und haben schon daher unbestreitbaren Wert. Sinnfällig orientiert an der erkennbaren Dreigliederung der sieben 'Hausschatz'-Erzählungen, gibt Roxin "Hinweise zur literarischen Beurteilung, zu den Quellen, zur Wirkungsgeschichte und zur ideologiekritischen Bewertung von Mays Orientbild"; dabei weist er in überzeugender Prägnanz nach, "daß sich nirgends in Mays Abenteuerromanen erzählerische Meisterschaft mit zuverlässiger völkerkundlicher Detailinformation, psychologischem Hintergrund und ethisch-erzieherischer Vertiefung so zwanglos und faszinierend vereint" wie in den ersten sechs Orientbänden. Im völlig neu geschriebenen Schlußkapitel (Zum Orientbild Karl Mays) setzt Roxin sich kritisch-objektiv mit der neuesten Studie zum Orientbild in Karl Mays frühen orientalischen Reiseerzählungen (1989) von Laila Hamaiel auseinander und korrigiert ihre einseitig negative Bewertung. Von den drei bisher vorliegenden Monographien zum Thema (vorangingen: Ingrid Hofmann/Anton Vorbichler, Das Islam-Bild bei Karl May und der islamo-christliche Dialog, 1979; Feruzan Gündo[`´g]ar, Trivialliteratur und Orient: Karl Mays vorderasiatische Reiseromane, 1983)22 ist Hamaiels Arbeit allerdings noch die ausgewogenste, und ihrem orientalischen Blickwinkel verdanken sich hier - im Gegensatz zu Gündo[`´g]ar - trotz aller Schwächen einige interessante Einsichten, die einem Europäer wohl entgangen wären, etwa im Kapitel über die arabische Sprache als Stilmittel Karl Mays.

   Zu den stereotypen Vorurteilen, die Karl May selbst von seinen Anhängern immer wieder entgegengebracht werden, zählt unbedingt die formal-ästhetische Abwertung; dabei dienen fälschlich allzu oft Beispiele der klassischen Hochliteratur als Vergleichsmaßstab, und nach der Kongruenz von Form und Inhalt, von der alle Wertung auszugehen hätte, wird kaum einmal gefragt. Inzwi-


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schen [Inzwischen]hat vor allem Helmut Schmiedts Formanalyse des Romans Winnetou I23 ergeben, daß May bei einer funktional orientierten Betrachtung auch in seinen epischen Erzählmitteln weit entfernt ist vom reduzierten und kumulativen Stil trivialer Massenliteratur, und Hermann Wiegmanns nüchterne Ausführungen über Stil und Erzähltechnik in den Orientbänden Karl Mays, die zum Teil auf seinem Artikel in Gert Uedings Karl-May-Handbuch (1987) beruhen, bestätigen dies nun auch für den Orientzyklus. Freilich ist das Thema selbst für diese Werke noch keineswegs endgültig behandelt und weitere Formanalysen, speziell aus dem universitären Bereich, sind dringlich zu wünschen.

   Den nachgerade artistischen Umgang Mays noch mit scheinbar nebenbei assoziierten Motiven, die dann doch untergründig Bewegung und Ziel der abenteuerlichen Orientreise bestimmen, dokumentiert Martin Lowsky, der Autor des überaus verdienstvollen 'Realien'-Bandes Karl May (1987), in seinem Essay zur Dynamik in Karl Mays Orientzyklus am Beispiel des nur auf den ersten Blick marginalen Jerusalem-Motivs. Überzeugend weist Lowsky nach, daß die vermeintlich touristische Heldenfahrt Kara Ben Nemsis sich als eine "dynamische Folge von Verkettungen" darstellt, die deutlich mit mythologischen Mustern des Alten Testaments korrespondiert.

   Mittelbar mit Dynamik und Struktur der Orientbände befaßt sich auch Walter Olma in seinem Aufsatz über Elemente der Kriminal- und Detektivliteratur bei Karl May. Daß May, der in seinen Anfängen ja auch den dezidierten 'Criminalroman' Auf der See gefangen (1878) schrieb, nicht nur in seinen Kolportageromanen, sondern auch in seinen späteren Reiseerzählungen immer wieder den kriminalliterarischen Strukturprinzipien von Verbrechen, Verfolgung und Aufklärung gehorchte, ist von der Forschung bereits deutlich gemacht worden24; Olma geht diesem Aspekt erstmals konkret in der Orient-Hexalogie nach, in der die Verbrecherjagd über längere Retardationen hinweg als einzige Konstante den zyklischen Charakter wesentlich konstituiert. Zugleich versucht Olma Karl May in die Tradition des Kriminal-und Detektivroman-Genres einzubinden, wobei er gattungstypische und die Grenzen der Gattung überschreitende Charakteristika in den Orientbänden aufzeigt.

   Zu den auffälligen Gemeinsamkeiten zwischen den Detektivgeschichten von Edgar Allan Poe, Conan Doyle oder Agatha Christie und den Reiseerzählungen Karl Mays gehört der Einsatz


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zweitrangiger Gefährten als erzähltechnischer Mittlerfiguren; in den Amerikabänden, wo der ohnehin schweigsame Winnetou auf gleicher Ebene mit Old Shatterhand agiert, wird diese untergeordnete 'Watson-Rolle' von wechselnden, meist komischen Westleuten wie dem Trapper Sam Hawkens übernommen, im Orientzyklus, der mit einem hier signifikanten Religionsdisput beginnt, erfüllt Kara Ben Nemsis arabischer Diener Hadschi Halef Omar vor allen anderen die Aufgabe des zu belehrenden Dialogpartners. Über diese ordinäre Funktion wuchs der kleine Hadschi mit dem großen Namen allerdings bald hinaus, analog seiner Entwicklung vom Diener zum Freund des omnipotenten Helden, und daß dies gerade dadurch geschah, daß May ihn zur Karikatur seines eigenen Real-Ichs ausgestaltete, legt den Schluß nahe, der Schriftsteller hätte auch ohne manche Hypertrophien die Sympathie seiner Leser gewinnen können. Am Ende jedenfalls präsentiert sich Halef neben Winnetou als "die zweite elementare Figur", die Mays Mythologie "der Weltliteratur eingebracht hat", "so echt und singulär", daß sie seit jeher das besondere Interesse der Leser und Forscher weckte.25 Im vorliegenden Band beschäftigen sich denn auch gleich zwei Beiträge mit der Halef-Figur und ihrer Genese: ein früher Aufsatz Franz Kandolfs (1926) und ein aktueller Artikel von Christoph F. Lorenz und Bernhard Kosciuszko für das Große Karl-May-Figuren-Lexikon (1991). Redundanz ist dabei kaum zu vermeiden, doch scheint es den Herausgebern reizvoll, gerade an diesem parametrischen Beispiel - der Halef-Entwicklung - auch den Fortschritt der Karl-May-Forschung zu dokumentieren.

   Daß im skurril-phantastischen Figurenreigen des Orientromans selbst episodischen Randexistenzen wie dem Juden Baruch der Rang des Exemplarischen zukommen kann, beweist Helmut Schmiedt, Vorstandsmitglied der Karl-May-Gesellschaft und Verfasser der folgenreichen Studien zu Leben, Werk und Wirkung eines Erfolgsschriftstellers (1979), in seinen Bemerkungen zu einer Nebenfigur in Karl Mays 'Von Bagdad nach Stambul'. Nicht nur revidiert Schmiedt entscheidend den einäugigen Vorwurf der Intoleranz und speziell des Antisemitismus; am Beispiel der Baruch-Episode, in der ein Klischee nur aufgebaut wird, um dann korrigiert zu werden, macht er auch ein grundlegendes Erzählprinzip Karl Mays überhaupt sichtbar, die "Verkehrung zweier Extreme", die selbst für die Ich-Inszenierungen Kara Ben


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Nemsis oder die paradoxe Konstitution Hadschi Halef Omars bestimmend ist.

   Einen sehr eigenständigen und resultatreichen Zweig der May-Forschung bildet seit den ersten Plagiatsvorwürfen zu Mays Lebzeiten die Quellenforschung, die hier explizit durch zwei Untersuchungen von Franz Kandolf und Ralf Schönbach vertreten ist; weitere Literatur ist in der Bibliographie am Schluß unseres Bandes zu finden. Daß gerade der Kaplan Franz Kandolf (1886-1949), der doch hauptverantwortlich für die leidigen Radebeuler Bearbeitungen ist und gar einen abenteuernden Abschlußband In Mekka (1923) zu Mays Übergangsroman Am Jenseits schrieb, als einziger Autor unserer Sammlung zweimal präsent ist, folgt nicht dem Zufallsprinzip: Nicht nur mit seinen Quellenstudien ist Kandolf der bedeutendste und noch heute bemerkenswerteste Forscher der Radebeuler Frühzeit, und vor dem polemischen Hintergrund dieser Jahre mag man ihm selbst seine Bearbeitungspraxis für den Karl-May-Verlag verzeihen.26 In seinem Aufsatz Kara Ben Nemsi auf den Spuren Layards (1922), der auch grundsätzliche Anmerkungen zur Quellenverarbeitung Mays enthält, beschrieb Kandolf als erster ausführlich den Einfluß des Assyriologen Austen Henry Layard und seines bedeutenden Reiseberichts Niniveh and its remains (dt. 1850) auf die Konzeption von Durch Wüste und Harem und Durchs wilde Kurdistan. Ralf Schönbach ist es nun gelungen, auch die ethnographischen und historischen Quellen der Balkan-Romane Karl Mays auszumachen und damit eine weitere wichtige Forschungslücke zu schließen.

   Mit den drei Balkan-Bänden (In den Schluchten des Balkan, Durch das Land der Skipetaren, Der Schut), die schon durch ihren nurmehr halborientalischen Schauplatz eine Sonderrolle im Gesamtschaffen Karl Mays einnehmen, befaßte sich in den siebziger Jahren auch eine heftige ideologiekritische Kontroverse zwischen Katalin Kova[`´c]evi[´c], einer Literaturdozentin der jugoslawischen Universität Skopje (Makedonien bei Karl May, 1971) und Wesselin Radkov, einem bulgarischen Karl-May-Forscher und Universitätslektor in Sofia (Politisches Engagement und soziale Problematik in den Balkanbänden Karl Mays, 1974). Trotz grundsätzlicher Bedenken, die weniger den polemisch engagierten Ton Radkovs betreffen als die tendenziöse Vorgabe von Frau Kova[`´c]evi´c, wird der Diskurs hier erstmals im Zusammenhang dokumentiert, was schon deshalb notwendig scheint, weil die Attacke gegen May im renommierten 'Lenau-Forum' öffentlich-


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keitswirksam [öffentlichkeitswirksam]war, die notwendige Replik aber in den 'Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft' nur ohnehin Eingeweihte erreichte. Überdies ist es allemal von Interesse, die Stimmen heimischer Autoren zu Mays Reiseschilderungen zu hören, um so mehr wenn sich die Nahperspektive wie bei Radkov mit Einfühlungsvermögen und Sachverstand verbindet, und das abschließende Urteil im Meinungsstreit, ob Karl May ein böswilliger Phantast war oder ein gutwilliger Realist, kann getrost dem Leser überlassen werden.

   Als Nestor der neueren Karl-May-Forschung gilt zu Recht der Literaturwissenschaftler Heinz Stolte, der sich u.a. auch um Friedrich Hebbel und Constantin Brunner verdient machte; mit seiner Dissertation über den Volksschriftsteller Karl May eröffnete Stolte bereits 1936 unter widrigen Zeitumständen den universitären May-Diskurs, heute ist er nach langjähriger Vorstandstätigkeit Ehrenmitglied der Karl-May-Gesellschaft und vermag hier noch immer wichtige neue Impulse zu geben.27 Besonders folgenreich waren Stoltes literaturpsychologische Arbeiten in der Nachfolge Wilhelm Diltheys (Das Erlebnis und die Dichtung, 1905), in denen er Mays abenteuerliche Ich-Phantasien als "Suche nach der verlorenen Menschenwürde" beschrieb, darunter auch der hier wieder vorgelegte Aufsatz Die Reise ins Innere (1975), der an einem konkreten Beispiel aus dem Wüste-Band das grundlegende Verhältnis von Dichtung und Wahrheit in den Reiseerzählungen Karl Mays analysiert. Im übrigen zeichnen sich gerade Stoltes Untersuchungen durch ein breites methodisches und thematisches Spektrum aus.

   Ganz auf die biographische Deutung und die Entschlüsselung bewußter wie unbewußter Spiegelungen realer Erlebnisse im Werk Mays konzentriert sich Walther Ilmer; seine Interpretationen sind im Detail oft sehr hypothetisch und daher nicht unanfechtbar, scheinen in der grundsätzlichen Methode aber durch die tatsächlich extrem ichorientierte Schreibweise Mays legitimiert und versprechen allemal eine anregende Lektüre. Sein neuer Aufsatz über den Anhang, in dem er die herzbewegende Schilderung von Rihs Tod als Ausdruck einer emotionalen Krise zur Entstehungszeit deutet, nimmt in gewisser Weise den Schlußstein einer großangelegten biographisch-psychologischen Exegese vorweg, die seit 1982 sporadisch in den 'Jahrbüchern der Karl-May-Gesellschaft' erscheint.


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   Hansotto Hatzig, stellvertretender Vorsitzender der Karl-May-Gesellschaft und vor allem der verdiente Redakteur ihrer quartalsweise erscheinenden 'Mitteilungen', skizziert schließlich in seinem Beitrag Durch Wüste und Kino die schmale Reihe bemühter Orient-Adaptionen durch Film und Fernsehen, von den verschollenen frühen Stummfilmen (1920) bis zur TV-Serie Kara Ben Nemsi Effendi (1973); eine Filmographie informiert über die Regisseure, Drehbuchautoren, Darsteller u.a. Sind schon die Verfilmungen nur von sekundärer Bedeutung, so ist die Rezeption der Orientbände durch die Freilichtbühnen trotz einiger Versuche28 so unbedeutend, daß sich hier eine Darstellung erübrigt.

   Der vorliegende Sammelband dokumentiert bisherige Forschungsergebnisse und will mit aktuellen Arbeiten neue Wege 'durch die Wüste und die Schluchten des Balkan' weisen, in der Hoffnung, die wissenschaftliche Aufmerksamkeit stärker als bisher auf den Orientzyklus zu lenken, in dem Karl May - abgesehen vom Spätwerk - seine Utopie vom befreiten Leben vielleicht am weitesten getrieben hat. Aber auch künftige Arbeiten werden schwerlich im letzten die Faszination erklären können, die für Ernst Bloch "ganz rein aus dem Traum" stieg und die sich nicht nur ihm in der archetypischen Passage von der Befreiung Senitzas konkretisierte:

Kara ben Nemsi kriecht durch einen Gang, das geraubte Mädchen aus dem Palast zu befreien. Der Gang wird zum Kanal, Schwimmen, Waten, faules Wasser, das schon über die Augen geht, endlich Ausgang in den Hof, Kara ben Nemsi taucht auf - und schlägt mit der Stirn an ein Gitter, das die Zisterne verschließt. Wie nun der Held das Gitter zertrümmert, mit dem Kopf im Wasser und halb erstickt hochkommt, eine Kugel pfeift um seinen Kopf: - die Handlung ist wie ein Angsttraum, aus dem man sich nicht herausfindet, oder wie eine Rettung, die man nicht müde wird, hundertmal zu hören.29

Wir werden "nicht müde, sie hundertmal zu hören", und die einzige, so abstruse wie richtige Erklärung wäre: Karl May hat dies alles selbst erlebt.

Paderborn, im Mai 1991


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Anmerkungen

Wir widmen diesen Band unserem Freund Roland Ittmann, Soest, der wesentlich an der Konzeption der 'Studien'-Reihe beteiligt war.

1Otto Forst-Battaglia: Karl May. Traum eines Lebens - Leben eines Träumers. Bamberg 1966, S. 170.
2Zu den Varianten vgl. ausführlicher Claus Roxin: Einführung in Karl May: Giölgeda padi[´s]hanün / Reise-Abenteuer in Kurdistan ('Hausschatz'-Reprint). Hamburg, Regensburg 1977, S. 4; ders.: Einführung in Karl May: Die Todes-Karavane / In Damaskus und Baalbeck / Stambul / Der letzte Ritt. Hamburg, Regensburg 1978, S. 5; ders.: Einführung in Karl May: Durch das Land der Skipetaren. Hamburg, Regensburg, S. 4f.
3Die redaktionellen Mitteilungen des 'Hausschatzes' werden zitiert nach: Gerhard Klußmeier: Karl May und Deutscher Hausschatz. In: MKMG 16 (1973), S. 17-20; MKMG 17 (1973), S. 17-20.
4Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg i. Br. 1910, S. 199.
5Vgl. ebd.
6Hans Wollschläger: Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens. Zürich 1976, S. 61.
7Ebd., S. 59.
8Vgl. dazu Roxin: Einführung in Karl May: Die Todes-Karavane [Anm. 2], S. 2.
9Vgl. dazu ausführlicher: Hans Wollschläger: "Die sogenannte Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung überhaupt". Materialien zu einer Charakteranalyse Karl Mays. In: JbKMG 1972/73, S. 11-92.
10Nicht nur der 'Hausschatz' wurde übrigens ein 'Opfer' der allzuvielen und -großen Schreibverpflichtungen Mays; 'im Wort' stand der Schriftsteller auch bei der Zeitschrift 'Vom Fels zum Meer', deren Redakteur Joseph Kürschner Karl May Mitte der 80er Jahre wiederholt vergeblich an versprochene Beiträge zu erinnern hatte (vgl. dazu: Jürgen Wehnert: Joseph Kürschner und Karl May. Fragmente einer Korrespondenz aus den Jahren 1880 bis 1892. In: JbKMG 1988, S. 341-389).
11Vgl. dazu den grundlegenden Aufsatz von Claus Roxin: "Dr. Karl May, genannt Old Shatterhand". Zum Bild Karl Mays in der Epoche seiner späten Reiseerzählungen. In: JbKMG 1974, S. 15-73.
12Bei Konrad Guenther: Karl May und sein Verleger; im Anhang zum Fehsenfeld-Reprint v. Karl May: Satan und Ischariot I. Bamberg 1983, S. A8.
13Zit. nach: Roland Schmid: Nachwort zum Reprint v. Karl May: Durch das Land der Skipetaren. Bamberg 1982, o.S. [9].
14May: Mein Leben und Streben [Anm. 4], S. 209.
15Ebd.
16Vgl. ebd., S. 211.
17Freilich dachte May daneben auch an eine parallele, vom Apachenhäuptling Winnetou 'erzählte' Serie Fern im Westen. Erzählungen aus Urwald und Prairie; vgl. zu beiden Projekten Einführung und Anhang im KMG-Reprint Winnetou Band IV. Reiseerzählung von Karl May, hg. v. Dieter Sudhoff. Hamburg, Gelsenkirchen 1984, bes. S. 299.


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18Vgl. Siegfried Augustin: Dr. Rudolf Beissel + . In: MKMG 70 (1986), S. 37-39.
19KMJb 1918, S. 219-253.
20Vgl. Franz Cornaro: Amand von Ozoróczy zur 90. Wiederkehr seines Geburtstages am 13. Oktober 1975. In: MKMG 26 (1975), S. 11 f.; Hansotto Hatzig: Amand von Ozoróczy zum Gedenken. In: MKMG 34 (1977), S. 38f.
21KMJb 1928, S. 29-114; erneut (redigiert von Roland Schmid) im KMJb 1978, S. 191-245.
22Zur Kritik vgl. Wolf-Dieter Bach im JbKMG 1981, S. 375-381, und Helmut Schmiedts Literaturbericht im JbKMG 1985, S. 376-379.
23Helmut Schmiedt: "Einer der besten deutschen Erzähler..."? Karl Mays 'Winnetou'-Roman unter dem Aspekt der Form. In: Karl Mays 'Winnetou'. Studien zu einem Mythos, hg. v. Dieter Sudhoff u. Hartmut Vollmer. Frankfurt/M. 1989, S. 83-101; zuerst im JbKMG 1986, S. 33-49.
24Vgl. etwa Volker Neuhaus: Old Shatterhand und Sherlock Homes. In: Karl May, hg. v. Heinz Ludwig Arnold. Sonderband text + kritik. München 1987, S. 146-157.
25Vgl. Wollschläger [Anm. 6], S. 62f.
26Vgl. Josef Höck: Franz Kandolf zum 30. Todestag. In: KMJb 1979, S. 11-22.
27Heinz Stoltes Aufsätze für die 'Jahrbücher der Karl-May-Gesellschaft' liegen inzwischen gesammelt vor: Der schwierige Karl May. Zwölf Aspekte zur Transparenz eines Schriftstellers. Husum 1989.
28Nennenswert sind etwa Aufführungen der Bühnenbearbeitung Hadschi Halef Omar (nach Durch die Wüste, Merhameh und Allah il Allah) von Wulf Leisner und Roland Schmid in Bad Segeberg (1955, 1959) und Elspe (1964); das Bühnenmanuskript (3. Auflage 1964) wird vom Karl-May-Verlag noch heute vertrieben.
29Ernst Bloch: Die Silberbüchse Winnetous (Frankfurter Zeitung, 31.3.1929); zit. nach der Neufassung in: Erbschaft dieser Zeit. Gesamtausgabe, Bd. 4. Frankfurt/M. 1962, S. 170f.


Abkürzungen

Römische Ziffern beziehen sich auf die im Verlag von Friedrich Ernst Fehsenfeld, Freiburg i. Br., seit 1892 erschienene Reihe 'Karl May's gesammelte Reiseerzählungen' (bis 1896 'Reiseromane'); Reprint: Bamberg 1982-84:

IDurch Wüste und Harem, 1892
IIDurchs wilde Kurdistan, 1892
IIIVon Bagdad nach Stambul, 1892
IVIn den Schluchten des Balkan, 1892
VDurch das Land der Skipetaren, 1892
VIDer Schut, 1892
VIIWinnetou I, 1893
VIIIWinnetou II, 1893


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IXWinnetou III, 1893
XOrangen und Datteln, 1894
XIAm Stillen Ocean, 1894
XIIAm Rio de la Plata, 1894
XIIIIn den Cordilleren, 1894
XIVOld Surehand I, 1894
XVOld Surehand II, 1895
XVIIm Lande des Mahdi I, 1896
XVIIIm Lande des Mahdi II, 1896
XVIIIIm Lande des Mahdi III, 1896
XIXOld Surehand III, 1896
XXSatan und Ischariot I, 1897
XXISatan und Ischariot II, 1897
XXIISatan und Ischariot III, 1897
XXIIIAuf fremden Pfaden, 1897
XXIV"Weihnacht!", 1897
XXVAm Jenseits, 1899
XXVIIm Reiche des silbernen Löwen I, 1898
XXVIIIm Reiche des silbernen Löwen II, 1898
XXVIIIIm Reiche des silbernen Löwen III, 1902
XXIXIm Reiche des silbernen Löwen IV, 1903
XXXUnd Friede auf Erden!, 1904
XXXIArdistan und Dschinnistan I, 1909
XXXIIArdistan und Dschinnistan II, 1909
XXXIIIWinnetou IV, 1909

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KMVKarl-May-Verlag, Radebeul bzw. Bamberg
KMJb Karl-May-Jahrbuch, hg. v. Rudolf Beissel u. Fritz Barthel, 1918-19: Breslau; hg. v. Euchar Albrecht Schmid u.a., 1920-33: Radebeul bei Dresden; hg. v. Thomas Ostwald u.a., 1978-79: Bamberg, Braunschweig
KMGKarl-May-Gesellschaft e.V., Hamburg (Geschäftsstelle: Maximiliankorso 45, 1000 Berlin 28)
MKMG Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft, Hamburg 1969ff.
SoKMGSonderheft der Karl-May-Gesellschaft, Hamburg 1972ff.
JbKMGJahrbuch der Karl-May-Gesellschaft, hg. v. Claus Roxin, Hamburg 1970-73; hg. v. Claus Roxin u. Heinz Stolte, Hamburg 1974; hg. v. Claus Roxin, Heinz Stolte u. Hans Wollschläger, Hamburg 1975-81, Husum 1982ff.
*Fußnote der Herausgeber

Sperrdruck (im Original) wird grundsätzlich kursiv wiedergegeben.



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