Politisches Engagement und soziale Problematik in den Balkanbänden Karl Mays
Es wird kaum mehr möglich sein, etwas über die Balkanbände von Karl May zu schreiben, ohne dabei die Schrift von Dr. Katalin Kova[`´c]evi[´c] aus Skopje, Makedonien bei Karl May, wenn auch nur flüchtig, zu erwähnen, welche im österreichischen 'Lenau-Forum'1 die Welt erblickte. Diese Schrift, als Kritik an den drei Balkanbänden (In den Schluchten des Balkan, Bd. 4, Durch das Land der Skipetaren, Bd. 5, und Der Schut, Bd. 6) gedacht, ist eigentlich eine massive Attacke gegen das ganze Schaffen von Karl May, gegen seine Persönlichkeit.
Frau Dr. Kova[`´c]evi[´c] hat alles Mögliche gesammelt und angeführt, was negativ für den Gehetzten ausfallen könnte; sie applaudiert jedem Autor, jedem Nachschlagewerk, welche abschätzend von Karl May zu berichten wissen. Ihr sind sowohl Josef Nadler und Arno Schmidt, als auch verschiedene Lexika recht, die sie nach ihrem Geschmack zitiert und deutet; sie schmeichelt Arno Schmidt, indem sie seine überspitzten Phantastereien "geistreich" und "unterhaltsam" findet. Sie vertritt weiter blindlings die nicht überzeugende, auf rein mechanistische Statistik gegründete These, die Dr. Viktor Böhm angeblich herausstellte: Karl May hätte einen "unglaublichen Spürsinn" für politische Aktualitäten und Bestrebungen seiner Zeit gehabt und hätte sie nur aus eigennützigen Gründen in seine Werke eingebaut. Der ganze Unsinn gipfelt aber in der Schlußfolgerung, Karl May hätte durch seine Werke die "Expansionspolitik" der "Herrschenden" unterstützt.
Ohne Zweifel um den negativen Eindruck zu vertiefen, greift Dr. Kova[`´c]evi[´c] auch zu denjenigen Delikten, die von Karl May in seinen frühen Lebensjahren verübt worden waren; in einem nicht unbedeutenden Teil ihrer Arbeit bemüht sie sich zu beweisen, daß der Autor durch die Balkanländer nie gereist ist, ohne einzusehen, daß sie Eulen nach Athen trägt, weil die zwei letzten Probleme schon längst keine Probleme mehr sind und ihre Auslegungen nichts Neues mit sich bringen. Aber Dr. Kova[`´c]evi[´c] tut so, als ob sie den Lesern eine Hiobsbotschaft brächte. Ganz ohne jede Bedeutung für die Zwecke von Frau Dr. Kova[`´c]evi[´c] sind je-
doch [jedoch] ihre Schlußfolgerungen nicht. Wir kommen darauf später noch einmal zurück.
Die eindeutige Tendenz, Karl May und sein Schaffen als unglaubwürdig und unrealistisch auszuweisen, verleitet Dr. Kova[`´c]evi[´c] in ihrem Eifer zu groben Unterlassungen: sie bedient sich falscher Interpretation vieler Stellen, widerspricht sich selbst, begeht faktische Fehler. Um ein vollständiges Bild ihrer Kritik zu haben, braucht man nur einige Beispiele. So z.B. behauptet sie:
1) "Einen ähnlichen Fehlgriff tut er [May], wenn er über einen Konak - Übernachtungsstätte - eines Schäfers schreibt. Einen Konak konnte nur ein Beg, türkischer Gutsbesitzer, unterhalten und keineswegs ein Schäfer." Im Band Der Schut steht aber nicht, daß der Schäfer den Konak unterhält, sondern der Türke, der ihm gegenüber wohnt. Ein jeder wird sich davon überzeugen, wenn er die entsprechende Stelle liest.2
2) "[...] in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, also zur Zeit der fiktiven Reisen Mays [...]". Die fiktiven Reisen Mays durch die Balkanhalbinsel fallen in die siebziger Jahre, was schon aus der Bemerkung auf Seite 4 des 4. bis 6. Bandes (Ausg. Bamberg) ersichtlich ist.3 Diese Verfälschung ist nicht belanglos, weil darauf der Gedanke folgt, daß "[...] in den achtziger Jahren [...] ein junges makedonisches Bürgertum im Begriff war, sich zu entfalten und daß diese Ansätze deutlich bemerkbar waren". Es handelt sich nämlich für die Autorin darum, daß Karl May diese "Ansätze" bemerken und darstellen sollte.
3) "Aber die westlichen Ausländer, zum Beispiel Franzosen und Engländer, die er manchmal auf seiner Reise trifft, erfahren ebenfalls keine bessere Schilderung und Charakterisierung als die Balkanbewohner." Auf dieser Reise trifft Kara Ben Nemsi den bekannten schrulligen Lord, dessen Gestalt ein Vergnügen für alle Leser ist. Daß Frau Kova[`´c]evi[´c] den Mayschen Humor völlig mißversteht, davon wird ebenfalls später die Rede sein. Hier die Berichtigung: der Franzose Galingré und seine ganze Familie sind ausnahmslos positive, ja 'leidende' Helden und kein komischer Zug ist ihnen eigen. Die Behauptung von Dr. Kova[`´c]evi[´c] ist einfach aus der Luft gegriffen.
So kann es Schritt für Schritt und Seite auf Seite weitergehen. Aber das ist nicht unsere Aufgabe. Daß Frau Dr. Kova[`´c]evi[´c] an die Werke von Karl May Anforderungen stellt wie an geographische, historische, ethnographische, etymologische und soziolo-
gische [soziologische] Fachbücher bzw. Nachschlagewerke, sei nur kurz erwähnt.
Die drei Balkanbände sind Abenteuer- und Reiseerzählungen, ganz gleich, ob diese Reise wirklich unternommen wurde oder nicht. Sie haben aber nie (kein Abenteuerroman kann ihn haben) den Anspruch auf ethnographisch-geographische Vollständigkeit gehabt. Zu diesem Zweck wird die einschlägige Fachliteratur herausgegeben. Diese Romane erheben auch nicht den Anspruch, eine Sezierung der damaligen Gesellschaft darzustellen. Dies alles geht über Aufgaben und Form eines Abenteuerromans hinaus. Der Abenteuerroman hat seine eigenen Gesetze und muß vor allem dem Gesetz Nr. 1 Genüge tun: er muß spannende Handlung und atemberaubende Effekte dem Leser bieten. Weiter soll die gute Abenteuerliteratur die Wirklichkeit wahrheitsgetreu schildern, sich in beschränktem Maße mit den sozialen Problemen der Zeit auseinandersetzen (soweit der Rahmen der Gattung es zuläßt). Festzustellen, inwieweit und wie dies Karl May in seinen Balkanbänden zu tun vermochte, ist das eigentliche Ziel dieser Arbeit, und es wird aus den folgenden Beispielen ersichtlich.
Alle Abenteuer-(Reise-)romane von Karl May sind mehr als reine, eigentliche (im trivialen Sinn) Abenteuerromane. Es ist hier nicht sein Alterswerk gemeint, wo der Autor sich zu einem Symboliker von besonderer Bedeutung und Reife entwickelte. Die meisten seiner Romane aus der zweiten und dritten Schaffensperiode sind mehr oder weniger auf zwei Ebenen gebaut und von Allegorien und spezifischer Doppelsinnigkeit durchflochten, was seinen Werken eine besondere Stellung in der entsprechenden literarischen Gattung einräumt.
Warum verlegt der Autor die Handlung in den meisten und besten seiner Romane in fremde, entlegene Gegenden und Länder? Bedeutet das Träumen oder Fliehen? Dazu sind schon mehrere Meinungen geäußert worden4, aber wir bezwecken hier keine Erörterung dieses interessanten Themas. Es mag auch wahr sein, daß May für sich selbst und somit auch für seine Leser ein sicheres Refugium suchte, wo er bzw. der Leser sich vor der kapitalistischen Lebensweise, Ausbeutung und Gesetzgebung, vor der schnellen technischen Entwicklung, die das Gleichgewicht in der Natur bedrohte, geborgen fühlte. Diese oder eine andere Begründung kann nichts an der Tatsache ändern, daß der Schriftsteller allzu oft bei der Darstellung der Zustände in fernen exotischen Ländern, im Orient, das Exotische nur als Folie, als Requi-
sit [Requisit], benutzte, um eigentlich rein deutsche Verhältnisse, Begebenheiten, Figuren in verschlüsselter Form zu zeigen. Es ist uns aus der Geschichte bekannt, daß nach der Vereinigung Deutschlands 'von oben' im Jahre 1871 die Preußen die erste Geige im neuen Bundesstaat spielen wollten und den übrigen Provinzen ihre berühmte preußische Ordnung aufzwangen. Karl May war keineswegs davon begeistert. Als überzeugter Demokrat und Pazifist konnte er die preußische Ordnung nicht bejahen und er kritisierte sie in seinen Werken gelegentlich. Das findet in seinem Roman Das Waldröschen ('Geierschnabel'-Episode), in der Erzählung Ein Fang (Bd. 73) und anderswo einen unverschleierten Ausdruck.
In den Balkanländern aber ist in der Gestalt eines türkischen Kiaja oder Bei oft ein preußischer Beamter nicht zu verkennen. Ein Zaptije, faul und dumm, ist ein preußischer (oder sächsischer) Polizist in orientalischer Verkleidung. Die Korruption, die Bestechlichkeit, die Brutalität, die May durch die Staatsgewalt damals erfuhr, finden eine hyperbolisierte, meisterhaft verschleierte Widerspiegelung in den von ihm geschilderten Verhältnissen im osmanischen Reich, wo Bakschisch und Stock eine hervorragende Rolle spielen.
Die Steuereinnehmer und die Kriegslieferanten waren nicht nur für die Bevölkerung auf der Balkanhalbinsel, sondern auch für das deutsche Volk eine Plage. Deshalb ist einer der verstocktesten Schufte in Mays Balkanbänden ein Steuereinnehmer (Manach el Barscha), der lange Zeit die Bevölkerung aussaugte und endlich eine gräßliche Strafe fand. Was die Kriegslieferanten betrifft, lesen wir: "Ah, ein Kriegslieferant! Ich dachte an die armen, halbnackten und ausgehungerten Soldaten und an die Geldsäcke, die diese Herren Lieferanten sich während des Krieges gefüllt hatten."5 Die Korruption der Behörde wird auch sehr oft angeprangert: "Die Beamten des Großherrn müssen und sollen uns dienen, ohne Geschenke zu fordern [...]", wobei natürlich May nicht nur die Beamten des türkischen Sultans gemeint hat.6
Karl May hatte ein offenes Auge für die politischen Entwicklungen seiner Epoche. Wie richtig und scharf er die politische Situation auf der Balkanhalbinsel in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einschätzte, können wir z.B. aus einem Satze eines Aufsatzes entnehmen: "Schon hörte man Marokko als das afrikanische Bulgarien bezeichnen [...]".7 Der Schriftsteller nimmt ge-
genüber [gegenüber] den politisch-sozialen Verhältnissen auf dem türkischen Balkan eine ausgesprochen kritische Stellung ein. Er erkennt den Sultan und die türkischen Machthaber eindeutig als die Schuldigen an der beklagenswerten Lage der Bevölkerung, unabhängig von ihrer nationalen Zugehörigkeit. Dies sei durch die Worte des armen türkischen Bauern Jafiz bekräftigt: "Sei still! Wir wären wohl nicht so arm, aber die Hohe Pforte, die Hohe Pforte! Die steht stets offen für das, was hineinfließen soll."8 Der Streit über Politik mit Schimin, dem Schmied, endet mit den Worten des Autors: "Du verwechselst Religion mit Politik. Du suchst die Ursachen eurer Krankheit außerhalb des Staatskörpers, in welchem der Krankheitskeim doch bereits von Anfang lag."9
Obwohl indirekt, nimmt Karl May eindeutig Stellung für die unterjochten Nationalitäten auf dem türkischen Balkan und für deren nationale Unabhängigkeit, indem er die Haltlosigkeit der dortigen Zustände unterstreicht: "[...] berichten die Zeitungen fast ununterbrochen von Aufständen, Überfällen, Mordbrennereien und anderen Ereignissen, welche auf die Haltlosigkeit der dortigen Zustände zurückzuführen sind."10 (Übrigens ist dieses Zitat bei Dr. Kova[`´c]evi[´c] mit den Worten eingeführt: "Anfangs hielt ich Stambul für den Hauptsitz dieser Verbrecher [...]. Dann lernte ich anders denken." [was in dem entsprechenden Originalband nicht der Fall ist, sondern von den Bearbeitern hinzugefügt wurde] Wie ist aber der Befreiungskampf der Balkanvölker gegen das osmanische Joch dargestellt?
Im 19. Jahrhundert bestehen und kreuzen sich verschiedene nationale und soziale Interessen auf der Balkanhalbinsel. Griechen, Bulgaren und Serben kämpfen für ihre nationale Unabhängigkeit. Diese Befreiungsbewegung entflammt sich und gipfelt in einigen blutigen Aufständen, die früher oder später zu der nationalen Unabhängigkeit der einzelnen Balkanvölker führen. Zur Zeit der fiktiven May-Reise durch die Balkanhalbinsel entfaltet sich der Kampf der Bulgaren gegen das osmanische Joch. Freischaren durchkreuzen den Balkan, der größte bulgarische Dichter Christo Botew wird in einem Gefecht von den Türken erschossen (1876), und der bedeutendste bulgarische Revolutionär dieser Epoche, Wassil Lewski, wird von den Türken 1873 in Sofia aufgehängt, nachdem er Dutzende von geheimen Revolutionskomitees in ganz Bulgarien gegründet hat. - Es ist nicht so schwer, festzustellen, daß Karl May dem nationalen Befreiungskampf der Bevölkerung auf dem Balkan in seinen Romanen wenig Beachtung schenkte,
und man kann sagen, daß nur im diesem Punkt Dr. Kova[`´c]evi[´c] recht behält.
Eigentlich wäre es von Interesse zu erforschen, warum Karl May diesen gerechten Kampf nur am Rande vermerkt und sein Wesen völlig verkennt. Nachdem er die Notwendigkeit von politisch-sozialen Veränderungen auf dem türkischen Balkan erkannte, erwähnt er nur einmal ausdrücklich das Ziel des Kampfes 'der Unzufriedenen', 'der in die Berge Geflohenen': "Ein Verschwörer ist ein Mann, der dem Großherrn nicht gehorchen, sondern ein bulgarisches Reich mit einem eigenen, unabhängigen König haben will."11 Aber das ist ja auch alles. Wir erfahren später weder von dem Befreiungskampf der Bulgaren, noch von dem der anderen Balkanvölker etwas Genaueres. Mays Helden verfolgen die Spur der Räuberbande und die Schlinge zieht sich um den Schut, einen kriminellen Verbrecher, immer enger.
Nach den Quellen des Autors soll die Zahl der selbstlosen Freiheitskämpfer "verschwindend klein" gewesen sein12 im Vergleich zu der Zahl derer, die sich an fremdem Gut bereichern wollten. Ähnliche Aussagen zeugen nur davon, daß Karl May zur damaligen Zeit über das Wesen und die Entwicklung des Nationalkampfes der Balkanbevölkerung falsch unterrichtet war, daß er über längst überholte Vorstellungen, über Begriffe aus älteren Zeitperioden verfügte, wo (um nur ein Beispiel zu nennen) das Wort 'Heiducke', oder 'Heidute', nur die Bedeutung von 'Räuber, Halsabschneider' im Bulgarischen besaß. Diese zwei Varianten eines und desselben Wortes (ungar.-türk.) 'haydut' weisen im Bulgarischen eine Entwicklung und Differenzierung in der Bedeutung mit der Zeit auf. In der Zeitperiode der Mayschen Reise hat das Wort 'Heiducke' die Bedeutung von 'Räuber', aber das Wort 'Heidute' (pejorativ 'Räuber') bezeichnet schon auch den Freiheitskämpfer gegen das osmanische Joch, hat auch heutzutage diese Bedeutung und ist zum festen historischen Begriff geworden. Karl May scheint mit der Entwicklung und Abwandlung der Bedeutungen des Wortes 'haydut' im Bulgarischen nicht vertraut gewesen zu sein. Es kommt bei ihm auch nicht vor, höchstens im Kompositum 'Heiduckenszakan' (Bd. 4, S. 458).
Es ist aber gar nicht ausgeschlossen, daß Karl May bei der Zeichnung eines makabren Bildes vom 'räuberischen Wesen' auf dem Balkan an die Horden von Kardschalii und Daalii (plündernde Türken und Balkanchristen, die zum Islam übergetreten waren) gedacht hat, die im 18. und 19. Jahrhundert ungestört und
unbestraft die arme Balkanbevölkerung ausplünderten, terrorisierten, mordeten. Sie hatten aber mit den Heiduten gar nichts zu tun. Im Gegenteil, man kann mit Recht behaupten, daß diese Banden das Entstehen von Freischaren förderten und die Bevölkerung zum Selbstschutz zwangen.
Es wäre wohl möglich, noch mehr Licht auf diese interessante Frage zu bringen, wenn man sich mit den Karl-May-Archiven gründlich bekannt macht. Leider hatten wir bis heute keine Gelegenheit, solche Untersuchungen anzustellen, aber eins steht fest: aus verschiedenen Gründen war Karl May falsch oder ungenügend über die nationalen Befreiungskämpfe der Balkanbevölkerung unterrichtet. Denn wenn das nicht der Fall gewesen wäre, so hätte May bestimmt diesen gerechten Kampf weit und breit in seine Abenteuerromane aufgenommen, geschildert und leidenschaftlich dafür Partei ergriffen, wie er ja auch die Kämpfe für nationale Unabhängigkeit der arabischen Völker, der Mexikaner, der Indianer und der Chinesen (Boxeraufstand) begrüßte und unterstützte. Bedenken wir noch, daß der bewaffnete Kampf für nationale Befreiung eine heilige Ausnahme in den absolut pazifistischen Ansichten des Schriftstellers bildete. Wir haben schon erwähnt, daß May die politische und wirtschaftliche Rückständigkeit der türkischen Balkanprovinzen anprangert, indem er die Schuld vor allem den käuflichen Beamten der Hohen Pforte zuschreibt. Die grausame Ausbeutung der armen Bevölkerung wird oft direkt oder indirekt aufgedeckt.13 Das heuchlerische Wesen der parasitären Geistlichkeit verschlimmert noch mehr das soziale Übel; sie nutzt gewissenlos Aberglaube und Unwissenheit der Bevölkerung aus, um sich selber zu bereichern.14 Diese unverkennbare Kritik an den sozial-politischen Mißständen verleiht den Mayschen Werken besondere Bedeutung, ja besonderen Wert, und nur dieser Umstand allein ist ausreichend, daß wir Karl May über seinen 'ewigen Rivalen' auf bulgarischem Boden stellen, den englischen Kapitän Mayne Reid, welcher den Bestseller The headless horseman schrieb, dem es an jeglicher seriösen Problematik (Rassen- und Sozialproblemen) völlig mangelt.
Man kann aber nicht sagen, daß Karl May einen fest umrissenen, realen Weg für die Abschaffung dieser sozialen Misere sieht. Er geißelte vor allem und ununterbrochen allgemeine menschliche Schwächen und Laster, die seiner Meinung nach auf das sozial-politische Leben, ja auf die ganze staatliche Ordnung einen starken Einfluß ausüben können. Er verwarf den bewaffne-
ten [bewaffneten] Kampf als Mittel für die Veränderung und Besserung einer Gesellschaftsordnung, weil er ein überzeugter Pazifist war und jedes Blutvergießen ungern sah. Dafür zeugen zahlreiche Stellen aus seinen Werken. Er vertrat vielmehr die Ansicht, daß die ethische und geistige Erziehung und Umerziehung der Menschen und der feste Glauben an Gott automatisch zu einer idealen Staatsordnung führen würden, zu einer neuen Welt, wo es keine Ausbeutung, keinen Krieg und keinen religiösen Haß mehr geben würde. Daher strebte er die Erziehung und Herausbildung eines neuen Menschen, des 'Edelmenschen' an, der die für alle Mitglieder der Gesellschaft obligatorischen Gesetze einer neuen Moral befolgen sollte. Deshalb wird der Schriftsteller oft ein Moralist genannt. Indem Karl May den Frieden absolut richtig als Hauptvoraussetzung für einen sozialen Fortschritt betrachtete, seinen utopischen Idealen aber nachträumte, verkannte er völlig die relevante Rolle des Klassenkampfes für die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft. Daß seine pazifistischen Ansichten einen Anachronismus darstellten, in einer Epoche, wo der selbstherrliche deutsche Militarismus um jeden Preis mehr 'Raum' erzwingen wollte und mit den Waffen bedrohlich rasselte, brauchen wir kaum hervorzuheben.
Die Relevanz der moralischen Eigenschaften des einzelnen Individuums, die der Schriftsteller bei dem Formen des geistig-moralischen Antlitzes der ganzen Gesellschaft ihnen beimißt, ersehen wir nicht nur aus dem kontinuierlichen, unbarmherzigen Geißeln der menschlichen Laster und Schwächen, sondern auch aus der Art, wie der Autor seine Helden zeichnet und einander gegenüberstellt. Die Kunstmittel und Kunstgriffe, die er dabei anwendet, verdienen auch beachtet zu werden.
In allen seinen Schaffensperioden, in seinem ganzen Werk, bedient sich Karl May der Schwarz-Weiß-Malerei, wodurch seine Gestalten eine starke Polarisation erfahren. Eine richtige Beurteilung von der dauernden Gegenüberstellung schwarz-weiß, positiv-negativ, amoralisch-moralisch und deren Wirkung auf die Leser ist nur dann möglich, wenn man in diesen Kategorien denkt. Jedenfalls hat dieses dauernde Polaritätsverhältnis etwas für sich, nicht nur, weil es der Ideenwelt und der Weltanschauung des Autors entspricht. Diese Konfrontation im Stil seiner Schwarz-Weiß-Manier wird zu einem Kunstmittel von bedeutender Aussagekraft hinaufstilisiert. Wie auch die ganze Welt im Bewußtsein des Schriftstellers in 'Ardistan und Dschinnistan' geteilt ist oder
in seinen Werken das Gute und das Böse den ewigen Kampf austragen, so stehen seine Helden an zwei entgegengesetzten Fronten. Das Mittelfeld wird von einer geringen Zahl belangloser Gestalten besetzt. Als eines der interessantesten künstlerischen Mittel dieser Schwarz-Weiß-Manier, die Karl May benutzt, um seine Helden prägnanter zu charakterisieren, und durch welche vielerorts auch eine feine soziale Differenzierung der Personen erzielt wird, ist eine nicht zu übersehende, für den Schriftsteller so typische 'Übercharakterisierung' der Helden nachzuweisen, die oft auch als eine 'Vorcharakterisierung' bezeichnet werden kann. Es handelt sich hier um eine Art von Allegorie, um eine allegorisch-didaktische Schicht, die in die Darstellung der Realität eingeschoben wird. Diese 'Vorcharakterisierung' geht oft der eigentlichen Gestaltschilderung voraus. So z.B., wenn der Autor negative Gestalten zeichnet, dienen ziemlich alle Gebrauchsgegenstände, Möbel, Kleider oder sogar die Wohnung bzw. das Haus dazu, die Unbeholfenheit, die Borniertheit, Gemeinheit, Unnatur, Heuchelei der Eigentümer bloßzustellen. Dem seelischen Schmutz, den geistigen Gebrechen entsprechen schmutzige, vernachlässigte Kleidung, halbverfallenes Haus, unreine Wohnung, Primitivismus. Karl May geht zu weit in dieser Richtung - sogar bei dem reichen, vermögenden Verbrecher herrscht Mißwirtschaft, Verwahrlosung und Schmutz.
Der reiche Murad Habulam Aga, ein Ausbeuter und Verbrecher, wird schon durch die Beschreibung seines Schlosses als ein negativer Held, als ein Verbündeter des Räuberanführers vorcharakterisiert:
[...] nach dem Eindruck des Gebäudes von der Ferne aus hatte ich ein schloßähnliches Bauwerk erwartet. Aber wie sah es aus! Es war [...] halb verfallen. Die Fensterlücken starrten uns leer entgegen. Das Dach war an vielen Stellen offen. Der Bewurf der Mauer war verschwunden, und längs der Stirnseite lag das Mehl der Ziegelsteine, welche unter dem Einfluß der Witterung sich auflösten.15
Auf Seite 409 lesen wir weiter:
Er machte keineswegs den Eindruck eines reichen Mannes. Sein Turbantuch war alt und schmutzig und sein Kaftan gleichfalls. [...] die Füße nackt und steckten nur in alten, dünnen, abgeschlurften Pantoffeln.
Solche Beispiele kann man in Hülle und Fülle aus allen Werken des Schriftstellers anführen, aber der Kürze wegen begnügen wir uns mit nur noch einem ähnlichen Beispiel. Das Amts- und Wohngebäude des Kodscha Bascha, des Richters von Ostromd-
scha [Ostromdscha], wie auch sein Äußeres sind durch 'den Abglanz' seiner moralischen Eigenschaften gekennzeichnet und weisen ihn als einen korrumpierten, gewissenlosen Menschen aus:
Der Hof war außerordentlich schmutzig. Nur der Teil längs des Hauses war einige Meter breit mit einer Vorrichtung versehen, welche jedenfalls ein Pflaster vorstellen sollte. Doch sah dieses Trottoir grad so aus, als ob es aufgerissen worden sei, um als Material zu einem Barrikadenbau zu dienen. Vor der Türe stand ein alter Lehnstuhl, welchen ein vorweltliches Polsterkissen zierte.16
Der Kodscha Bascha selbst trägt einen Turban, "dessen Tuch vor fünfzig oder noch mehr Jahren einmal weiß gewesen war". Auf diese oder auf ähnliche Weise werden fast alle Vertreter der staatlichen Macht, alle Beamten des Sultans den Lesern vorgestellt. So gibt der Schriftsteller seiner Abneigung gegenüber Polizei und Gerichtsbeamten Ausdruck, die noch von früheren Zeiten herrührt. Aber nicht nur das. Indem er Brutalität, Stupidität, Bestechlichkeit und Grausamkeit der osmanischen Machthaber anprangert, betont er noch einmal den Grund für diese 'Haltlosigkeit der dortigen Zustände' und gibt den Lesern zu denken. Die Tatsache, daß der Richter von Ostromdscha ein Verbündeter der Verbrecherbande ist, erweckt noch weitere Assoziationen: Justiz - Verbrechertum, Machthaber - Räuber. Dieser Aufdeckung, ja Bloßstellung, geht fast immer die soeben beschriebene 'Übercharakterisierung' voraus oder sie begleitet beides.
Die Konfrontierung von Gutem und Bösem, von Faulheit und Arbeitsamkeit, Schmutz und Sauberkeit kommt kraß durch die Parallele Nebatja/Nohuda zum Ausdruck:
Die eine der Frauen war ziemlich gut, wenn auch unsauber gekleidet und besaß eine ansehnliche Körperfülle. [...]. Zu ihren Füßen lagen einige Lappen und ein alter Topf, dessen Henkel abgebrochen war [...] und ihm entquoll [...] eine [...] Masse, deren Aussehen keineswegs appetitlich war. Die andere Frau saß auf einem der Steine. Sie war nur mit einem sehr ärmlichen dunklen Rock bekleidet [...]. Sie sah aber sonst leidlich sauber aus, sauberer noch als die andere, welche sich ihrer Kleidung nach in besseren Verhältnissen zu befinden schien. [...] Das Kind an ihrer Seite war nur in ein baumwollenes Hemd gehüllt, welches gut gewaschen und sogar gebleicht zu sein schien. 17
Die zweite Frau ist eben Nebatja, die blutarme Pflanzensammlerin, eine der schönsten Frauengestalten in den Balkanbänden, eine durchaus positive Gestalt, die Karl May offensichtlich liebevoll schuf. Auch aus den nächsten Beispielen ersehen wir die eindeutige Tendenz der 'Übercharakterisierung' der positiven Helden, allerdings aus dem entgegengesetzten Gesichtspunkt.
Der Ziegelstreicher, der sogar für die damaligen Verhältnisse zu arm war, besitzt eine Hütte, die
hatte nur die Tür- und eine Fensteröffnung, aber einen richtigen Schornstein. Und neben der Türe war eine Ziegelbank errichtet; hinter dem Häuschen befand sich ein kleiner Gemüsegarten, und an denselben schloß sich eine junge Baumpflanzung. Das machte einen guten, freundlichen Eindruck.
Weiter wird die Frau des Ziegelstreichers folgendermaßen vorgestellt:
Auch sie war außerordentlich ärmlich gekleidet, doch sauber, trotz ihrer schmutzigen Arbeit. Rock, Jacke und Schürze, vielfach zerrissen, waren fleißig geflickt. [...] Dort [in der Wohnstube] stand [...] ein richtiger Ofen, aus Ziegelsteinen aufgeführt. Dann gab es einen Tisch, eine Bank und einige Schemel, [...] blitzblank gescheuert. 18
Es gibt keine einzige positive Gestalt in den Balkanbänden, die keinen sauberen Haushalt führt, oder nicht solid, ordentlich und reinlich lebt, wenn das auch ein armer Schlucker aus dem Volke ist! Karl May schuf eine ganze Reihe von solchen Figuren, Vertretern der ärmsten Volksschichten verschiedener Nationalitäten, Trägern der besten menschlichen Tugenden, die wie Edelsteine im düstern Milieu des türkischen Balkans jener Epoche erglänzen. Sie leben gar nicht als 'Troglodyten' (um mit Kova[`´c]evi[´c] zu sprechen), obwohl sie blutarm sind. Denken wir vor allem an Nebatja, an den armen türkischen Bauern Jafiz, der sein einziges Besitztum, das Rosenöl verschenkt, denken wir an Schimin, den Schmied, an den Ziegelstreicher, an den Schäfer und an seine ganze Familie, an die Bulgaren Anka und Janik und an viele andere. Aus Platzmangel können wir uns nicht erlauben, weitere Beispiele anzuführen, aber es ist wohl auch überflüssig.
Die oben erwähnte Doppelsinnigkeit und Doppelschichtigkeit bei der Schilderung der Verhältnisse und die 'Übercharakterisierung' bei der Zeichnung der Gestalten ermöglichen eine feine soziale Differenzierung der Personen; diejenigen des schwarzen und des weißen Pols werden meisterhaft auseinandergehalten, lange bevor sie zum Handeln übergehen. Nicht nur das. Dadurch erreicht Karl May, daß er einmal, wenigstens in diesen Fällen, von seinem belehrend-didaktischen Ton lassen kann, was durchaus als Positivum zu bewerten ist. Diese künstlerischen Mittel des Autors, die in den Balkanbänden festzustellen sind, entwickeln und vertiefen sich mit der Zeit und gehen in eine reiche Allegoriewelt
über, in eine verschlüsselte, symbolschwangere Ausdrucksweise seines Spätwerkes.
Ein anderes beliebtes Kunst- und Stilmittel des Schriftstellers ist der Humor, der eine zentrale und besondere Stelle in seiner künstlerischen Werkstätte einnimmt, wie auch die eng damit verbundene Hyperbel (sprachliche Übertreibung). Dabei muß unterstrichen werden, daß Karl May sich über Vertreter verschiedener Nationalitäten lustig macht, über Reiche und Arme, über Generäle, Polizisten, Könige und Bettler. Es ist so, weil der Schriftsteller in Humor und Satire eine mächtige Waffe zur Erziehung und Besserung der Menschen sieht. Der frische, immer wiederkehrende, sprudelnde Humor verleiht seinem Schaffen ein eigentümliches Gepräge, wird zum untrennbaren Bestandteil seiner künstlerischen Palette. Dem Mayschen Humor kommt (außer der Funktion, die Leser zu amüsieren) auch eine feine differenzierende Funktion zu, die für die Polarisation und Abgrenzung der einzelnen Gestalten, wie auch ganzer Gruppen von Personen, eine konstruktive Rolle spielt. Dieser Humor kann uns als Kriterium, als Indiz für die Stellungnahme des Schriftstellers zur Wirklichkeit, zur gegebenen Person, sogar zu den sozial-politischen Verhältnissen in einem Lande dienen. Der Humor bei Karl May weist ein reiches Spektrum auf - von gutmütigem, wohlwollendem Humor über die geißelnde Ironie bis zum beißenden Spott. Diese Nuancen des Komischen erfüllen bei Karl May bestimmte Funktionen. Nicht an letzter Stelle kommt ihnen die Funktion der persönlichen und sozialen Charakteristik zu.
Einerseits steht der Tyrann, der unverbesserliche, verstockte Verbrecher, der Gottlose, jedem Humor fern. Dieses Faktum hängt offensichtlich mit der Mayschen Auffassung zusammen, daß eine solche 'hoffnungslos verlorene Seele' kein Lachen verursachen darf und kann, ja unter keinen Umständen komisch wirken soll, daß ihre Existenz düster und traurig ist, wie auch ihr Ende (der Schut, die beiden Aladschi, der Mübarek, Barud el Amasat, Hamd el Amasat u.a.). Andererseits ist der reiche Geizhals, der Pharisäer, der bornierte und bestechliche Beamte des Sultans, der eingebildete 'Gelehrte', der ungebildete Pope und die herrschsüchtige Frau meistens der Ironie und dem Spott des Schriftstellers ausgesetzt (der Kodscha Bascha, die Polizisten, Habulam Aga, der Bäcker Boschak, der 'Apotheker', die 'Erdbeere', Nohuda u.a.). Der gutmütige, von Vitalität strotzende Humor ist ein 'Privileg' nur für positive Gestalten, für Personen,
die ihrem gesamten Verhalten nach als positive Helden wirken (Hadschi Halef, der englische Lord, der Handschi Ilija u.a.). Der soziale Charakter des Komischen gewinnt bei Karl May besonders klare Umrisse. Nehmen wir als Beispiel das zweite Phänomen des Lächerlichen19 - das Kostüm, die Kleidung. Die karierten Kleider des Lords wirken lächerlich; er hat viel Geld, aber er kleidet sich nach seinem eigentümlichen Geschmack. Seine Kleidung steht sozusagen im Einklang mit seinen schrulligen Ideen. Das Komische entsteht hier aus dem Bestreben des Unnatürlichen, des Extremen, sich als natürlich und selbstverständlich zu geben. Die Kleider des Kodscha Bascha wirken komisch, weil sie seiner spezialen Stellung und seinem Reichtum nicht entsprechen. Aber sie entsprechen seiner Unmoral.
Die Kleidung von Nohuda und Junak wirkt komisch durch den unerhörten Schmutz und die groteske Form. Beide sind ja negative Gestalten. Eine ärmliche Kleidung wirkt bei Karl May aber nur dann komisch, wenn sie die künstlerische Aufgabe erfüllt, die gegebene Gestalt bloßzustellen und ihre Laster und Untugenden aufzudecken. Falls der Grund für diese ärmliche Kleidung nur die Armut infolge der politisch-sozialen Zustände ist, dann wirkt diese Kleidung nie komisch, sondern im Gegenteil - tragisch. Dies veranschaulicht noch einmal, wie nah und eng die Kategorien des Komischen und des Tragischen verbunden sind.
Diese tiefe soziale Beinhaltung des Komischen bei Karl May kann man in der Zeichnung fast aller positiven und negativen Helden beobachten. Der Humor und die Satire bedeuten für May vor allem: - Kritik. Der Maysche Humor kritisiert, ohne das Grundwesen der Erscheinung zu verwerfen; die Satire ist im Gegenteil vernichtend - sie verwirft im Grunde das Wesen des kritisierten Objektes. Hier sind die Worte des sowjetischen Wissenschaftlers Juri Borew am richtigen Platz:
Wahres Lachen [...] ist freudig und hell, denn es drückt die moralische Kraft alles Guten, Vernünftigen und Schönen aus und entlarvt die ganze Leere, Nutzlosigkeit und Unmenschlichkeit alles Bösen, Unvernünftigen, Untergehenden und Häßlichen. Wahres Lachen deckt die Widersprüche auf und ist eine Art der Kritik, ein Mittel, um die Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf die negativen Züge, auf die Schattenseiten zu lenken, auf Erscheinungen, welche Verurteilung verdienen oder der Veränderung bedürfen. 20
Diese Ausführungen von J. Borew über die Wichtigkeit der Funktionen des Lachens, des Komischen, finden bei Karl May überall Bestätigung.
Karl May macht von fast allen Phänomenen des Komischen Gebrauch: Körper (wo die Nase bekanntlich eine hervorragende Rolle spielt), Kostüm, Charakter, Antithese, Mißverständnis, Zweideutigkeit u.a. Das Komische entspringt bei May des öfteren aus der Opposition des Alten zum Neuen (auch des Aberglaubens zur Wissenschaft). Das Neue sucht Wege, um sich durchsetzen zu können, aber das Alte wehrt sich, ja manchmal versucht es sich für das Neue auszugeben; komisch wirkt auch das Extreme, wenn es sich als etwas Selbstverständliches benimmt (denken wir an den Lord). Beliebt bei Karl May ist die Komik der Charaktere, auch die Wortkomik, die Situationskomik und die Komik in den Dialogen, die manchmal unbegrenzte Möglichkeiten aufweist, obwohl sie auf immer wiederkehrende Effekte angewiesen ist. Oft wendet der Autor verschiedene Phänomene des Komischen, oder verschiedene Arten der Komik in der Schilderung einer und derselben Person an; dann kreuzen sie sich, beeinflussen sich gegenseitig und führen zu einmaligen Ergebnissen. Wir sehen kein besseres Beispiel als die Gestalt des kleinen Hadschi Halef. Er wirkt des öfteren auch deshalb komisch, weil hier der Schriftsteller den menschlichen Anspruch auf Anerkennung, Größe und Ruhm den bescheidenen Möglichkeiten des Helden gegenüberstellt. Wenn wir über Halef lachen, dann lachen wir über die individuellen Mängel und Eigentümlichkeiten seines Charakters, aber wenn wir mit Halef lachen, dann lachen wir oft über uns selbst, über allgemeine menschliche Schwächen und Laster.
Allen Lesern von Karl May ist es bekannt, wie lieb er seinen Helden Halef hat. Die pittoreske Gestalt Halefs ist der krasseste Beweis für die Hoffnungen, die der Autor auf den Humor setzt. Seine merkwürdige Zuneigung zum Humor wurzelt tief in der Liebe zu den Menschen, welche Liebe auch als tragende Idee seines Werks fungiert. Lassen wir den berühmten Amerikaner Mark Twain zu Wort kommen:
Nur jener Humor wird leben, der auf dem Boden der Wahrheit des Lebens entstand. Man kann den Leser zum Lachen bringen, aber das ist eine leere Beschäftigung, wenn das Werk nicht in der Liebe zum Menschen wurzelt. 21
Unter den wichtigsten künstlerischen Mitteln, die den Mayschen Humor prägen, wären noch die Hyperbel und die Groteske zu erwähnen. Beide finden eine Rechtfertigung für ihre Existenz in den schöpferischen Zielen, die der Schriftsteller verfolgt. Das Ziel heiligt die künstlerischen Mittel! Es stimmt wohl, daß
manchmal der Autor bis zum Karikieren einiger Gestalten vorgeht, oder (um mit Dr. Kova[`´c]evi[´c] zu sprechen) 'extrem drollige und groteske Bilder entwirft', aber das bedeutet gar nicht, daß er der Wahrheit, dem Realismus, den Rücken kehrt. Der unglaubliche Schmutz und die beispiellose Mißwirtschaft im Gasthaus des Armeniers, das Äußere vom dicken Boschak und die grotesk wirkende Lebensweise seiner Familie, wie auch der wahre "Höllendunst" in der "Wohnung" von Junak22, gehören zu den eindrucksvollsten Beispielen und geben uns Aufschluß über Aufgaben und Zweck der oben angeführten künstlerischen Mittel. Die animalischen Lebensverhältnisse dieser Personen hängen keineswegs mit der Armut oder mit der Lebensweise einer bestimmten Nationalität zusammen. Es ist vielmehr ein ominöses symbolisches Zeichen; der Autor bereitet den Leser darauf vor, daß er einen Verbrecher vor sich hat, einen unwürdigen Menschen, dessen Lebensweise und Haushalt mit seinen unmoralischen Eigenschaften in Einklang stehen. Darüber haben wir schon einige Gedanken geäußert und wir wollen hier nur betonen, daß Karl May auch in diesem Fall seinem Ethos und seiner Arbeitsweise treu bleibt. Daß er auch die Hyperbel und die Groteske zu künstlerischen Mitteln mit großer Aussagekraft und sozial-kritischer Funktion hinaufstilisiert, ist eine hervorragende Leistung seinerseits. Und das Zusammenleben von Realität und Groteske oder Hyperbel ist keineswegs so absurd, wie es einem erscheinen mag. Die Realität der Groteske wird eben durch die Überschreitung der Grenze des Wahrscheinlichen bedingt, vorausgesetzt, daß diese Überschreitung von der Logik der darzustellenden Charaktere und Umstände gefordert wird, ja wenn die Verletzung der äußeren Wahrscheinlichkeit zu der Aufdeckung von typischen Erscheinungen beiträgt. Eben darum handelt es sich bei Karl May.
Aber Dr. Kova[`´c]evi[´c] weiß besser Bescheid. Sie bringt alles unter einen Nenner, und was für einen! Für Karl May seien die Türken als Nation (?!) "korrumpiert, habgierig und borniert", "die Einheimischen [...] leben wie Troglodyten" [...].["; IR] Die Balkanbücher werden "stellenweise zu Pamphleten". Bei dieser Kurzsichtigkeit und bei diesem Unverständnis kann man nur staunen. Man kann sich vergebens fragen, wie ist es nur möglich, einen Schriftsteller so zu verkennen und sein Schaffen so zu verzerren? Wenn man sich ähnlicher Methoden der literarischen Analyse bedient, dann kann man annehmen, daß das Geheimnis
für den unbestrittenen Erfolg von Karl May für immer ein Geheimnis bleibt. Vor allem für Dr. Kova[`´c]evi[´c].
Zum Schluß dieser Arbeit scheint uns die Frage angebracht: beruht die negative Stellung von Dr. Kova[`´c]evi[´c] Karl May gegenüber nur auf einer Kurzsichtigkeit? Wo ist der Schlüssel zu dieser augenfälligen Gereiztheit, die aus jeder Zeile ihrer Schrift herauszuspüren ist? Welcher Provenienz mag der Antrieb zum Verfassen dieser Schrift und zu den offensichtlich absurden Schlußfolgerungen sein? Denn heutzutage findet man kaum mehr einen solchen Kreuzzug gegen den in der ganzen Welt anerkannten Schriftsteller.
In der Schrift Makedonien bei Karl May lesen wir hin und wieder den Vorwurf, Karl May habe keine richtige Vorstellung von der Nationalitätenfrage und der Nationalitätenverbreitung auf der Balkanhalbinsel. Diese kritischen Bemerkungen gipfeln in der Aussage: "Den Terminus 'Makedonien' oder 'Makedonier' erwähnt May nie." Der Autorin gefällt offensichtlich nicht, daß überall, wo ihres Erachtens 'Makedonier' dargestellt werden sollten, nur Bulgaren, Montenegriner, Skipetaren oder Serben erscheinen. Ihr gefällt wohl nicht, daß Karl May von den glorreichen Jahren des bulgarischen Reiches unter dem Zaren Simeon berichtet, wo Wissenschaft, Kultur und Staatswesen in Bulgarien zur Blüte kamen, und das ausgerechnet in dem Augenblick, als sich seine Helden in der Nähe von Prisren befinden.23 Aus denselben Gründen hat Frau Kova[`´c]evi[´c] auch an einer der schönsten Frauengestalten in den Balkanbänden, dem bulgarischen Mädchen Anka, etwas auszusetzen. Sie findet die Schilderung ihrer Tracht "auf keinen Fall zutreffend", nur weil die Tracht als rot bezeichnet wurde. Es ist wohl richtig, daß die Trachten der Balkanerinnen oft bunt sind, aber wenn Dr. Kova[`´c]evi[´c] einmal das Buch von Maria Welewa, Bulgarische Volkstrachten und Stickereien, Sofia 1950, öffnet, findet sie bestimmt die Stelle: "[...] die rote Farbe fand die größte Verbreitung in den Stoffen und Stickereien" (S. 13ff.). Auf derselben Seite wird eine Volkstracht beschrieben, die "in Flammen aufgeht", weil sie gänzlich rot aussieht. Wenn sie sich mit den Bildern aus dem Volksmuseum für 'Bulgarische Volkstrachten' in Skopje bekannt macht, findet sie bestimmt das Bild Junge Frau aus Dorf Smilewo bei Bitolja, wo das junge Geschöpf ganz in Rot gekleidet ist.
Es will uns erscheinen, daß die einzige 'Schuld' von Karl May darin besteht, daß er vor etwa 100 Jahren die bulgarische ethni-
sche [ethnische] Gruppe, die in der türkischen Provinz Makedonien seßhaft war und eine bulgarische Mundart sprach, 'nur' als Bulgaren bezeichnete, ohne zu ahnen, ohne voraussehen zu können, wie er sich ein Jahrhundert später den Zorn von Dr. Kova[`´c]evi[´c] zuziehen würde. Man kann nur unumwunden sagen, daß die Triebfeder der Kritik an Karl May, seitens Dr. Kova[`´c]evi[´c], purer, unbegründeter Chauvinismus ist. Daß dem so ist, wird von ihrer Ausdrucksweise nur bestätigt. In ihrem Eifer konstruiert sie Sätze, die nur allgemeine Verwunderung hervorrufen können: "Laut May ist die Bevölkerung des türkischen Balkans, das heißt Makedoniens, hauptsächlich albanischer Nationalität" (was überhaupt nicht stimmt), und weiter: "Karl May ging es nicht darum, die Verhältnisse auf dem Balkan, das heißt in Makedonien, objektiv darzustellen, sondern [...]". Das alles klingt genauso, als ob Makedonien der Kern der Balkanhalbinsel wäre. Daß Dr. Kova[`´c]evi[´c] jede internationale Rücksicht und Toleranz abgeht, lehrt uns der einmalige Satz: "Mildernd [für Karl May?!] wirkt der Umstand, daß May den Häuptling der Räuberbanden auf dem Balkan als einen Perser darstellt [...]". Man kann sich vergeblich fragen, was die Perser dazu sagen, daß der 'Schut' ein Perser - und nicht zum Beispiel ein Makedonier - ist. Oder die Rumänen, weil ein Rumäne auch Mitglied der Schut-Bande ist; von den Albanern gar nicht zu sprechen...
Nun, es ist wohl kein Geheimnis mehr, warum Dr. Kova[`´c]evi[´c] einen so großen Wert darauf legte, Karl May als unzuverlässig, als einen nicht ernst zu nehmenden Schriftsteller auszuweisen und nicht nur die Balkanbände, sondern auch sein ganzes Werk als unrealistische Phantastereien, als ein Hirngespinst, hinzustellen versuchte. Wenn das mit allen fairen und unfairen Mitteln verfolgte Ziel erreicht wäre, dann wäre wohl auch die schwerste 'Unterlassung' Mays - nur Bulgaren statt Makedonier zu schildern - entschärft und außer Kraft gesetzt. Und es scheint, daß Dr. Kova[`´c]evi[´c] es bitter nötig hat, weil Karl May in Jugoslawien (und somit auch in Makedonien) bedeutenden Einfluß hat; nach ihren eigenen Angaben sind dort über 40 Bände von seinen Werken herausgegeben worden.
Die Annahme, Karl May hätte den Begriff 'Makedonien' oder 'Makedonier' nicht gekannt, erscheint uns nicht haltbar. Es ist vielmehr wahrscheinlicher, daß er in seinen Balkanbänden seiner persönlichen Stellung zu der Nationalitätenfrage und der Nationalitätenverbreitung auf dem Balkan - einem damals freilich bei
weitem nicht so heiklen Problem - Ausdruck gab. Lassen wir dem Schriftsteller Karl May wenigstens die Gedankenfreiheit.
1 | 3. Jg., H. 3/4, 1971. |
2 | VI, 18 der Radebeuler, VI, 20 der Bamberger Ausgabe. |
3 | Beleg für die Handlungszeit (IV, 68): "War nicht noch vor kurzem Prussia so klein wie eine Streusandbüchse, und nun ist es so groß geworden, daß es Millionen von Menschen faßt?" |
4 | Beispielsweise W.-D. Bach: Fluchtlandschaften. In: JbKMG 1971, S. 39-73. |
5 | V, 410 der Radebeuler, 352 der Bamberger Ausgabe. |
6 | IV, 440 der Radebeuler Ausgabe (jeweils identisch mit Fehsenfeld-Ausgabe!). |
7 | Maghreb-el-Aksa, Ges. W. Bd. 71, 397. |
8 | IV, 33 der Radebeuler Ausgabe. |
9 | IV, 70 der Radebeuler Ausgabe. |
10 | IV, 19 der Radebeuler Ausgabe. Kova[`´c]evi[´c] zitiert nach IV, 13, Wien, Heidelberg 1951, in welcher der Bearbeiter May Bärendienste geleistet hat. |
11 | IV, 91, Radebeul. |
12 | IV, 460, Radebeul. |
13 | Außer den angeführten Beispielen vergleiche man noch: VI, 2, Radebeul bzw. VI, 6, Bamberg, oder V, 513, Radebeul bzw. V, 441, Bamberg. |
14 | IV, 541 der Radebeuler Ausgabe. |
15 | V, 402 der Radebeuler Ausgabe, V, 345 der Bamberger Ausgabe. |
16 | IV, 574 der Radebeuler Ausgabe. |
17 | IV, 525f. der Radebeuler Ausgabe. |
18 | IV, 400-402 der Radebeuler Ausgabe. |
19 | Isaak Passi: Der Ernst des Lächerlichen. Sofia 1972. |
20 | Juri Borew: Über das Komische. Sofia 1960; zit. in Bernhard Grün: Aller Spaß dieser Welt. Berlin 1972, S. 25. |
21 | Mark Twain, zit. nach Grun [Anm. 20], S. 25. |
22 | IV, 291f., IV, 130f., VI, 102, alle Radebeul. |
23 | VI, 310 der Radebeuler, VI, 280 der Bamberger Ausgabe. |