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Walther Ilmer

Das schreckliche Ende

Der 'Anhang' als Ausdruck einer emotionalen Krise


Als Abschluß der sechsbändigen Orienterzählung schrieb Karl May Ende 1892, eigens für die Buchausgabe, eine seiner unvergeßlichsten Erzählungen, die er mit den Worten ankündigte: "[Ich sehe] mich zu meiner Freude gezwungen, einen Anhang folgen zu lassen." (VI 536)

   Freude? Gezwungen? Das läßt auf bedeutende neue Siege des Helden in überaus gefahrvollen Abenteuern schließen - und auf Ehren insbesondere für Halef, denn über diesen sagt Karl May allsogleich:

Besonders ist es mein guter, treuer Hadschi Halef Omar, nach dessen späteren Schicksalen und gegenwärtigen Verhältnissen ich gefragt werde. [...] Ich kann getrost sagen, daß dieses mir so liebe Kerlchen sich alle Herzen, und nicht etwa bloß das meinige, erobert hat. (VI 536f.)

Doch die Molltöne folgen unmittelbar:

jetzt und hier [...] soll [...] mein allerletztes Zusammensein mit dem treuen Diener und Begleiter, welcher zugleich mein aufopferungsfähigster Freund gewesen ist [...] mein letztes Erlebnis mit Hatschi [sic] Halef Omar und mein letzter Ritt auf meinem Rih [...] meinem unvergleichlichen Rappen, [der] meinem Herzen so nahe gestanden hat, [...] erzählt werden. (VI 537) [Aus Satzbaugründen hier unwesentlich geändert.]

Und was erzählt Karl May dann wirklich - zum Schrecken seiner Leser? Er erzählt die Geschichte von Rihs Tod, eine Geschichte, die Kara Ben Nemsi und Halef keinerlei Ruhm und Ehre einbringt und an deren Ende Halef ohne neue Würden und ärmer als zuvor zurückbleibt. (Zwei erbeutete edle Perserpferde wiegen den Verlust Rihs nicht auf.) Ein bedrückendes allerletztes Beisammensein.

   Und das zu erzählen, sah May sich zu seiner "Freude gezwungen"? Da gingen die vielerlei Seelenstimmungen, die ihn beherrschten, wieder einmal ein wunderliches Gemisch ein. Angesichts der spezifischen Schaffensweise Karl Mays und der inneren und äußeren Umstände seines Lebens während - und nach - der Abfassung der großen Orienterzählung1 sind der 'Heldentod' des herrlichen Rappen und Mays Festlegung auf eine endgültig vollzogene Trennung seines sympathischen Ich-Helden von dessen



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Alter ego Ausdruck eines inneren Konfliktes, dem der Autor gewaltsam entrinnen wollte.

   Halten wir uns vor Augen, daß die sechsbändige Erzählung über weite Strecken hin eine verschleierte Schilderung der Beziehungen Karl Mays zum Zeitschriften- bzw. Kolportage-Verlag Heinrich Gotthold Münchmeyer (März 1875 bis März 1877 und Herbst 1882 bis Sommer 1887) enthält2, daß die im Sommer 1892 gerade abgeschlossene Trilogie Die Felsenburg/Krüger Bei/Die Jagd auf den Millionendieb3 - die noch Ende 1892 nur als Manuskript vorlag - das Thema 'Münchmeyer und Karl Mays Eheleid' in exotischem Gewand verarbeitete4, daß Münchmeyer am 6.4.1892 verstorben war und daß May von der mit seiner Ehefrau Emma befreundeten Witwe Pauline Münchmeyer endlich, aber vergebens, Rechnungslegung über noch ausstehende Honorare und Gratifikationen erwartete, halten wir uns ferner vor Augen, daß die 1892 einsetzende und zu schönsten Hoffnungen berechtigende Etablierung Karl Mays als Buchautor bei Fehsenfeld nicht nur eine Wende zum Besseren, sondern die Zäsur schlechthin in seiner Karriere als Schriftsteller bedeutete, so liegt der Gedanke nahe, daß etwas von alledem sich niederschlug in einer Erzählung, die zeitlich nahe im Anschluß an die oben genannte Trilogie und thematisch als Abschluß der Orient-Odyssee entstand.

   Bei einem Ausflug in die Umgebung von Damaskus (wohin er eigentlich gar nicht mehr hätte kommen können, denn acht Jahre vorher hatte er "den letzten [Blick] im Leben" auf Damaskus geworfen, III 399; vgl. auch III 356: "Abschied [...] für lebenslang") erkennt Kara Ben Nemsi in einem ihm den Rücken zukehrenden Mann seinen früheren Weggefährten David Lindsay und legt ihm von hinten her die Hände über die Augen, um Lindsay raten zu lassen. Das freudige Erkennen begleitet Lindsay sogleich mit den Worten: "dieser armselige Kara Ben Nemsi [...], der seinen Rapphengst verschenkt hat, anstatt ihn an mich zu verkaufen" (VI 539).

   War schon früher auffällig, daß Karl May die erste Begegnung des Ich-Helden mit Lindsay (I 421) genau so schilderte wie seine entscheidende Begegnung mit Münchmeyer, die ihm 1875 die Stellung als Redakteur eintrug5, so entspricht die Wiederbegegnung der beiden bei Damaskus exakt dem unerwarteten Zusammentreffen Mays mit Münchmeyer im Spätsommer 1882 in Dresden: "Es gab im Garten nur einen einzigen Gast. Der sass mit


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dem Rücken gegen uns [...]. Ich schlich mich hin, legte ihm von hinten her die Hände über die Augen und fragte ihn, wer ich sei."6 Jene Wiederbegegnung führte zu Karl Mays schicksalhafter Autorschaft an den fünf umfangreichen Kolportageromanen Waldröschen, Die Liebe des Ulanen, Der verlorne Sohn, Deutsche Herzen, deutsche Helden, Der Weg zum Glück, was ihn jahrelang hinderte, sein Talent weiterhin, wie ursprünglich geplant, erfolgreich auf ganz neuartige Reiseerzählungen in Ich-Form zu richten: Er 'mißbrauchte' sein ganz besonderes Erzählertalent im Dienste und im Interesse Münchmeyers, nachdem er es während der Redakteurzeit damals im Grunde für gute Zwecke eingesetzt hatte.

   Dieses Talent wird in der Orienterzählung verkörpert durch Rih7: Er bildet die Grundlage für Kara Ben Nemsis Heldentaten und Erfolge. Und immer wieder drängt Lindsay darauf, den Rappen auf Dauer zu erwerben, ihn seinem Besitztum einzuverleiben - Ausdruck des sehr verständlichen Wunsches des Verlegers Münchmeyer, das Talent Karl Mays ausschließlich an sich zu binden und damit dessen Lebensbedingungen zu diktieren. Kara Ben Nemsi aber schenkt Halef - also dem eigenen, entwicklungsfähigen Ich - den Rappen, damit dieser sich von den Strapazen der Reise wieder erholen und sich erneut voll entfalten kann: "Noch sind wir im Lande des Großherrn, und doch ist er bereits krank", sagt Kara Ben Nemsi über Rih zu Halef, während sie im Begriffe stehen, den Schut zu besiegen, und fährt fort: "Sein Haar ist nicht mehr wie der Faden der Spinne; seine Augen sind hell, aber nicht mehr voll Feuer. [...] Er würde vielleicht elend aussehen, aber er liebt mich, und dies erhält ihm die Munterkeit und Spannkraft." Die zunehmende Entfernung von seinem angestammten Terrain zehrt unaufhörlich an Rihs Leistungsvermögen - d.h. je länger Karl May seinem eigentlichen Metier, der sein Seelenleben entschlackenden Reiseerzählung, fernbleibt, desto mehr leidet sein Talent. "Ich muß ihn der Heimat zurückgeben aus Dankbarkeit für das, was er mir geleistet hat. Und wenn ich, indem ich das thue, zugleich dich glücklich mache, so ist das ein Grund mehr, ihn dir zu schenken." (VI 371) Lindsays Mißvergnügen über diese Entscheidung (VI 373ff.) spricht Bände. Die Szene entstand im Jahre 1888, nach Mays zweiter Trennung von Münchmeyer (Sommer 1887), und ist eine der vielen Reminiszenzen an des Autors verlarvte Wanderschau 'Durch das Land der Kolportage' und an seine Anstrengungen, endlich wieder frei-


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zukommen [freizukommen] aus dem Netz, in dem er sich bei jener Wiederbegegnung mit Münchmeyer im Spätsommer 1882 so leichtfertig hatte fangen lassen, und das nun auch Ende 1892 im Anhang (zu Band VI) noch einmal sichtbar wird.

   Lindsays erste Worte gelten Rih, den er nicht bekam, und Münchmeyer bat 1882 May bald ohne Umschweife, wieder für ihn tätig zu werden. Kara Ben Nemsi verfolgt den ehrgeizigen Plan, Sprachstudien im Kaukasus zu betreiben (VI 540) - ein Hinweis auf Mays feste Absichten, 1882, sich im Interesse des Anscheins der Authentizität seiner Reiseerzählungen fleißig weiterzubilden. Merkwürdigerweise ist also nicht er auf dem Weg zu den Haddedihn, sondern Lindsay, obwohl dieser sich kaum mit ihnen verständigen kann. Das ist deutbar als Münchmeyers verzweifelte Suche nach wohlgesinnten Menschen aus vergangenen Zeiten, denen er sich straflos anvertrauen konnte, auch wenn sie ihm - wahrscheinlich - nicht zu helfen vermochten. (Im übrigen hat Lindsay von Triest aus an Kara Ben Nemsi geschrieben, VI 540, so wie Münchmeyer von Dresden aus Karl Mays Werdegang verfolgte.) Kara Ben Nemsi geht rasch auf Lindsays Vorschlag, ihn zu begleiten, ein, indem er seine eigenen bisherigen Pläne aufgibt (wie oft taucht dieses Motiv in Mays Reisewerk auf!), dem Freund aber "nicht mehr als einen Monat" zugesteht: May sagte Münchmeyer zu, einen Roman für ihn zu schreiben. Lindsay zeigt sich trotz der Einschränkung "ganz zufrieden, denn ich weiß, daß bei Euch sehr leicht ein ganzes Jahr daraus" werden kann (VI 542). Und in der Rückschau, von Ende 1892 her gesehen, war es ja leider auch so gekommen: Aus dem einen Roman wurden fünf.

   Völlig unerwartet sieht Kara Ben Nemsi sich unterwegs genötigt, seinen Rih einem geschickten, frechen Pferdedieb abzujagen, den Lindsay alsbald bewachen darf (VI 547), und macht sich dann auf Rih reitend daran, die ebenfalls geraubte junge Schimmelstute, von welcher Mohammed Emin [...] gesagt hatte: 'Diese Stute geht nur mit meinem Leben von mir'" (VI 547; vgl. I 359), wieder einzufangen. Dieses spannende Intermezzo ist für die Zwecke der Erzählhandlung ganz und gar entbehrlich (Kara Ben Nemsi hätte den Hengst genausogut friedlich grasend bei Halef antreffen können), gewinnt im Lichte der Autobiographie jedoch sofort an Bedeutung:

   Während der fortschreitenden Zeit seiner Autorschaft an immer neuen Heftchen-Romanen merkte May mehr und mehr, daß er


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sich nicht nur 'die Hand verdarb', sondern daß Münchmeyer auch - so jedenfalls Mays nie schlüssig widerlegte Darstellung - teilweise von Mays Texten abwich und, als plumpen Leseanreiz, handfeste Szenen einfügte, die nach dem damaligen Sittenkodex als lüstern und anstößig galten und die May nur hin und wieder vor Drucklegung ausmerzen konnte. Münchmeyer trieb also Schindluder mit Mays Talent, und gegen diese räuberischen Taktiken mußte May sich wehren. Gleichzeitig war Mays Ehefrau Emma in den Bannkreis des Ehepaars Heinrich und Pauline Münchmeyer geraten und entfernte sich innerlich von Karl. Ein - vielleicht kurzlebiges - außereheliches Verhältnis mit Münchmeyer (der keine mustergültige Ehe führte) und/oder eine lesbische Verbindung zu Pauline sind zwar nicht eindeutig nachgewiesen, lassen sich aber keineswegs ausschließen. Jedenfalls kämpfte Karl May um den Bestand seiner Ehe - und holte die 'junge Schimmelstute' zurück. Der Autor läßt - von seinen Gefühlen getragen - außer acht, daß die Stute acht Jahre nach dem Tode Mohammed Emins keineswegs mehr 'jung' sein kann; Emma freilich (geb. 22.11.1856) war zur Zeit ihrer Umwerbung durch Münchmeyer sehr wohl noch eine junge Frau. Der genau plazierte Satz "Diese Stute geht nur mit meinem Leben von mir" kann mühelos als Mays Bekenntnis seiner tiefen und schicksalhaften Bindung an Emma (auch zum Zeitpunkt der Niederschrift) verstanden werden.

   Mit der Übernahme der Bewachung des ertappten Pferdediebes endet Lindsays Münchmeyer-Part; er wird, wie in früheren Fällen, nahezu unmerklich wieder ein Teil-Ich Karl Mays. Die negativen Charakteristika des Verlegers überträgt May - im gewohnten Wechselspiel der Identitäten - passend auf Amad el Ghandur, den Scheik der Haddedihn. Im Rahmen der Orient-Gesamterzählung zunächst als eine der vielen Erscheinungen des weiland Kriminellen Karl May (von Osterstein und Waldheim) ersonnen und dem Leser nie so recht sympathisch, kann Amad el Ghandur dank seiner unangenehmen Eigenschaften die Münchmeyer-Funktion sogleich übernehmen. Auch sein Name kommt zustatten: Die Form 'Amad', eine der zahlreichen Varianten des Namens 'Achmed' (der 'Preiswürdige'), erinnert an den aus ganz anderen sprachlichen Wurzeln gebildeten Namen 'Amadeus', während der Beiname 'el Ghandur', so May, 'Held' bedeutet (III 143). Die Zusammenstellung von 'Amadeus' ('Gottlieb') und 'Held' ihrer-


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seits [ihrerseits] läßt an 'Gotthold' denken - Münchmeyers zweiten Vornamen.

   Dieser Amad el Ghandur begrüßt Kara Ben Nemsi überschwenglich: "Du sollst bei uns willkommen sein, wie noch nie jemand bewillkommnet worden ist, denn du bist der beste unserer Freunde, und schon dein bloßes Nahen hat uns Heil gebracht." (VI 554)8 Das entspricht ganz Münchmeyers Erleichterung über das Zustandekommen der neuerlichen geschäftlichen Beziehung. Und er räumt dem Gast alle Freiheiten ein für das schon bald darauf geplante gemeinsame Unternehmen: "Du bist damals unser Führer gewesen und sollst es auch jetzt wieder sein." Kara Ben Nemsis Einwand, "Ich bin aber doch fremd in diesem Lande, und du kennst es viel besser als ich", hält Amad el Ghandur entgegen: "Nein, du bist hier nicht mehr fremd, und dein Verstand findet sogar die Wege aller Gegenden, in denen du noch nie gewesen bist; wir haben das so oft gesehen und erfahren. Rede uns also nicht darein; du sollst uns wieder führen." (VI 563) Das gibt die Situation von 1882 genau wieder: Der Verleger gab seinem Autor Karl May angeblich freie Hand in allem, wie vormals seinem Redakteur Karl May, der den Verlag sanierte, und vertraute ganz auf Mays Geschicklichkeit, sich beim Engagement für eben denselben Verlag auch auf dem Felde der Kolportage baldigst zurechtzufinden.

   Das Unternehmen, um das es geht, ist eine Reise zum Grabmal Mohammed Emins. Dabei sollen die Stationen des damaligen gefahrvollen Weges berührt werden, angefangen bei "dem Tschimarwalde, an welchem wir Heider Mirlam trafen." (VI 561; vgl. III 9 und III 19) "Das war die erste Stufe hinauf zu dem hohen Grabmale" (VI 561). Mit anderen Worten: Karl May reist im Geiste noch einmal auf dem Wege, an dem er Heinrich Münchmeyer traf, bis zum Endpunkt seiner Tätigkeit als Kolportageschriftsteller.9

   Und nun nennt Karl May den 12. Juni (europäischer Zeitrechnung) als Todesdatum Mohammed Emins (VI 560, 562). Als er nahezu elf Jahre früher von diesem Tode und der Beisetzung erzählte (III 169, 183, 195f., passim), erwähnte er das nicht; und auch aus den Monatsangaben "Dsu 'l hedsche" und "Moharrem" (III 202) läßt sich das Datum, wegen Mangels einer Jahreszahl christlicher oder mohammedanischer Zeitrechnung, nicht ableiten. Der Grund für die nachträgliche Wahl dieses Datums kann


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den mit den Assoziationsvorgängen in Karl Mays Erzählungen Vertrauten kaum überraschen.

   Vergessen wir nicht, daß der Anhang eine ganz eigenständige Geschichte ist, in der May sich zwar das Personal, die Schauplätze und die Staffage seiner Anfang 1882 geschriebenen Bagdad-Erzählung als Hülsen zunutze macht, für deren innere Aussage jedoch ganz andere Empfindungen und Ereignisse maßgebend sind als seinerzeit. Als Karl May Mohammed Emin sterben ließ, hatte der 12. Juni für ihn noch keinerlei Bedeutung. Inzwischen aber, in der Rückschau auf die zweite Münchmeyer-Periode, ragt der 12. Juni (1886) in Mays Erinnerung heraus als das Sterbedatum des letzten großen, volkstümlichen und ungewöhnlich sympathischen Helden, den Karl May in seiner letzten großen, volkstümlichen und ungewöhnlich anrührenden Anstrengung für Münchmeyer geschaffen hat: Der Wurzelsepp, sozialer Aufsteiger, eine unvergeßliche Gestalt wie Halef, blutvoll (und gerissen), Hauptfigur des letzten Münchmeyer-Romans Der Weg zum Glück, wird nahezu zeitgleich mit seinem Förderer, dem unglücklichen Bayernkönig Ludwig II., vom Tod ereilt. Aus jedem Auftritt dieses listigen und unerschrockenen Alten, der viele Jahre lang loyal einem Münchner (!), dem König nämlich, gedient hat, spricht Mays Freude an seiner literarisch wie menschlich bedeutsamen Schöpfung. Ihn (dem Handlungsgefüge nach konsequent, obschon nicht unvermeidlich) sterben zu lassen, dürfte Karl May nicht wenig Überwindung gekostet haben. Der Tod des Wurzelsepp ist die letzte Station, der Höhepunkt der Arbeit Mays für Münchmeyer - und folglich auch der Endpunkt der in Gedanken angetretenen Erinnerungsreise-im-Zeitraffer. "Kein Denkmal ziert sein schlichtes Grab"10 - wiewohl der Wurzelsepp eines Denkmals würdig wäre und Karl May ihm im stillen auch eines errichtet, indem er die Reise zum steinernen Grabdenkmal führt. Und eingedenk des Heimgangs eines seiner Lieblinge macht er das steinerne Grabdenkmal zum Kulminationspunkt in der Wende der Beziehungen zwischen Kara Ben Nemsi und Amad el Ghandur.

   Letzterer zeigt sich mehr und mehr an vordergründig-primitivem Denken und Tun orientiert und weist alle berechtigten Vorhaltungen des anderen von sich. Im Gegensatz zu Kara Ben Nemsi will er seinen alten Todfeinden, den Bebbeh-Kurden, nicht ausweichen, sondern die Begegnung forcieren. Die Bebbeh, "Diebe und Räuber" (VI 576), sind hier Münchmeyers betrügeri-


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sche [betrügerische] Machenschaften11, von denen er, auch zu Mays Schaden, nicht lassen mochte und die ihm doch nur Sorgen statt Nutzen brachten. Amad el Ghandurs zunehmendes Fehlverhalten ("steifsinnig", VI 589; "von oben herab", VI 590; "befehlend", "das lebendig gewordene Bild des rücksichtslosesten, keiner Ueberlegung mehr fähigen Zornes", VI 596) führt am Grabmal zum offenen Bruch zwischen den beiden Männern.12 Amad el Ghandur ruft Kara Ben Nemsi zu: "Ich gebiete dir, dich von uns zu trennen!" (VI 596), und Kara Ben Nemsi, "als Anführer abgesetzt" (VI 559), hat alle Mühe, seine Seelenstärke zu bewahren.

   Daß Karl May seinen Ich-Helden ohne erzähltechnische Not in diese Situation drängt (denn Kara Ben Nemsi hätte ohne weiteres den störrischen Amad el Ghandur grob zurechtstutzen und sich selbst durchsetzen oder auch von sich aus die Anführerfunktion niederlegen können), läßt m.E. den Schluß zu, bei Mays zweiter Trennung von Münchmeyer, 1887, sei es zu bösen Szenen und zu schimpflich-ehrverletzender Behandlung Mays gekommen, so daß er - wiewohl moralisch im Recht (und ungeachtet aller Forderungen, die er gegen Münchmeyer geltend machen konnte) - menschlich wie juristisch hilflos auf der Strecke blieb; nur unter der Larve der 'Reiseerzählung', nie aber im offenen Bekenntnis vermochte er davon zu sprechen.13 Ähnlich wie er seine Verurteilung wegen Amtsanmaßung, 1879, und deren Vorgeschichte (die sogenannte 'Affäre Stollberg') in vielerlei Camouflagen im Werk abrollen ließ und sie in sämtlichen autobiographischen Schriften verschwieg. Ein sprechendes Indiz für eine solche Seelenlage des Autors liefert auch Halefs Verhalten: Nach seinem mannhaften Eintreten für Kara Ben Nemsi (VI 597) und seinen Tröstungsversuchen (VI 603) läßt er sich unter Amad el Ghandurs unberechtigtem Vorwurf, ein Feigling zu sein (VI 629), jählings vom Zorn übermannen und will im offenen Kampf gegen die Bebbeh für seine Ehre eintreten (VI 630), auch wenn Kara Ben Nemsi unbeirrt für Friedfertigkeit plädiert. Diese direkte zeitweilige Loslösung Halefs von seinem Vorbild sehe ich darin begründet, daß May sich beim Streit mit Münchmeyer 1887, anders als beim Weggang 1877, nicht durchweg pfiffig und moralisch überlegen verhielt, sondern seinerseits ungezügelte Wut an den Tag legte und sich seiner Worte und seines Betragens später schämte. Halef vermag denn auch trotz all seiner Tapferkeit nichts auszurichten, sondern sieht im Gegenteil nur seinen Sohn in Gefahr und muß Kara Ben Nemsi dessen Rettung überlassen (VI 631, 632). Kara


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Ben Nemsis Ehre ihrerseits läßt es natürlich nicht zu, Amad el Ghandur tatenlos den Feinden preiszugeben, und er greift in das Geschehen ein.

   Wie in einem Brennpunkt wird das ganze Münchmeyer-Tableau mit seinen für Karl May üblen Folgen in drei kurzen Szenen zusammengezogen: Indem er Halefs Sohn durch Kara Ben Nemsi, dem der Knabe lieb ist wie ein eigenes Kind, retten läßt ("ich sah, daß Kara Ben Halef verloren war [...]; ich mußte ihm zu Hilfe kommen", VI 631), gleiten vor den Augen des Autors noch einmal alle jene 'verlorenen Söhne' (vom Waldröschen bis zum Weg zum Glück14) vorüber, deren Schicksal er gestaltet hat; und indem Kara Ben Nemsi den am Boden liegenden Amad el Ghandur vor dem Ende bewahrt15, verliert er Rih (VI 634f.) und darf froh sein, mit dem Schrecken für sich selbst davonzukommen: Das ist der Tiefpunkt der Leistungsfähigkeit am Ende des hingeschluderten Romans Deutsche Herzen, deutsche Helden. In einer letzten Anstrengung kommt Rih völlig überraschend noch einmal zu Kara Ben Nemsi zurück, stirbt dann aber doch an der Kugel, die ihn traf statt des Reiters (VI 638, 639) - und erhält ein ehrenvolles Grabdenkmal unmittelbar neben dem des weißbärtigen Scheiks (VI 642), zu dem die trübe Reise geführt hatte: Erinnerung an Der Weg zum Glück und dessen prächtigen Helden.16

   So hat also Karl May sein Talent dem Unternehmer Münchmeyer geopfert, weil er zu gutgläubig war. Zwar gibt es da jetzt Rihs hochedlen Sohn Assil Ben Rih17, doch auf den darf Karl May im Grunde keine Hoffnungen setzen, weil es ja ein weiteres Beisammensein mit Halef nicht mehr geben soll. Zwiespältig, wie er sich in dieser Erzählung über jeden Zweifel erweist, hat Karl May sich in eine Sackgasse hineinmanövriert.

   Angesichts seiner Verbindung zu Fehsenfeld und der erhaltenen Vorschußhonorare hatte er Ende 1892 allen Anlaß, euphorisch zu sein. Dennoch schrieb er eine traurige Geschichte mit Vergangenheitsbewältigung, ohne Ausblick in die Zukunft. Und wenngleich er bewegende Ereignisse seines Lebens häufig erst Jahre später literarisch umgeformt verarbeitete, dürfte es inmitten der legitimen Glücksstimmung doch eines machtvollen Auslösers bedurft haben, um ihn rund fünfeinhalb Jahre nach der endgültigen Trennung von Münchmeyer zu derart innerem Aufruhr und einem so elegischen Abschluß der glanzvollen Orient-Odyssee zu treiben. Und in der Tat wurde Karl Mays aktuelle Situation im Jahre 1892 gerade durch das Handeln Fehsenfelds auch negativ beeinflußt.


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   Die Bindung an das reputierliche Freiburger Verlagshaus mußte es May geboten erscheinen lassen, in den noch immer offenen Fragen seiner Verbindung zum Hause Münchmeyer reinen Tisch zu machen, die immer noch ausstehenden Abrechnungen, Honorare und Gratifikationen jetzt endlich, nach Münchmeyers Tode, einzufordern und jede Beziehung zu dem nicht mehr gut beleumundeten Verlag (womit ja auch das Verhältnis zu Fehsenfeld belastet wurde) definitiv zu beenden. Jede Verschleppung nützte nur der Witwe Pauline Münchmeyer etwas, nicht dem Autor Karl May, der zudem absehen konnte, daß er seine Zeit und seine Arbeitskraft vollauf benötigen werde, um Fehsenfelds Drängen auf rasche Herausgabe weiterer Bände nachzukommen (für die Zeitschrift 'Deutscher Hausschatz' lag zum Glück Manuskriptmaterial noch für Jahre bereit), und nicht gewillt sein konnte, einen zeitraubenden Kleinkrieg gegen Pauline Münchmeyer zu führen. Jedes Drängen Karls in dieser Hinsicht stieß aber auf den erbitterten Widerstand der mit Pauline befreundeten Emma18, und Emma war der Mensch, von dem Karl May, sei's zum Glück, sei's zum Leid, nicht loskam und dessen Verhalten stets bestimmenden Einfluß auf den Menschen wie auf den Schriftsteller Karl May ausübte.

Münchmeyer [...] hatte mich um ganz horrende Summen geschädigt. Ich erfuhr das leider erst lange nach seinem Tode. Ich war fest gesonnen, seine Witwe, welche das Geschäft fortführte, wegen Betrug und Unterschlagung zu belangen, aber die Pollmer gab dies nicht zu. Sie machte mir Szenen, deren Häßlichkeit kein Mensch widerstehen konnte, und diese Szenen wiederholten sich so oft ich auf meine Absicht, Strafanzeige zu machen, zurückkam. So verschob sich die Ausführung dieser Absicht von Jahr zu Jahr [...].19

Eine einzige heftige Szene dieser Art gegen Ende 1892 - und alle Euphorie verflog; Grundstimmung und Ablauf des Anhang zum Band VI waren vorgezeichnet: Die Jahre für Münchmeyer waren vergeudete Zeit, die Früchte der Arbeit standen aus, es gab keine Aussicht, sie jemals angemessen zu ernten, und zu alledem hatte Karl May damals, 1882 und nachfolgend, sich im wesentlichen auf Anraten Emmas mit Münchmeyer eingelassen, hatte das in den Zeiten des ersten beschaulichen Eheglücks von 1880 und 1881 sprudelnde Talent in eine andere, ihm schädliche Bahn gelenkt. Nun wurde er von Emma im Stich gelassen. "Die Wut, welche in mir kochte", wandelt sich, scheinbar, in "die Stimme der Ueberlegung" (VI 635), de facto aber in dumpfe Resignation - und dieser fallen Rih (das mißbrauchte Talent) und Halefs Zu-


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kunft [Zukunft] zum Opfer. Der kleine Hadschi ist wie Rih ein Produkt aus Zeiten der inneren Ruhe, ist der Ehemann Karl May, der sich, ungeachtet heraufziehender äußerer Erfolge, vor einem emotionalen Scherbenhaufen sieht.

   Reichlich Konfliktstoff also, und daraus erklärbar ein zwiespältiges Verhältnis zum eigenen Werk. Aber da gab es noch anderes, das Anlaß zur hastigen Hetze über das Papier lieferte: Abgesehen von dem Münchmeyer-Aspekt hatte Karl May einen zweiten Grund, Emma zu grollen. Im November 1891 war seine ihm ans Herz gewachsene Nichte Clara Selbmann als Dauergast bei Karl und Emma aufgenommen worden und ging an deren Wohnort zur Schule; sie erfuhr aber nur von Karls Seite die erwartete liebevolle Behandlung. Emma ließ es im Umgang mit dem neunjährigen Kind schon bald derart an Güte, Umsicht und Vernunft sowie an Verständnis für die Bedürfnisse eines nicht im Elternhaus lebenden Mädchens fehlen, daß Mays Schwester ihre Tochter Clara bereits im August 1892 wieder heimholte. May litt sehr darunter20 - und führte in den Anhang zu Band VI flugs Halefs achtjährigen Sprößling Kara Ben Halef ein (VI 555), den Kara Ben Nemsi alsbald unter seine Fittiche nimmt und liebgewinnt (VI 574), und der nur deshalb nicht daheim im sicheren Duar bei der Mutter bleibt, weil Karl May das Kind, das ihm dabei vor Augen stand, stets gern um sich hatte und freundlich erzog. Der herzbewegende Abschied des reifen Mannes von dem Kinde, wobei dieses beauftragt wird, Rih zu grüßen (VI 645), kann den Psychologen Stoff für eine längere gesonderte Abhandlung bieten. Für den in diesen Zeilen hier behandelten Zweck bleibt festzuhalten, daß Emma auch bei Klein-Kara (= Klein-Clara) im Spiel war - und daß dies zum Tiefen-Kernpunkt der Überlegungen in Sachen Anhang führt.

   Ob Karl May - vage oder konkret - erwogen hatte, irgendwann ein Treffen Kara Ben Nemsis mit Kara Ben Halef und Assil Ben Rih ohne den inzwischen zum Scheik avancierten Halef zu arrangieren, also eine Vision der veredelten Reiseerzählung unter einem neuen Hoffnungsträger anpeilte, bleibt offen. In der traumatisch-selbstquälerischen Geschichte Blutrache (in XXIII) vom Frühjahr 1893, die sechs Jahre vor Rihs Tod spielt, läßt May Halef fast umkommen, und dann hat Karl May, als Ich-Held, für eine Weile auf anderen Schauplätzen zu tun. Aber schon im Sommer 1895, gerade zweieinhalb Jahre nach dem verstörenden Anhang, löste er sich von dessen Aussage und führte Kara Ben


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Nemsi und Halef in dessen geziemender Funktion als Scheik der Haddedihn zusammen, wobei er noch verwegen genug war, sich auch ausdrücklich auf die Abschiedsszene im Anhang zu beziehen!21 Bei diesem das 'allerletzte Beisammensein' negierenden Treffen ist allerdings keine Rede mehr von den beiden edlen Perserpferden, die Kara Ben Nemsi den Bebbeh abgenommen hat (VI 641) und die er Halef als Ersatz für Rih schenkte (VI 644), und auch bei späterer Gelegenheit, als im Zusammenhang mit Halefs neuem Rappen Barkh mindestens die schwarze Perserstute hätte erwähnt werden müssen (XXVI 279, 359ff.), schweigt May sich darüber aus. Von Rih freilich vermochte er sich nicht leicht zu lösen: Dessen Image zitiert er herbei, als er im Sommer 1893 für den zweiten Winnetou-Band das Schlußkapitel Der Pedlar schreibt und den Hengst Old Shatterhands vor Indianern in Sicherheit bringt: "ich stieß [die Thür] vollends auf und zog Rih in das Innere." (VIII 566) Was hätte Sigmund Freud dazu gesagt!?

   Die "prächtige persische Rappstute" (VI 631), erst zuguterletzt ins böse Spiel der Handlung gebracht, die den Eigentümer wechselt und sich dann im Irgendwo verliert, hat einen sehr realen Hintergrund. Mag man nach strengen Maßstäben meine nachfolgenden Ausführungen Spekulationen nennen (nennen müssen), so ist doch der immer besondere Fall Karl May derart ein Lehrstück auf dem faszinierenden Gebiete der Widerspiegelung der Vita und des Seelenlebens in den Texten, daß die nach Wegräumen der Flitter, der (exotischen) Deckschichten und der Tarnfarben zutagetretenden Assoziationen nicht immer auch eines Dokumentes bedürfen, um glaubwürdig zu sein. Ich halte dafür: Die unter innerem wie äußerem Druck als Abschluß des Bandes VI entstandene Geschichte zeigt neben Karl Mays Enttäuschung über Emma auch seine - in dieser Enttäuschung wurzelnde - heimliche Sehnsucht nach Klara Plöhn.

   Die Ehepaare Plöhn und May hatten einander Ende der achtziger Jahre kennengelernt, vielleicht im Vorfeld des Umzugs der Plöhns von Leipzig nach Dresden22 (im März 188923), vielleicht etwas später. Klara (geb. am 4.7.1864) war 1881, noch nicht siebzehnjährig, nach dem Tode ihres neunzigjährigen (!) Vaters (der Klaras Mutter übrigens erst kurz vor deren Niederkunft, im April 1864, geheiratet hatte), mit dem elf Jahre älteren Richard Plöhn verheiratet worden.24 Sicherlich war sie, die kaum Herangereifte, ihm, dem Mitbegründer und Mitinhaber der Firma Plöhn und Hopf, Äther, Öle en gros25, eine gute Frau. Was an


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tiefsitzender wirklicher und natürlicher Liebessehnsucht in ihr gelodert haben mag, welchem Idol oder Ideal sie anhing, mag dahingestellt bleiben. Leicht vorstellbar ist immerhin, daß sie für den an seinem Wohnort als 'Dr. phil.' bekannten Schriftsteller Karl May26 zunehmend schwärmte - und daß ihm, dem von Emma in dieser Hinsicht kaum Verwöhnten, das wohltat und er seinerseits die sehr hübsche, dunkelhaarige junge Frau manchmal anders als nur mit den Augen eines (fast väterlichen) Freundes ansah.27 Die beiden Ehepaare waren mindestens seit 1891 einander in herzlicher Duzfreundschaft verbunden28, und Karl May, arm an persönlichen ehrlichen Freunden, hätte es fraglos nie auf sich genommen, Richard Plöhn mit dessen Frau zu betrügen, und damit, abgesehen vom Risiko des Verlustes der Freundschaft, Emma eine furchtbare Waffe und der Öffentlichkeit einen Skandal zu bieten. (1901, 1902 lagen die Verhältnisse ganz anders!) Aber wer will ihm heimliche Träume absprechen? Und wer will, angesichts der May-eigenen Note, stets sein persönliches Erleben und Empfinden in seine Geschichten mit einzubeziehen, bestreiten, daß er solche Träume (sei's mit Willen, sei's unbewußt) dem Papier anvertraute?

   Die "prächtige persische Rappstute" - die auffällige Häufung des Buchstabens 'p' ist ja wohl kein Zufall - gehört Ahmed Azad, dem Scheik der Bebbeh-Kurden. Da ist der 'A(c)hmed', der 'Preiswürdige', dem Kara Ben Nemsi um Himmels willen keinen Anlaß zur Dauerfeindschaft und Blutrache liefern will (VI 606), und dessen Beinamen 'Azad' (= 'Assad') der Autor bei früherer Gelegenheit (1879) kenntnisstolz als 'der Aufruhrerregende' wiedergegeben hat (X 58, 59). Ja, Richard Plöhn, der preiswürdige Freund, und dessen Frau haben in Karl May keinen geringen freudigen Aufruhr erregt. In der Lautmalerei 'Ahmed Azad' steckt aber auch etwas von Plöhns früherer Beschäftigung mit Äther; und als Scheik der Bebbeh, d.i. als Herr der B.B., ist Plöhn Herrscher über die Binden und Bandagen in seiner jetzigen Verbandstoffabrik.

   Kaum von Klein-Kara (= Clara) getrennt, läßt Kara Ben Nemsi/Karl May dem Gedanken an die andere Klara freien Lauf: er eilt der Perserstute nach. Ahmed Azad muß diese edle schwarze Stute hergeben - als Ersatz für Rih -, und von Kara Ben Nemsi erhält Halef sie als Geschenk, "worüber er ganz glücklich war" (VI 644), glücklich, nachdem er sich gerade noch untröstlich über den Verlust Rihs gezeigt hatte.


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   Darauf also läuft - nach der Bewältigung all der Münchmeyerei und des Schmerzes über den Weggang der kleinen Nichte - die ganze dramatische Geschichte hinaus: Auf die Eroberung der schwarzen Stute durch den vom Leid geschlagenen Ich-Erzähler, der dann mit sich selbst (nämlich Halef) im Irgendwo verschwindet, weil die Vorstellung eines gemeinsamen Lebens des Ich mit der prächtigen Rappstute in die Sackgasse mündet, eine Zukunft nicht sichtbar ist.

   Bewunderungswürdig, zu welcher Leistung er sich da zu seiner "Freude gezwungen" sah. Und wie sonderbar, daß der kühne Traum zehn Jahre später Wahrheit wurde.


Anmerkungen

1Vgl. Walther Ilmer: Durch die sächsische Wüste zum erzgebirgischen Balkan. Karl Mays erster großer literarischer Streifzug durch seine Verfehlungen. In: JbKMG 1982, S. 97-130; ders.: Das Märchen als Wahrheit - die Wahrheit als Märchen. Aus Karl Mays 'Reise-Erinnerungen' an den erzgebirgischen Balkan. In JbKMG 1984, S. 92-138; ders.: Von Kurdistan nach Kerbela. Seelenprotokoll einer schlimmen Reise. In: JbKMG 1985, S. 263-320; ders.: Mit Kara Ben Nemsi 'im Schatten des Großherrn'. Beginn einer beispiellosen Retter-Karriere. In: JbKMG 1990, S. 287-312.
2Ilmer: Das Märchen als Wahrheit [Anm. 1] und ders.: Mit Kara Ben Nemsi [Anm. 1]. Die gleiche Thematik bewegt weitgehend auch die Erzählung mit dem ursprünglichen Zeitschriftentitel Durch das Land der Skipetaren (in der Buchausgabe IV, Kap. 7 und 8; V; VI, Kap. 1 bis 7); eine entsprechende Studie ist in Vorbereitung.
3In der Buchausgabe, 1896/1897, unter dem Titel Satan und Ischariot I-IIl erschienen.
4Vgl. Walther Ilmer: Nachwort. In: Karl May: Die Felsenburg/Krüger Bei/Die Jagd auf den Millionendieb. KMG-Reprints, Hamburg 1980 u. 1981. Die dort angegebenen Daten zur Entstehungsgeschichte der Trilogie müssen aufgrund der präzisen Forschungsergebnisse von Roland Schmid korrigiert werden; vgl. Roland Schmid: Die Entstehungszeiten der Reiseerzählungen. In: Reprint-Ausgabe von Auf fremden Pfaden. Bamberg 1984, S. A19-42. Diese akribische Darstellung des inzwischen Verschiedenen bildet eine der wesentlichsten Grundlagen für jede ernsthafte Karl-May-Forschung.
5Ilmer: Mit Kara Ben Nemsi [Anm. 1], S. 297f.
6Karl May: Ein Schundverlag. Prozeßschriften, Bd. 2, hg. v. Roland Schmid. Bamberg 1982, S. 328. Eine Variante bot May bereits in der nach dem Wiedersehen 1882 geschriebenen Szene Kara Ben Nemsi/Lindsay in III 410.
7Ilmer: Mit Kara Ben Nemsi [Anm. 1], S. 303. 'Symbolkraft' als 'die Reiseerzählung' wird dem Rappen Rih, retrospektiv, zuerkannt in frühen Interpretationen des Gehalts des von der Karl-May-Forschung seit eh und je als autobiographisches Schlüsselwerk


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(1902/1903) angesehenen Im Reiche des silbernen Löwen III/IV (XXVIII, XXIX), während Assil Ben Rih als 'die verfeinerte, symbolischer Deutung bereits zugängliche Reiseerzählung' gedeutet wird. Vgl. das Kapitel Der Schlüssel in allen zwanzig Auflagen (1916 bis 1942) des Bandes 34 der 'Gesammelten Werke' ("Ich"), Radebeul, und, von dort weiterführend, bei Hans Wollschläger: Karl Mays Schattenroman. In: Karl May: Das versteinerte Gebet. Bamberg 1957 ('Gesammelte Werke', Bd. 29). Meine persönliche Deutung, Rih als Talent des Autors Karl May, steht dem nicht unbedingt entgegen, da Mays spezifisches Talent sich eben bei Reiseerzählungen der Art (und Eigenart) der Bände I bis VI am wirksamsten entfaltete. Allerdings versuche ich zu erweisen, daß auch sämtliche Reiseerzählungen Mays vor der Jahrhundertwende autobiographische Schlüsselwerke sind, May also bei der Niederschrift des Silberlöwen seine längst erprobte 'innere Technik' überhaupt nicht zu ändern brauchte.
8Auch dies entspricht den Schilderungen in Karl May: Ein Schundverlag [Anm. 6], S. 329, 334-336.
9Die der ersten Reise auf jener Route unterlegte Deutung, Karl May schildere dabei seinen Weg als Straftäter in das Zuchthaus Waldheim (1869/1870), bleibt hiervon unberührt. Vgl. Ilmer: Von Kurdistan nach Kerbela [Anm. 1],
10Karl May: Der Weg zum Glück. Roman aus dem Leben Ludwigs des II. Nachdruck der Ausgabe Dresden 1886-87. Hildesheim, New York 1971, S. 2616. Tatsächlich tritt der Tod des Wurzelsepp, wie der des Königs, am 13. Juni ein, jedoch ist das vom Wurzelsepp erfragte Datum "Der zwölfte Juni" (ebd., S. 2599) das letzte, das sein im Verlöschen begriffenes Bewußtsein aufnimmt und das May ausdrücklich angibt. Es wird nicht ersichtlich, daß der Wurzelsepp während seines kurzzeitigen Wachzustandes am 13. Juni das Verstreichen eines weiteren Tages seit seiner Erkundigung nach dem Datum wahrnimmt. Bei Mays visuellem Gedächtnis und seiner Fähigkeit, sich an von ihm Geschriebenes im Wortlaut zu erinnern, darf als sicher unterstellt werden, daß "Der zwölfte Juni" für ihn die maßgebende Richtzahl war.
11Vgl. Karl May: Ein Schundverlag [Anm. 6], S. 354, 355, 359. Zur Buchführung bei Münchmeyer vgl. Karl May: Frau Pollmer, eine psychologische Studie. Prozeßschriften, Bd. l, hg. v. Roland Schmid. Bamberg 1982, S. 861.
12May-typisch bilden seine Teil-Identitäten Kara Ben Nemsi, Halef und Lindsay (sowie Omar Ben Sadek) eine geschlossene Front gegen Ahmad el Ghandur.
13Bei allen sonstigen wortreichen Mikrodetail-Schilderungen in Ein Schundverlag [Anm. 6] bleibt May dort merkwürdig zurückhaltend über Art und Gründe dieser Trennung. Anhaltspunkte ergeben sich aber m.E. aus seinen Ausführungen in VI 625 unten.
14'Verlorene Söhne' in diesen Romanen sind Mariano (recte Graf Alfonso), Gebhardt von Königsau und die Eschenrode-Zwillinge, Gustav Brandt, die Brüder Adlerhorst, Max Walther und der Fex.
15Um den von Karl May, durch Kara Ben Nemsi, vertretenen Grundsätzen des Christentums Geltung und Genugtuung zu verschaffen, kommt es in der Erzählung zu Amad el Ghandurs tätiger Reue und zur Aussöhnung zwischen den beiden Männern. Die eigentliche Genugtuung aber erfährt Kara Ben Nemsi durch Amad el Ghandurs Verzicht auf die Scheikwürde (VI 644): Die lakonische Erwähnung


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dieser Entwicklung läßt sich vergleichen mit dem in Ein Schundverlag (Anm. 6, S. 358) zitierten Satz: "Münchmeyer hat wie ein Hund gelebt und ist wie ein Hund gestorben."
16Der im Zusammenhang mit Rihs letzten Lebensminuten geschriebene Satz: "Wir alle weinten, weinten so, als ob ein lieber, lieber Mensch im Sterben liege" (VI 639), beschwört die Sterbeszene des Wurzelsepp plastisch herauf. Vgl. Karl May: Der Weg zum Glück [Anm. 10], S. 2615.
17Kara Ben Nemsi reitet dieses Pferd in der großangelegten Erzählung Im Reiche des silbernen Löwen (vgl. Anm. 7) - aber nicht nur in den beiden mystisch-esoterisch durchwirkten Schlußbänden, sondern auch in der handfesten, ganz nach alten Mustern gestalteten, von Aktionen überquellenden Abenteuerhandlung am Tigris, in Bagdad und am Birs Nimrud (= Teile von XXVI sowie XXVII Kap. 1 bis 5); insofern ist hier eine 'Verfeinerung' der Reiseerzählung mit 'gewissem Symbolcharakter' im Sinne der vom Alterswerk her für Assil Ben Rih aufgestellten Merkmale (vgl. Anm. 7) nicht erkennbar. Anders verhält es sich freilich in Am Jenseits (XXV), einer nach den Bänden XXVI und XXVII geschriebenen Erzählung.
18Gerade aus etwaigen außerehelichen Beziehungen Emmas, die von Pauline Münchmeyer gedeckt und/oder gefördert wurden und dieser somit eine starke Handhabe lieferten, ließe Emmas Haltung sich leicht erklären. Zu dem Verdacht, Emma habe im Jahre 1892 Liebschaften unterhalten, vgl. die wenn auch schonende Darstellung bei Fritz Maschke: Karl May und Emma Pollmer. Die Geschichte einer Ehe. Bamberg 1973, S. 51.
19Karl May: An die 4. Strafkammer des Königl. Landgerichtes III in Berlin. Prozeßschriften, Bd. 3, hg. v. Roland Schmid. Bamberg 1982, S. 71. Ähnlich bei Karl May: Frau Pollmer, eine psychologische Studie [Anm. 11], S. 862.
20Fritz Maschke: Karl May und Emma Pollmer [Anm. 18], S. 45-52.
21Vgl. Karl May: Scheba et Thar. In: Christus oder Muhammed. Marienkalendergeschichten von Karl May. KMG-Reprint. Hamburg 1979, S. 105-120 (S. 105). Vgl. Der Kys-Kaptschiji (ebd., S. 172-184) vom Frühjahr 1895, worin Halef ohne weiteren Kommentar als Scheik eingeführt wird.
22Laut Zeugnis Klara Mays, die in diesem Punkt kaum Anlaß zu Unwahrheiten hatte, kannte sie Karl May seit 1888. Vgl. Klara May: Mit Karl May durch Amerika. Radebeul 1931, S. 180. Diesen bedeutsamen Hinweis verdanke ich Klaus Hoffmann, Radebeul.
23Karl May: Mein Leben und Streben. Reprint der Erstausgabe v. 1910. Hildesheim, New York 1975, S. 438, Anm. 254 (Hainer Plaul).
24Fritz Maschke: Bausteine zur Klara-May-Biographie. In: KMJb 1978, S. 247-273 (S. 256). Auch: Genealogische Tafel 'Beibler' in: Karl May: Mein Leben und Streben [Anm. 23].
25Wie Anm. 23.
26Fritz Maschke: Karl May und Emma Pollmer [Anm. 18], S. 54.
27Karl Mays diesbezüglich betuliche, anderslautende Darstellung in An die 4. Strafkammer (Anm. 19, S. 72) ist erklärlich, weil sie für das Gericht bestimmt war und er selbstverständlich jede Bekundung einer heimlichen oder offenen (einseitigen oder beiderseitigen) Zuneigung vor Plöhns Tode (1901) peinlich vermeiden mußte.
28Fritz Maschke: Bausteine zur Klara-May-Biographie [Anm. 24], S. 257. Da 1891/92 die Trilogie Die Felsenburg/Krüger Bei/Die Jagd


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auf den Millionendieb entstand, erlaubt die zu dieser Zeit bereits bestehende enge persönliche Freundschaft Karl May/Klara Plöhn zumindest teilweise eine neue Betrachtung der in den genannten Erzählungen auftauchenden 'Martha-Vogel-Romanze', d.i. die hart an einer konsequenten Liebesaffäre vorbeigehende Bekanntschaft des "Dres'ner Doktor" (XXI 233) alias Old Shatterhand mit der ihn umschwärmenden Martha. Dieses junge Mädchen heiratet in der Erzählung ausgerechnet einen sogenannten 'Ölprinzen' (!), dessen freundschaftliche Beziehung zu dem Ich-Erzähler wegen Martha zerbricht. Die Handlungsführung zeigt aber, daß May, soweit er halbbewußt/unbewußt Klara und Richard Plöhn im Sinne hatte, seinen möglichen Traumphantasien beharrlich auswich. In diesem Zusammenhang kann auch die Bedeutung der 1893 geschriebenen Geschichte der Begegnung Old Shatterhands mit Winnetous Schwester Nscho-tschi (VII), deren Liebe der weiße Westmann - der Mann mit der jetzt so weißen Weste - entsagen muß, neu gesehen werden.



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