Andererseits wissen wir spätestens seit Kant, daß im Bereich des sinnlich Erfahrbaren und des Verhaltens zwischen Menschen -in Ästhetik und Ethik - also die Kategorien theoretisch-logischen Denkens eine adäquate Erhellung der Gegenstände nicht leisten können. Warum der Mensch gut sein soll, ist theoretisch-logisch unmöglich stringent zu begründen. Ebensowenig läßt sich die eigentümlich abgeklärte Melancholie später Beethovenscher Quartette oder der charakteristische Klangreiz eines Bariton-Trios von Haydn auf dem Wege logischer Deduktion faßbar machen. Der Goldene Schnitt oder die Klangverhältnisse einer verminderten Terz haben zwar mathematisch darstellbare Dimensionen - aber was wir ästhetisch-sinnlich hier erleben, gehört völlig anderen Kategorien an. Die Bedingungen der Schönheit mögen meßbar und logisch erklärbar sein; die Erfahrung von Schönheit ist etwas anderes.
Wenn wir Karl May als Dichter ernst nehmen, ihn auch ernst nehmen als einen Mann, der sich mit ethischen Problemen mensch-
licher Existenz auseinanderzusetzen versuchte, dann müssen wir ihm ästhetische und ethische Anschauungsformen zugestehen, und die liegen p e r d e f i n i t i o n e m weithin außerhalb deduktiver Methodik. Wer sie dennoch dem scientistischen Telos unterwerfen möchte, verschleudert seinen Gegenstand um den Preis erkenntnistheoretischer Naivität. Eine Literaturwissenschaft, die absieht vom ästhetischen, sinnlichen, emotionalen Kern ihrer Forschungsobjekte, entspräche einer Zoologie, die sich allein an Bälgen und Wirbelknochen orientiert, vorbeisehend am Lebendigen der Tiere. Literatur fordert eben Wahrnehmungsakte und Verständnisleistungen, die nicht auf der abgesicherten Bahn logischer Deduktion zu gewinnen sind.
Gerade die exakte Naturwissenschaft ist darauf gekommen, daß der Mensch wegen der Strukturierung seines Wahrnehmungsapparats und seines Gehirns in einer Welt aus verschiedenen Schichten lebt. Doch sind die logischen Operationen, welche der Aufbau unserer Hirnrinde und die Funktionsmuster der linken Hirnhälfte möglich machen, nur Repräsentanzen einer dieser Weltschichten. (Hierüber lese man Karl Popper und die parallel dazu laufenden gehirnphysiologischen Arbeiten von John Eccles.) Wenn die exakte Naturwissenschaft den Alleingültigkeitsanspruch des Positivismus längst aufgegeben hat, so wird man im Beharren auf solchen Positionen in manchen Bereichen der Geisteswissenschaften eine historische Verspätung sehen dürfen, die sich aus der verspäteten Übernahme naturwissenschaftlicher Sehweisen durch die Geisteswissenschaften erklärt. Es geht dabei nicht um die persönliche Eigenart schätzbarer Wissenschaftler wie Volker Klotz, sondern um den historischen Zustand ganzer Wissenschaftszweige, die seit über hundert Jahren hinter der naturwissenschaftlichen Entwicklung hereilen, Positionen verteidigend, die für den Naturwissenschaftler an der Spitze der Entwicklung bereits museal sind.
Man muß also »glauben«, wie Klotz ironisch sagt, muß seiner Wahrnehmung glauben und den eigenen Erfahrungen, wenn man Literatur verstehen will - durch Logik allein oder auch nur vorwiegend ist sie nicht zu haben. Logisch-deduktives Vorgehen kann partiell wichtigen Erkenntnisgewinn erbringen, kann über Kurzstrecken nützliches Instrument sein: primär aber sollte stets sein
die Erfahrung am Text, die jeder logischen Aufbereitung vorauszugehen hat. Denn anders macht's doch bei Literatur keinen Sinn.
Wer Literatur nur als Futter für soziologische Untersuchungen betrachtet, statt gleich Soziologie zu betreiben, müßte sich nach der Logik eines solchen Umwegs befragen lassen. Und von psychoanalytisch erfahrenen Beobachtern wohl auch nach der tieferen gesellschaftlichen Motivation eines schulmäßig etablierten Berührungstabus vor dem Gegenstand, der offenbar nur angefaßt werden darf, wenn er nicht so verführerisch ästhetisch und sinnlich daherkommt, sondern in der nüchternen Kutte sozialthematischer Bedeckung. Es hat ja eine Zeit gegeben, da den sinnenmächtigen Vergil nur das verhüllende christliche Mäntelchen als Forschungsgegenstand rechtfertigte. Mir erscheint Literatursoziologie mitunter als Vorwand, sich dem sinnlichen Appeal von Literatur zu entziehen. Vor etwas, was seiner Natur nach stark subjektive Züge trägt, wird eine objektivistische Verschleierung gebreitet. Und das führt dann zur Überbewertung von Logik und Methodik als Wegen zur Literatur. So als sei Unternehmungslust ein Weg zur Weisheit.
Allzuleicht verkannt wird die Inkongruenz von strenger Methodik und dem ganz anders gearteten Gegenstand. Sprachlichen Kunstwerken geht die Eindeutigkeit ab, angesichts der die Eindeutigkeitsintention logischen Deduzierens in gemäßer Relation wäre. Das hat mit Mystik nichts zu tun, eher damit, daß unsere Sprache schon längst vor aller Kunst der Kommunikation zwischen Menschen und ihren unsäglichen Emotionen dient, und nicht angelegt ist als Werkzeug oder Baumaterial logisch stringenter Konstrukte (dieser Auffassung ist etwa Jehoshua Bar-Hillel, der israelische Sprachphilosoph, einer der Väter der modernen Informationstheorie).
Nun richtet sich Psychoanalyse durch diese unlogische Sprache hindurch auf die logikferne emotionale Erfahrungsschicht als ihr Erkenntnisziel Sie verzichtet nicht prinzipiell auf Logik und stringente Methodik, stellt sie aber mehr instrumental neben sich zur allfälligen Handhabung auf, als daß sie logische Methodik konstruktiv für sich selbst setzt. Das machen Praktiker ohnehin nie. Und die Psychoanalyse ist trotz aller theoretischen Ausweitungen primär Praxis.
Mit Logik und Methode in der Psychoanalyse ist es ähnlich wie mit dem Prismenglas beim Betrachten gotischer Kathedralen: man kann es da nützlich gebrauchen, es erschließt sich mit dem Fernglas viel mehr als mit unbewaffnetem Auge an Zusammenhang und Detail. Aber man wird nicht sagen können, daß ein Feldstecher die c o n d i t i o s i n e q u a n o n für die Erfassung eines gotischen Sakralbaus sei. Ein Instrument also, nicht die Sache selbst: so sehe ich die Rolle argumentativer Stringenz in der Psychoanalyse, die ja eine Art kommunikativer Therapie ist, bei der der Erfolg die Frage nach der Methode sekundär werden läßt. Und auch darin gleicht sie der Sprache, denn unsere Sprachen funktionieren optimal für die Vielfalt ihrer Zwecke zwischen Liebeserklärung und Armeebefehl, ohne daß sie nur annähernd methodisch oder logisch stringent durchgestaltet sind (Bar-Hillel). Sie funktionieren gerade deshalb! Ihre Unschärfe und Ambiguität macht ihre soziale Brauchbarkeit aus.
Immerhin bereiten methodologische Fragen mitunter eine Art Puzzlespielerspaß, und wer mit psychoanalytischem Rüstzeug an die Literatur geht, sollte kein Spaßverderber sein. Ich mag nur für mich selber sprechen: Ich wende das psychoanalytische Instrumentarium an, um mir und anderen eine vertiefte Erfahrung an Texten zu ermöglichen, die an der eigenen Lebensgeschichte, die selbstverständlich immer auch eine soziale Seite hat, anzubinden ist. Durch die Verflechtung mit persönlicher Erfahrung sollen die Texte reicher, vielschichtiger, gefächerter und auch realer werden. Die Vielfalt der von mir ins Spiel gebrachten Assoziationen und Gedankenquergänge soll lockern, entbinden, die Phantasie zum Aufquellen bringen.
Ob dies oder jenes »stimmt«, »richtig« ist - mir ist's mindere Sorge. Es kann beim einen Leser stimmen, beim anderen nicht. Es kann für May in Relation zu diesem oder jenem Mayleser zutreffend w e r d e n; an ewig und an sich Zutreffendes glaube ich ohnehin nicht. Erkenntnis von Literatur kann nur sinnliches Erkennen sein, wie nur die e m p f u n d e n e Lust und nicht die an Hautrötungen g e m e s s e n e wirklich Lust ist. Über die Wahrheit einer Erkenntnis von Literatur entscheidet ein durchaus erotisches Identifikationserlebnis, wie es auch der Leser zwischen seiner Erfahrung und der von mir vermittelten Erfahrung des Autors May
und meiner eigenen Erfahrung herzustellen vermag. Findet der Leser durch meine Interpretationen und Assoziationskatarakte seine eigene Psyche im solcherart aufgelockerten May-Text wieder, dann ist meine Interpretation wahr, nicht nach dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten oder was an Logik mehr, sondern durch die Evidenz des Mitempfindens.
Nun macht natürlich nicht ein Interpret ein Stück Literatur unlogisch oder widersprüchlich; das ist's meist schon von sich aus. Unlogisch ist die menschliche Psyche ohnehin, was nicht wunder nimmt, wenn man weiß, daß unsere ganze Gehirnstruktur teils mit Funktionsmustern aus der Saurierzeit, teils mit nur wenige Jahrzehntausende alten Errungenschaften arbeitet. Die Diskrepanz zwischen Kochtopf und Atommeiler ist damit verglichen gering. Und wäre das menschliche Innenleben so logisch strukturiert, so allzeit nachprüfbar, wie der Rationalist gern wahrhätte, wiewohl doch die Weltzustände seit Cheops das Gegenteil lehren, hätten wir sicher längst ein stabiles Fließgleichgewicht unserer menschlichen Verhältnisse insgesamt, hätten wir - schon Voltaire hat darüber bitter gelacht - l e m e i l l e u r d e s m o n d e s p o s s i b l e s.
Meine Methode aber will doch ihrem Gegenstand adäquat sein, auf ihn Rücksicht nehmen, auf ihn eingehen, ihn nicht durch Andersartigkeit stören oder zerstören. Schrauben sind eben am besten mit Schraubenschlüsseln zu lösen, weil hier Formen zusammenpassen, nicht aber mit einem Drillbohrer. Also s i m i l i s s i m i l i b u s i n t e l l e g i t u r: der unlogische und phantastische May durch Unlogik und Phantasie nicht scheuende Interpretation. Die gleichwohl aber nachprüfbar bleibt durch Kongruenz in der Erfahrung.
Durch Argumentation ist Leben nicht zu vermitteln, nicht in seinen grauenvollen, nicht in seinen herrlichen Momenten. Allein die Kongruenz der Erfahrung gibt überhaupt solches Wissen über Leben. Wenn wir glücklich sind oder wenn wir leiden: daß dem so ist, wird uns dann allemal viel gewisser als jede noch so schlüssige Deduktion an Gewißheit vermitteln kann. Es geht bei May um Psyche, um gelebtes und erlittenes Leben, und das läßt sich nur bedingt deduzieren. Das kann letztlich nur aus der Resonanz eigenen Erfahrens - auch Leidens, auch Glücks - vergegenwärtigt werden. Wie immer und überall bei Literatur.
Schon wahr, daß diese Art der Vergegenwärtigung von Literatur der Literatur selbst letztlich nähersteht als der Wissenschaft. Sie wäre dann Metaliteratur über Literatur. Ich jedenfalls habe versucht, in der Ausformulierung meiner Texte zu May auch literarische Wirkmittel anzuwenden, mit der Sprache lebendig und phantasievoll und oft auch übermütig umzugehen wie man das macht als Literat.
In Deutschland weiß man wenig von der literarischen Form des Essays. Essay gilt als literarische Bastardform, geboren aus einer Schwäche des Entscheidens, für echte Wissenschaft nicht prägnant und folgerichtig genug, für echte Literatur nicht hinreichend schöpferisch, weil doch von einem fremden Gegenstand abhängig, nur Nachgekäutes von Originärem, schmarotzendes Anhängsel, das von fremder Leistung zehrt. In eigener Sache vertrete ich eine andere Auffassung: Als Metaliteratur über Literatur ist der Essay eine große Möglichkeit, modernes Bewußtsein literarisch zu entfalten. Warum das in Deutschland wenig versucht wird, mag viele Gründe haben. Einer ist aber wohl der, daß man hierzulande Angst hat vor der Nähe, vor dem Anfassen - Berührungsangst. Denn im Essay, der diesen Namen verdient, wird ja kein in sich abgeschlossenes Kunstwerk auf dem Altar distanzierter Bewunderung dargeboten, sondern da unterhält sich einer ohne Sicherheitsabstand mit einem Werk und lockt seine Leser in diesen Kommunikationsprozeß mit hinein. Da steht ein Text nicht für sich und isoliert in der historischen Geröllandschaft, sondern kommt wieder herein ins Hier und Heute. Da wird nichts zum »Ergebnis« säuberlich abdestilliert, sondern Erkenntnis durch teilnehmende Erfahrung provoziert - ein Vorgang, der keine feste Begrenzung hat, sondern in der Tendenz auf Fortwirken drängt.
Niemand ist gezwungen, da mitzugehen. Der Anspruch auf Gefolgschaft, den die Folgerichtigkeit stellt, der latente Zwangszug in der logischen Festnagelung durch Argument - nichts dergleichen steckt in einer Betrachtungsweise von Literatur, die anheimstellt, sich mit Erfahrungen zu identifizieren oder dies sein zu lassen. Die Reserve der Skepsis angesichts der Erfahrung anderer sei jedem unbenommen. Ich will nicht überzeugen, wo keine Voraussetzung in der Gleichartigkeit der Lebenserfahrung gegeben ist. Es geht mir nicht um die Chimäre »gesicherter Er-
gebnisse«, die es wohl in den biographischen Fakten und in der äußeren Werksgeschichte gibt, nicht aber in den flimmernden Elementen anschaulichen Charakters, die ein Kunstwerk als Kunstwerk konstituieren. Ein Musikstück läßt sich auf mehrere Weisen überzeugend zum Vortrag bringen; gleiches gilt für Interpretation von Literatur. »Recht haben« ist da keine angemessene Intention. Denn letztlich will ich mir und anderen ein Vergnügen machen: Lustgewinn beim Lesen. Und will mir und anderen helfen: Erfahrungen aus ihrer Verschüttung reißen, sie zum Nachvollzug bringen anhand der Texte Karl Mays.