174k Jpg | Im Turm der alten Mutter: Als Karl May das Lehrerseminar in Plauen (Vogtland) besuchte, war er häufig Gast im Tunnelrestaurant neben dem Nonnenturm, aus dessen Kemenate man einen schönen Blick auf die Altstadt hat. Die gastronomischen Erlebnisse im Restaurant inspirierten ihn zu der Episode "Im Turm der alten Mutter", in der der Schurke Murad Habulam versucht, Kara Ben Nemsi und seine Gefährten mit einem mit Rattengift präparierten Eierkuchen zu ermorden.- "Was soll das? Warum befinden sich diese Sperlinge auf dem Jumurta jemeki (Eierkuchen)?" "Ich gab ihnen davon zu essen, und sie sind sogleich vor Wonne über den Wohlgeschmack der Speise gestorben. Nun sind sie Djur el djinne (Vögel des Paradieses) geworden und schweben durch die Gärten des Paradieses, um mit Nachtigallentönen den Preis deiner Kochkunst zu singen." Durch das Land der Skipetaren. |
Das hervorragendste Gebäude Babels aber war der Baalsturm, von welchem uns die Bibel 1. Mos. 11 berichtet. Die heilige Schrift giebt keine Höhe an; sie sagt nur: "dessen Spitze bis an den Himmel reicht".
Karl May, "Von Bagdad nach Stambul" (1)
Der türkische Bauarbeiter grinst freundlich, als er auf die brüchige Leiter deutet, die am Nonnenturm lehnt, dem Wahrzeichen der Stadt Plauen im Vogtland. Einem Schildbürgerstreich gleich befindet sich an deren oberen Ende, ca. sechs Meter über der ebenen Erde, die Eingangstür. Der Turm steht mitten in einer Baustelle. Ich muß an den Karaul, den Wartturm in Karl Mays Reiseerzählung Der Schut, denken: Der Eingang ist nicht an der Erde, sondern hoch oben. Man baute damals so, um das Erstürmen der Karauls zu erschweren. Wer durch die Thüre will, muß auf einer hohen Leiter hinauf. (2)
Wir turnen uns die schwankende Leiter empor und kommen in einen gut restaurierten Turmraum, der jedoch völlig verstaubt und mit hunderten von toten Fliegen übersät ist. Man kann den Niesreiz kaum unterdrücken, wie weiland Hadschi Halef Omar im Taubenschlag. Der Blick aus den Fenstern der Kemenate zeigt, daß die Wirtschaftskraft des "Goldenen Westens" im Frühling 1993 auch das Vogtland erreicht hat. Eine Nürnberger Bekleidungshauskette errichtet neben dem Nonnenturm das Tunnelrestaurant neu.
Wie May-Forscher herausgefunden haben, war Ende der 1860er Jahre das Tunnelrestaurant am Nonnenturm eines jener Etablissements,
dessen Besuch die Leitung des Plauener Lehrerseminars ihren Zöglingen ausdrücklich erlaubte. Auch der 19jährige Seminarist Karl May, der nach seiner Relegation wegen der leidigen Kerzendiebstahlsaffäre am Waldenburger Lehrerseminar seine Ausbildung 1861 in Plauen fortsetzen durfte, mochte dort im Glas-Salon mit seinen Schulkameraden manches Mal Schweinsknöcheln à la Omelette (3) genossen haben, Bier dazu und in halbstarker Kraftmeierei jenen famosen 'Dreimännertabak' [...] , welcher seinen Namen seinem fürchterlichen Geschmacke verdankt; wer ihn raucht, muß, wenn er nicht umfallen will, von drei Männern festgehalten werden (4).
Ungefähr auf der Höhenmitte des Berges liegt auf der Nordseite desselben ein Mönchs- und auf der südlichen Seite ein Nonnenkloster. (6) [...] Als sie nach einer halben Stunde das Schiff der Kirche betraten, bemerkte der Prinz vier Nonnen, welche am Hochaltare knieten. Es waren lauter junge Schwestern, welche hier ihre stille Andacht verrichteten. Seitwärts saß eine Fünfte auf der Bank; ihrem hübschen Gesichte war ein tiefer Verdruß [...] deutlich anzumerken. Am Beichtstuhle kniete die Sechste und hielt ihr Ohr an die Öffnung desselben [...] Diese Sechste war eine Schönheit. [...] Dann besiegte der Jüngling vielleicht die sündhaften Gedanken des Fleisches [...] durch die Kraft der heiligen Pönitenz [...] Sie besteht in der Kasteiung und Tödtung des aufrührerischen Fleisches, in der Gewöhnung an eine höhere Kaltblütigkeit. [...] Die Büßerinnen werden in einzelne Zellen eingeschlossen, welche verriegelt werden, nachdem je ein Bruder bei ihnen Zutritt genommen hat. Er ertheilt ihr Ruthenschläge auf den entblößten Rücken [...] An den Thüren der Pönitiarzellen sind kleine, mit einem Glasfensterchen versehen Klappen angebracht, durch welche es [...] dem Prior [...] und der
Priorin möglich gemacht wird, die Büßung zu überwachen. (7)
Vielleicht schweiften die Gedanken dann zu einem anderen Turm voll erotischer Brisanz: den legendenumwobenen, märchenhaft rapunzeligen Johannisturm der Burg Stolpen, die sich keine 25 Kilometer hinter Dresden malerisch auf einem Hügel erhebt. Dorthin hatte einst der sächsische König August der Starke seine Mätresse Gräfin Cosel verbannt, als sie ihm zu keck wurde und der Monarch nach ihrem Vermögen gierte. 49 Jahre lang verharrte die Gräfin in dem Turm; aus der jungen schönen Frau wurde eine alte Hexe. Ihr Schicksal wurde vom Volke romantisch verklärt und der Johannisturm bald nur noch Coselturm genannt; für die Jugend Mitte des 19. Jahrhunderts immer noch Material genug für amoureuse Träume.
Die Katergefühle nach einer solchen Nacht hat Karl May präzis beschrieben: Ich fühlte mich nicht mehr als Mensch, sondern ich kam mir wie ein großer dicker Sack voll Jammer und Elend vor. Ich habe alle zehntausend Niederträchtigkeiten des Erdenlebens [...] durchgemacht. [...] Der Nikotin ist ein Drache [...] und das Alkohol eine Schlange. (8) Welche klassischen Pennälerausreden mochte der widerspenstige, phantasiebegabte Jüngling am nächsten Morgen seinen Lehrern entgegnet haben, als sie ihn wegen Unkonzentriertheit, Übelkeit oder Zuspätkommens zur Rede stellten: Der Wecker hat nicht geklingelt (bzw.: Der Hahn hat nicht gekräht)? Ich hatte Gegenwind? Oder: Der Wirt vom Tunnelrestaurant wollte mich vergiften?
Es war die unendlich arbeitsreiche Zeit Anfang und Mitte der 80er Jahre, als solche oder ähnliche Erinnerungen den Ideenfundus für Karl Mays literarische Schöpfungen bildeten. Seite um Seite mußte May unter Termindruck füllen, ohne Zeit zu haben, das unbewußt aus der Feder Geflossene zu überdenken: die fünf dicken Münchmeyer-Lieferungsromane und daneben - mit gehobenerem Anspruch - die klassischen Reiseerzählungen der Orientserie für den "Deutschen Hausschatz". Aus Mangel an äußeren Erlebnissen mußten Reisen ins Innere des Ichs nach außen gebracht werden.
Dazu mußten in Die Liebe des Ulanen zwei böse Franzmänner herhalten, die in kolportagehaft überzeichneter Weise Mays typischen Vater-Sohn-Konflikt spiegeln.
Der junge Baron de Sainte-Marie muß auf Drängen seines teuflischen Onkels seine wahre Liebe loswerden. Einst hatte er die Beduinenprinzessin Liama aus Algerien mitgebracht, die er jetzt aus finsteren Motiven gegen die dralle Adeline Verdy austauschen soll. Der "böse Onkel" Capitän Richemonte ist als eine bizarre Mischung aus Mays Vater und Schwiegervater, dem Großvater Pollmer, und ein würdiges Exemplar in der Galerie der "Bösen Alten" in Mays Werk, vom Mübarek über Abd Asl bis Old Wabble, während der junge Baron de Sainte-Marie als ein überaus bizarres Selbstbildnis erscheint, mit psychotischen Anfällen, aus denen ihn nur die magische Dirndlkleid-Sexualität von Adeline, ein Zerrbild von Mays junger Frau Emma, zurückholen kann (9).
Der junge Baron steckt Liama in einen Turm tief im Wald von Thionville, wo sie bald zur Legende wird, zum Gespenst des Thurmes (10): Marions Ruf [...] galt einem Blitze, welcher mit mehr als Tageshelle die Scene erleuchtete, und einem Donnerschlage, unter dessen Erschütterung das Gemäuer des alten Thurmes einzustürzen drohte. Im Scheine des Blitzes hatten (Marion und Müller) das ganze vor dem Thurme liegende Felsengewirr zu überblicken vermocht, und da hatten die Beiden eine hohe, weiße Gestalt gesehen, welche zwischen den Felstrümmern daher und gerade auf den Thurm zugeschritten kam. Selbst als das blendende Licht des Blitzes verzuckt war, sah man das lange, weiße Gewand immer näher kommen, nicht eilig, wie um dem Regen zu entrinnen, sondern langsam, langsam, als sei diese Gestalt ein überirdisches Wesen, dem die elementaren Gewalten der Erde nichts anzuhaben vermögen. Marion [...] trat hart an Müller heran und sagte: "Liama, der Geist meiner Mutter!" (11)
Die Erscheinung einer längst Vergessenen, Verstorbenen: Dieses Motiv kannte May noch aus seiner Kindheit, aus den Erzählungen seiner Großmutter. Scheintot war sie gewesen, bereits im Sarge hatte sie gelegen, bis ein Kind zufällig bemerkte, daß sie ihre Hand bewegte (12). Und, glaubt man den psychoanalytischen Erkenntnissen der May-Forschung, so war es diese Großmutter, die mit dem kleinen, blinden Knaben Karl koselte, als er noch im Alter von sechs Jahren auf dem Boden rutschte, ohne stehen oder gar laufen zu können (13). Mays in vielerlei Hinsicht überstrapazierte Mutter, so die analytischen Schlüsse, verspürte dazu kaum Neigung (14).
Es ist typisch für Mays Kreativ-Mechanismus, Persönliches, gar Intimes in Form von mythischen Szenen und Bildern verschlüsselt nach Außen zu bringen. Nur so läßt sich seine Beteuerung, Selbsterlebtes zu erzählen, als tiefere Wahrheit begreifen. Wie er die historischen Begebenheiten um den Coselturm, die pubertären Phantasien um den Nonnenturm und frühkindliche Erfahrungen aus dem familiären Umfeld zu einem poetischen Abenteuer verbindet, zeigt das Kapitel Im Turm der alten Mutter im Band Durch das Land der Skipetaren.
Wie eine Mutter in einem Turme schmachtet, hatte er bereits kurz vorher in In den Schluchten des Balkan geschildert. In dieser herzzerreißenden Episode findet Kara Ben Nemsi die Leiche einer türkischen Offiziersfrau, die im Walde heimlich ihrer christlichen Religion nachgehen muß, weil ihr herrischer Mann es zuhause verboten hat. Die Familie lebt in einem alten Karaul, einem Wachtturm, und als Kara Ben Nemsi die traurige Botschaft vom
Tode der Mutter überbringt, zeigt sich, daß hinter der harten Fassade ein liebender Kern steckt.
Doch so tragisch geht es im Turm der alten Mutter im mazedonischen Kilissely nicht zu, die Episode hat eher eine spannende und komische Note. Kara Ben Nemsi und seine Gefährten geraten bei der Verfolgung der Bande des Schut an den schurkischen Armeelieferanten Murad Habulam, auf dessen ländlichem Anwesen sie ermordet werden sollen. Da Kara Ben Nemsi und seine Gefährten als kugelfest gelten und somit nicht aus dem Hinterhalt erschossen werden können, müssen sich die Verbrecher allerhand anderes ausdenken.
Erst einmal werden unsere Abenteurer in der Kulle jaschly Anaja, dem Turm der alten Mutter untergebracht. Der Versuch, sie dort durch einen vergifteten Eierkuchen umzubringen, schlägt natürlich fehl - eine Reminiszenz an die kulinarischen Erlebnisse à la omelette im Tunnelrestaurant neben dem Plauener Nonnenturm und die damit verbundene Ausrede? Jedenfalls ist das Bild von den toten Sperlingen, die von dem Kuchen gefressen haben und mit denen Halef den Kuchen garniert, um ihn Murad Habulam unter die Nase zu halten, eines der dichtesten Bilder im klassischen Werk Karl Mays.
Folgt man der These von Hans Wollschläger über das Attribut der Pfeife (15), so ist auch Murad Habulam einer von Mays typischen, väterlichen Schurken, denn seine Pfeife, und diejenige, welche ich bekam, hatten Rohre von echtem Rosenholz, welches mit Goldfäden umstrickt und mit Perlen und Edelsteinen verziert war. Die Spitzen waren Kabinettstücke. Der Bernstein war von jener halb durchsichtigen, rauchigen Art, welche im Orient weit höher geschätzt wird, als der durchsichtige. (16)Auch andere Assoziationen an Mays frühe Kindheit tauchen im Umfeld Murads und des Turmes auf. Der Arbeiter, [...] welcher böse triefende Augen (17) hat, erinnert an Mays Augenkrankheit; bei Kara Ben nemsi wird sie gleich mythisch zur Jettatura überhöht, dem bösen Blick, mit dem er sich vor den abergläubischen Verbrechern schützt.
Daß May bei der alten Mutter an seine Großmutter gedacht hat, legt die Legende nahe, mit der er den Namen des Turmes erklärt. Man sagt, eine alte Frau sei nach dem Tod oft wieder gekommen und habe des Abends im weißen Sterbegewand oben auf dem Söller des Turmes gestanden, um von da herab ihre Kinder zu segnen (18). Wenn man bedenkt, daß May das Kapitel um den Turm der alten Mutter in zeitlicher Nähe zu der an die Gräfin Cosel erinnernde Liama-Episode in Die Liebe des Ulanen geschrieben hat, wird klar, daß auch hier die erotische Komponente der alten Mutter nicht fehlen darf.
Allerdings sind Herrscher über alle Türme die Väter, und so ist es nicht verwunderlich, daß May die phallische Symbolik des Bauwerks betont. Beim Turm der alten Mutter tut er es gar mit einem Pennäler-Jux, der ganz deutlich an die Plauener Seminarzeit erinnert. Die Kulinarik des Nonnenturms lag May ja auch noch auf den Lippen.
Die Schurken um Murad Habulams Bruder Manach el Barscha klettern nach dem mißglückten Vergiftungsversuch bei Nacht und Gewitter von außen auf einer Leiter in das oberste Stockwerk des Turmes, um von oben herab den im Erdgeschoß schlafenden Kara Ben Nemsi und seine Gefährten überraschend zu überfallen und zu ermorden. Kara Ben Nemsi hat diesen Plan natürlich erlauscht, und so entwickelt Hadschi Halef Omar eine bizarre Gegenlist. Er verrammelt die Abstiegsluke im Turm, nimmt von außen die Leiter weg und pumpt mit Hilfe eine Gar-
tenspritze und eines Schlauches das oberste Stockwerk voll Wasser, das den Schurken alsbald bis zum Halse steht.
Witziger hat sich May der Widerspiegelung von masturbatorischen Wonnen nie hingegeben. Schon Arno Schmidt hat auf die Phallussymbol-Funktion von Halef hingewiesen. Gemeinsam mit den Phallussymbolen Turm und Schlauch und mit der Tätigkeit des Pumpens ist May - im Vergleich zu anderen Vorwitzigkeiten Halefs - eine erstaunlich schuldfreie Darstellung der "fleischlichen Sünde" gelungen: "Wir sind fertig, Sihdi!" meldete der Hadschi mit größter Befriedigung. "Wir haben gepumpt aus Leibeskräften. Jetzt aber sind wir pudelnaß. Erlaubst du uns, die Lampe anzubrennen?" (19)
Schon immer war es Mays große Spezialität, einmal erfundene Situation und Szenen immer wieder neu zu erzählen. Als er Ende der 1890er Jahre die ersten beiden Bände von Im Reiche des silbernen Löwen zusammenstellte, griff er auf ältere Texte zurück, aus denen er lange Passagen als Zitat übernahm. Auf der oberflächlichen Ebene des Abenteuerlichen war das ein wenig origineller Versuch, an alte Erfolge anzuknüpfen. Unterschwellig jedoch bereitete May damit sein Alterswerk vor. Der zweite Band des Silberlöwen endet wie Durch das Land der Skipetaren mit einem Abenteuer in einem Turm der alten Mutter. Ein Rätsel überschrieb May dieses unvollendete Textfragment.
Den Turm verlegte May von Mazedonien ins wilde Kurdistan, wo einst sein Ich-Held Kara Ben Nemsi auf die alte Mutter schlechthin getroffen war: Marah Durimeh. Nie vorher im Leben und auch nicht nachher habe ich eine Person gefunden, welche mir so ehrwürdig, beinahe möchte ich sagen, so heilig erschienen wäre wie diese mit ihrem Geiste schon mehr im Jenseits als im Diesseits weilende Greisin. Nur ihre wohlthätige Menschenliebe, ihre segenspendende Barmherzigkeit gehörte noch der Erde an, sonst aber zählte sie zu denen, welche hinübergegangen sind nach den "Wohnungen in meines Vaters Hause", von denen Christus spricht (20), rekapituliert May in Ein Rätsel die entsprechenden Beschreibungen aus Durchs wilde Kurdistan. Später dann, im Alterswerk, wird Marah Durimeh als Menschheitsseele die zentrale Figur von Mays Philosophie schlechthin.
Des Vaters Haus ist in Ein Rätsel wieder ein Turm, in den - wie August der Starke die Gräfin Cosel - der Pascha von Suleimania Marah Durimeh aus ungeklärten Gründen verbannt hat. Doch dieser Turm der alten Mutter ist frei von jeder vordergründigen erotischen Spekulation. Vielmehr geht es ausschließlich um die Aufarbeitung der familiären Situation im Hause May, wie schon in der Karaul-Episode in In den Schluchten des Balkan.
Ein zweiter Handlungsstrang von Ein Rätsel ist eine Variation der Old Surehand III-Geschichte. Wie Kolma Puschi in der Wildwest-Erzählung reitet eine als Mann verkleidete Frau durch das Abenteuerland und sucht ihren Sohn. Adsy = namenlos nennt sich die Gattin eines Kurdenscheiks, deren Sohn und Mann in die Hände eines feindlichen Stammes gefallen sind. Mit Adsys Verleugnung des Weiblichen versucht May, die verwickelte Haßliebe seiner Mutter zu ihrem Sohn darzustellen, die von der Großmutterliebe so hell überstrahlt wird. Selbstverständlich gelingt es dem Helden Kara Ben Nemsi, die Familie wieder zu vereinen und Marah Durimeh aus dem Turm und somit der Gewalt des Paschas von Suleimania zu befreien.
Die Ambivalenz, mit der May den runden, dickmaurigen Turm sowohl als männlich-phallisches als auch als mütterliches Symbol benutzte, schien ihm in der zweiten Hälfte der 1890er Jahre, an der Schwelle des Wechsels von der spontanen, unbewußten Bildwahl zur konzeptuellen, bewußten, nicht mehr genügend künstlerisch fruchtbar; sicherlich ein Beispiel, warum seine sogenannten späten Reiseerzählungen so häufig unvollendet blieben. May begann, den phallischen Turm von der Mutter zu trennen. In Durchs wilde Kurdistan war bereits in der Gestalt der Marah Durimeh ein den Turm ergänzendes, mütterliches Symbol angelegt. Kennengelernt hatte Kara Ben Nemsi die grandmother (21) nämlich nicht als Gespenst des Thurmes, sondern als Geist der Höhle (22).
Schon in Durch die Wüste tauchte das Symbol der Höhle das erste Mal auf, bezeichnenderweise wieder in Zusammenhang mit einer Mutter. Die Ateibeh-Beduinin Amschah, die Mutter von Halefs späterer Frau Hanneh, reitet, wie Adsy und Kolma Puschi, als Mann verkleidet durch die Wüste bei Mekka. Sie sucht zwar keinen Sohn, eher einen Schwiegersohn, und engagiert Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar als eine Art Söldner für die Vollendung einer weiblichen Rache.
Einst war sie von Abu Seif, dem Vater des Säbels, entführt und mißbraucht worden, wahrscheinlich ist er der Vater ihrer Tochter Hanneh. Nun unterstützt sie Kara Ben Nemsi bei seinem Wunsch, die verbotene Stadt Mekka, nach Mays Islam-Auffassung der Quell der Frauenunterdrückung, zu betreten, wo Abu Seif beim Großscherif ein und aus geht. Halef überwindet schließlich den phallisch gut bestückten Vater des Säbels im Zweikampf vor der Höhle Atafrah, dem Unterschlupf der Ateibeh: ein erster Sieg über das Väterliche vor einer bezeichnenden Kulisse.
Mit der mütterlichen Höhle hatte May ein künstlerisch tragendes topographisches Bild gefunden, das zusammen mit dem väterlich-phallischen Turm einen wichtigen landschaftlichen Topos in seinem Werk bildet. In Der Schut ist die Juwelenhöhle des Köhlers Scharka mit einem turmartigen hohlen Baum gekrönt, und die Vernichtung des Schut, als Oberbösewicht wie Murad Habulam ebenfalls eine Vaterprojektion, wird durch den Einsturz jenes anfangs erwähnten Karauls mit der hohen Eingangstür signalisiert, unter dessen Fundament eine Höhle gesprengt wurde.
Im Alterswerk ereignen sich solche Katastrophen dann häufiger, immer als Zeichen für den Zusammenbruch des phallisch bestimmten männlichen Ich-Ideals und als Hinwendung zum Weiblichen. Bereits in seinen früheren 'klassischen' Reiseerzählungen hatte der Prozeß begonnen, dieses Motiv auch mythologisch zu untermauern. In Von Bagdad nach Stambul hatte er ausgiebig die Mutter aller Türme in der Mutter aller Städte (23), den Turm von Babel, beschrieben und zur Kulisse einer seiner düstersten Reiseerzählung gemacht, vor der so ziemlich alles scheitert. Die Reise durchs wilde Kurdistan endet dort als Fiasko: Der im Triumph befreite Amad el Ghandur und auch Lord Lindsay sind verschollen, Mohammed Emin erschossen, der Perser Hassan Ardschir Mirza ermordet, und Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar liegen pestkrank darnieder. Im Schatten des Turmes ist die Suche nach der weiblichen Liebe im irakischen Wüstensande verlaufen: Des Persers Schwester hat sich mit Kara Ben Nemsis Dolch selbst erstochen. Auch Marah Durimehs Amulett, das Kara Ben Nemsi
unter einer geheimnisvollen Verheißung erhalten hatte, erweist sich als desillusionierend profan, aber immerhin ganz praktisch: eine Pfundnote in beträchtlicher Höhe.
Als Variation dieses Abenteuers wird in Im Reiche des silbernen Löwen I/II der Turm von Babel noch einmal zur Stätte eines (vorläufigen) Sieges. Vom Wunsch beseelt, die Orte des frühen Leides noch einmal zu besuchen, machen sich Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef ein zweites Mal zum Turm auf und entdecken dort das geheime Warenlager der Sillan, einer Schmugglerbande, die sie selbstverständlich unschädlich machen.
Den Topos Turm erweitert May hier schon um den der sich darunter befindlichen Höhle. Neben dem Schmuggelgut findet Kara Ben Nemsi in den unterirdischen Gelassen auch das Bildnis einer Frau, der Gul y Schiraz. Als May dann in den zum Alterswerk gehörenden Silberlöwen-Bänden III und IV an die ersten beiden anknüpft, entwickelt er aus diesen Motiven ein wichtiges landschaftlich-architektonisches Symbol: das Hohe Haus und mit den Ruinen im persischen Tal der Dschamikun und die sich darunter befindliche Höhle der verkalkten Seelen.
Was sind die altindischen Tempel? Die ägyptischen Pyramiden? Die amerikanischen Teocalli? (24) So fragt Karl May rhetorisch angesichts der Ruinen im Tal der Dschamikun, um die Einzigartigkeit seiner architektonischen Einfälle zu untermauern, die er unter dem Namen Hohes Haus subsumiert. Der Riesen-Ruinenbau erinnert in seiner Stufenform ein wenig an Winnetous Pueblo, doch haben jetzt die einzelnen Stockwerke religiös-allegorische Funktion. Und wie selbstverständlich gibt es in diesem Ensemble natürlich auch einen runden Quaderturm und einen hageren, schiefen Campanile (25). Mit zu dem Unikum muß man noch die Wohnung des Ustad und das Alabasterzelt zählen, das wie eine Krone auf hoher Alpe alles überstrahlt (26).
Ebensowenig wie der Karaul im Schut steht dieser Monumentalbau auf sicherem Grund. Wie das unteriridische Gefängnis, in dem der Räuberhauptmann seine Opfer gefangenhält, ist der Eingang der Höhle unterhalb des Hohen Hauses nur mit dem Kahn zu erreichen und von wuchernden Rankengewächsen (27) überwachsen. Nicht zufällig scheint in diesem Zusammenhang, das der Schut ein gebürtiger Perser ist. Ein Riesengefängnis ist die Höhle ebenfalls. Unzählige Skelette liegen in dem unterirdischen See, Opfer früherer Gewaltherrscher; die Höhle bildet einen idealen Schauplatz für den "großen Traum" Kara Ben Nemsis (28).
In Winnetou IV greift May diese Topographie noch einmal auf. Das kolossale Winnetou-Denkmal steht dort ebenfalls auf dem brüchigem Grund einer riesigen Tropfsteinhöhle, und wie das "Hohe Haus" wird es vom gleichen Schicksal ereilt: unter Poltern, Prasseln, Knattern, Platzen, Bersten, Schmettern, Brausen und Dröhnen stürzt es zusammen (29).
Der Zusammenbruch des Phallisch-männlichen in das Weiblich-Mütterliche: Neben dem Mutter-Symbol "Höhle" spielt auch das Geburtssymbol "Wasser" ein wichtige Rolle (30). Höhlen hat sich May fast immer als von Menschenhand geschaffene Stollen vorgestellt. Im Schut ist das so und auch im Silberlöwen; nur in Winnetou IV ist es eine natürliche Tropfsteinhöhle. Das mag eine Reminiszenz an jenen Unterschlupf nördlich von Mays Heimatstadt Hohenstein-Ernstthal sein, wo sich der von der Polizei verfolgte May im Jahr 1869 eine kurze Zeit versteckt gehalten hatte. Wer die niedrigen Stollen der Karl-May-Höh-
le einmal erkrochen hat, bevor sie als Touristenattraktion trockengelegt wurde, spürt die feuchten Knie noch heute.
May dramatisierte die Höhlenfeuchtigkeit ins Überdimensionale. Bereits in Durch die Wüste, bei der Entführung von Senitza, führt ein mit Wasser gefüllter Stollen zur Frau. Der große Vorzug der Höhle Atafrah im gleichen Band ist das Wasser (31). Daß die Höhlen im Schut und im Silberlöwen nur übers Wasser mit dem Kahn erreicht werden können, haben wir bereits erwähnt. Der Grund der Silberlöwen-Höhle besteht ausschließlich aus einem unterirdischen See, und die Tropfsteinhöhle in Winnetou IV nimmt gar einen großen Wasserfall auf.
Doch wo bleibt das Wassersymbol im Zusammenhang mit Marah Durimeh, Mays großer Muttergestalt? Auf den ersten Blick scheint ihr Auftreten in Durchs wilde Kurdistan als Geist der Höhle eher 'trocken' zu sein. Zwar trifft Kara Ben Nemsi im Tal des Flusses Zab auf sie, doch hat der weniger symbolische als geographische Bedeutung. Es zeigt sich aber, wie sublim Mays Symbolik schon in dieser frühen klassischen Reiseerzählung angelegt ist. Marah Durimeh stiftet nämlich als Geist der Höhle zwischen den chaldäischen Christen und den kurdischen Moslems Frieden. Und in Ardistan und Dschinnistan, dem Meisterwerk der Alterszeit, symbolisiert May den Frieden durch einen Fluß namens Ssul.
Karl May, "Im Reiche des silbernen Löwen III" (32)
In den 1890er Jahren, nach der Gründerzeit, befand sich das Deutsche Reich mit seiner jungen nationalen Identität in einer zwiespältigen Situation. Auf der einen Seite konnte auf eine durchaus erfolgreiche, 20jährige Geschichte zurück-
geblickt werden, auf der anderen Seite kam es durch die Erschütterungen des Drei-Kaiserjahrs 1888 mit dem Tod Wilhelms I. und Friedrichs III. zu personellen Irritationen. Mit Wilhelm II. hatte die Enkelgeneration der Reichsgründer die Macht übernommen, und der launische, als unzuverlässig geltende junge Kaiser entließ sogar Bismarck, den alten Lotsen. In dieser Situation des Umbruchs suchten die Deutschen nach Sicherheit, die sie in steinernen und erzernen Staatssymbolen zu finden hofften. Eine kollektive Lust an Türmen fand in ungebrochen phallokratischen Denkmals-Monumenten ihren architektonischen Ausdruck. Zwei deutsche Überväter waren es, die als besonders denkmalwürdig galten: der alte Kaiser Wilhelm I. und später Bismarck, der Eiserne Kanzler. Wurde mit der Siegergestalt Wilhelms I. der Aufbruch in eine großartige nationale Zukunft dargestellt, wurde Bismarck als Bewahrer und Beschützer der geeinten deutschen Nation aufgefaßt.
Nach Bismarcks Tod hieß es in einem Aufruf der deutschen Studentenschaft vom 3.12.1898: "Wie vor Zeiten die alten Sachsen und Normannen über den Leibern ihrer gefallenen Recken schmucklose Felsensäulen auftürmten, deren Spitzen Feuerfanale trugen, so wollen wir unserem Bismarck zu Ehren auf allen Höhen unserer Heimat, von wo der Blick über die herrlichen deutschen Lande schweift, gewaltige granitene Feuerträger errichten. Überall soll, ein Sinnbild der Einheit, das gleiche Zeichen entstehen, von ragender Größe, aber einfach und prunklos, in schlichter Form auf massivem Unterbau, nur mit dem Wappen und Wahlspruch des Eisernen Kanzlers geschmückt. [...] Von der Spitze der Säulen sollen aus ehernen Feuerbehältern Flammen weithin in die Nacht leuchten, von Berg zu Berg sollen die Feuer mächtiger Scheiterhaufen grüßen, deutschen Dank sollen sie künden, das Höchste, Reinste, Edelste, was in uns wohnt, sollen sie offenbaren, heiße innige Vaterlandsliebe, deutsche Treue bis zum Tod." (33).
Wilhelm Kreis (1873 - 1955), der Architekt des Bismarckturms, gehörte wie der Maler Sascha Schneider zu den jungen Künstlern, mit denen sich der alte May gern umgab. Klara May schreibt in ihrem Tagebuch von den "schönen Künstlerabenden" bei Kreis (35). Lu Droop, eine junge May-Verehrerin, berichtete: "Bei May verkehrten die bedeutendsten Künstler Deutschlands, zum Beispiel Wilhelm Kreis, der berühmte Architekt, der das Bismarckdenkmal am Rhein geschaffen hat" (36). Damit meinte Lu Droop wahrscheinlich die Bismarcksäule in Bonn, die ziemlich exakt nach dem ersten der drei preisgekrönten Entwürfen gebaut wurde, mit denen Kreis den Bismarckturm-Wettbewerb gewann und damit maßgeblich den Stil dieser Denkmäler prägte. Dabei handelte es sich um "ein steinernes altarartiges Flammenbecken auf einem gedrungenen quadratischen und blockartigen Unterbau, der an den Kanten von vier enggestellten Säulen bestimmt ist, deren Kapitelle mit dem krönenden Mauerwerk verwachsen sind" (37).
Der Radebeuler Bismarckturm entstand jedoch nach einem anderen Entwurf von Kreis. Wie eine breithüftige Matrone hockt er auf dem Weinberg, aus einem eckigen Sockel ragt der massig-runde Turm, der wie eine Eichel von einer Kappe gekrönt wird. Es scheint, als habe Kreis hier Mays phallisch-maternalistische Idee vom "Turm der alten Mutter" aufgegriffen: Kurz und dick, der Frauen Glück.
Durch die Freundschaft mit Wilhelm Kreis erfuhr May aus erster Hand, auf welche Weise so ein Turm zustande kam. Die Initiatoren mußten einen eingetragenen Verein gründen, um Spenden für den Bau sammeln zu können. Als Angehöriger der Gründerzeitgeneration und als guter deutscher Untertan, der er sein wollte, gab May so manches Scherflein dazu. Als gut situierter Radebeuler Bürger kam er auch gar nicht darum herum. Ob mit tieferer Überzeugung, ist jedoch fraglich (38).
Denn eigentlich war May in den 1900er Jahren die martialische Zurschaustellung von Macht und Potenz zunehmend fragwürdiger geworden. Hatte er sich noch zehn Jahre zuvor im Trapperkostüm mit seinen Gewehren als omnipotenter Held Old Shatterhand in wilhelminischer Denkmals-Pose fotografieren lassen, so hatte er sich von dieser Art Propaganda immer weiter distanziert. Die Negativplatten der Fotos hatte er vernichtet und im dritten Band des Silberlöwen Kara Ben Nemsi die berühmtesten Gewehre der Welt verschenken lassen. So erscheint es nicht verwunderlich, daß er die Vereinsmeierei um den Bau eines Denkmals in seiner letzten Reiseerzählung Winnetou IV mit kritisch-skeptischen Strichen skizziert. Das Winnetou-Denkmal, das die sauberen Geschäftsleute bauen lassen wollen, läßt sich durchaus als kritischer Kommentar zu der Denkmalswut im wilhelminischen Deutschland lesen.
Und auch die künstlerische Ausführung des Denkmals ist nicht nach Old Shatterhands Geschmack. Falsche Auffassung, konstatiert er, Leider, leider. Mein erster Blick galt dem Gesicht Winnetous. Es war getroffen, überraschend getroffen. Und doch erschien es mir fremd. Es waren seine Züge, ganz genau seine sein Züge; aber sie waren nicht so freundlich ernst, so gütig und so lieb, wie ich sie kennengelernt hatte, sondern sie zeigten einen fremden Ausdruck, die ihm im Leben niemals eigen gewesen waren. Dieser Ausdruck harmonierte allerdings mit der aggressiven Bewegung, welche der Figur von ihren Verfertigern erteilt worden war. Die Kleidung war mit peinlichster Gewissenhaftigkeit ausgeführt. [...] Am Gürtel hing der Pulver- und Kugelbeutel früherer Zeit. Daneben steckte das Messer, unweit davon eine Pistole und ein Revolver. Den rechten Fuß wie zum Sprunge vorgesetzt, stützte sich die Figur auf die in der linken Hand gehaltene Silberbüchse, während die rechte Hand einen geladenen zweiten Revolver drohend vorstreckte. In dieser vorwärts strebenden Bewegung hatte die Gestalt etwas aal- oder schlangenhaftes. Oder man dachte an einen Panther, der aus seinem Hinterhalt hervorschnellt, um sich auf die Beute zu stürzen. Hierzu paßte der nicht nur drohende, sondern gierige Ausdruck des Gesichtes, welcher umso befremdender oder abstoßender wirkte, je deutlicher die Schönheit dieses Gesichtes trotz alledem hervortrat (39).
Die künstlerische Verantwortung für das Winnetou-Denkmal tragen Young Surehand und Young Apanatschka, der Erstere Architekt und Bildhauer und der Letztere Maler und Bildhauer. [...] Sie gingen [...] auf einige Jahre nach Paris, um dort die berühmtesten Ateliers zu studieren, dann nach Italien und endlich gar nach Aegypten, wo sie sich die Aufgabe stellten, sich dort mit den Gesetzen der Gigantenkunst vertraut zu machen. [...] Sie waren mir sehr sympathisch. [...] Auch ihr künstlerisches Wollen und Können war hervorragend und schien noch wachsen zu können. (40) May mochte an Wilhelm Kreis und Sascha Schneider gedacht haben, als er diese beide jungen Künstler porträtierte. Der Hang zum Monumentalen war sowohl bei dem Bismarckturm-Schöpfer Kreis wie bei dem Maler Schneider ausgeprägt.
Und May läßt beiden die Leviten lesen. Ihr seid Künstler? Habt ihr das schon bewiesen? Vielleicht ist Old Shatterhand auch einer. Er hat sich noch nicht als Künstler bezeichnet. Ihr aber nennt euch so. Darum werden wir euch prüfen, ob euch dieser Name zukommt oder nicht. Und selbst wenn ein Künstler etwas so Hohes und so Herrliches wäre, daß kein anderer Mensch ihn zu erreichen vermöchte, so müßte man doch von ihm wohl erst recht die Tugenden fordern, die man an jedem gewöhnlichen Menschen zu sehen verlangt. Fragt eure Väter, und fragt Kolma Putschi, was sie Old Shatterhand verdanken! (41) "Alle fühlten, daß Karl über ihnen stand, geistig" (42), hatte Klara May über die Künstlerabende bei Kreis notiert.
So wie Old Shatterhand aber an den wirklichen Talenten von Young Surehand und Young Apanatschka festhält, glaubte May auch weiterhin zumindest an Sascha Schneider. Schließlich hatte ihm der Maler eindrucksvolle symbolistische Titelbilder zu seinen Reiseerzählungen geschaffen, und Schneiders zum Himmel aufstrebender Winnetou wird von May gar als ästhetisches Gegenbild zu der verfehlten Winnetou-Statue in die Handlung von Winnetou IV eingebracht. Dennoch war das Verhältnis zu Schneider bei der Niederschrift von Winnetou IV schon seit längerer Zeit belastet. Daß dem Maler sein Drama Babel und Bibel nicht gefiel, hatte ihm May übel genommen. Schneider monierte da besonders das Auftreten Marah Durimehs, die ihm zu alt war und in seiner homosexuell geprägten, dem Männlichkeitskult verfallenen Phantasie gleich zu "vielen Weibern" auswuchs. Und das mußte dem sich dem Weiblichen zuwendenden May mißfallen.
Als Kommentar zum nationalen Denkmalskult weist durch die aggressive Haltung des Winnetous das Denkmal überdies eine entfernte Ähnlichkeit mit dem im Beisein Wilhelms I. 1875 eingeweihten Hermanns-Denkmal bei Detmold auf. Die 75 Meter hohe, das Schwert emporreckende Figur des Cheruskerhäuptlings sollte die Einheit der durch die Freiheitskriege gegen Napoleon zusammengeschweißten deutschen Nation verkörpern und hat "einen aggressiven und herausfordernden Zug, der unsichtbare Feind ist in das Denkmal mit einbezogen, der Beschauer wird in diese Frontstellung mit hineingenommen: im Kampf gegen den Feind konstituiert sich die hier gemeinte Nation als Machtgebilde, in ihrer Macht hat sie ihre Identität" (43). Eine Auffassung, der sich der pazifistische May der 1900er Jahre bestimmt nicht anschließen mochte.
Mays monumentale architektonische Turm- und Denkmals-Motive des Alterswerks sind zweifellos stark beeinflußt von den Eindrücken, die er auf seiner großen Orientreise 1899/1900 empfing. Da sah er Kolossalbauten wie die Pyramiden von Gizeh oder die Ruinen von Baalbek, aber auch Tempel und Gotteshäuser wie den islamischen Felsendom in Jerusalem oder die Akropolis in Athen. Die Landschaft um den Riesenbau im Tal der Dschamikun scheint auch stark von der Gegend um den Mendelpaß in Südtirol inspiriert zu sein, wie Hansotto Hatzig überzeugend dokumentiert hat. Auf der Mendel fiel die Entscheidung, sich endgültig von seiner ersten Frau Emma zu trennen und Klara Plöhn zu heiraten.
Doch auch im nördlichen Thüringen, im Süden des Harzes, befindet sich eine Landschaft, die sich gut und gern als das persisches Tal der Dschamikun in deutschem Gewande
begreifen läßt: Die "Goldene Aue" mit dem Kyffhäuser-Gebirge. "Die zahllosen Besucher des Fremdenverkehrsgebietes Kyffhäuser empfinden einige klimatische Eigenheiten der Region dankbar als angenehme Begleiter ihres Aufenthaltes. Aus seiner Lage im Regenschatten des Harzes und des Thüringer Waldes erklärt sich die Rolle des Kyffhäusers als Regenfänger. [...] Langjährige Statistiken bestätigen diese Erscheinung und weisen die Kyffhäuserregion als regenarm und sonnenreich aus" (44). Wie das Tal der Dschamikun ist diese Gegend bestens geeignet, innerlich wie äußerlich zu gesunden. Immerhin macht Karl May im Jahr 1894 eine Reise in den Harz, um sich von einer Influenza mit Rippenfellentzündung zu erholen. (45)
Überragt wird die "Goldene Aue" von der alten Reichsburg Kyffhausen, unter der, tief im Innern des Berges, der Sage nach Kaiser Barbarossa schläft, der einst wieder auferstehen soll, um das Deutsche Reich zu neuem Leben zu erwecken. In mancherlei literarischer Form ging zu Mays Zeiten diese Sage im Volksmund um, die bekannteste Variation lieferte Friedrich Rückert in einem Gedicht von 1817.
//56//
Wie mochte der Nonnenturm und das einst dahinter liegende Dominikanerkloster die pubertäre Phantasie des angeheiterten Seminaristen angeregt haben, besonders nach solch einem Bierabend, einsam im Bett seiner Studentenbude einer stürmischen Gedanken- und Bilderflut ausgesetzt. Vielleicht hat er sich, um als höchstes der Gefühle die autoritären und repressiven Lehrmethoden am Seminar zu verarbeiten, im ständigen Konflikt zwischen Schuld und Lust die Hand unter der Bettdecke bereit zur "fleischlichen Sünde", wie die Pädagogik jener Zeit die Masturbation schamvoll umschrieb (5), folgende Schauergeschichte vorgestellt:
102k Jpg
"Turm der alten Mutter" I: Neben dem Nonnenturm in Plauen wurde im Frühjahr 1993 das Tunnelrestaurant neu aufgebaut. Foto: Archiv Peter Krauskopf
//57//Reisen ins Ich
Anders als in den wahren Historien und Histörchen mochte May einem deutschen Monarchen nicht zumuten, seine Geliebte in einen Turm zu verbannen.
102k Jpg
"Turm der alten Mutter" II: Der Coselturm der Burg Stolpen. Foto: Archiv Peter Krauskopf.
//58//
//59//
//60//Einmal erfunden, immer wieder erzählt
//61//Zusammenbruch des Ich-Ideals
//62//
//63//
II. Über das Abenteuerliche im nationalen Mythos
Man denke sich Bismarck in orientalischem Anzuge...
Daß ein populärer Schriftsteller wie Karl May mit seinem Gespür für Massenwirksamkeit gerade das Motiv des Turms so oft benutzte, scheint im kulturellen Umfeld des wilhelminischen Deutschland kein Zufall zu sein. Die Renommistereien Old Shatterhands hatten durchaus ihre Entsprechungen im Verhalten Wilhelms II., und beide können als Leitfiguren der damaligen deutschen Gesellschaft gelten. So läßt die Analyse der individuellen Züge Mays, als welche sich sein Werk auch dem Schriftsteller selbst immer mehr erschloß, Rückschlüsse zu auf das, was man Nationalcharakter nennen kann: Die Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung überhaupt.
//64//
116k Jpg
Unter den Ruinen: Die topographisch-architektonischen Bilder vom Tal der Dschamikun, die Karl May in den Bänden 3 und 4 von "Im Reiche des silbernen Löwen" entwirft, haben eine erstaunliche Ähnlichkeit mit der Anlage des kolossalen deutschen Nationaldenkmals im Kyffhäusergebirge. So kann man die Beschreibung des "Hohen Hauses" als kritischen Kommentar zu dem Kaiser-Wilhelm-Denkmal lesen, während die Barbarossa-Höhle an den Schauplatz des "Großen Traums" gemahnt.- Die Untersuchung des Skelettes war mir wichtiger als alle Reflexionen. Es war feucht, aber hart wie Stein, von Kalk ganz durch- und überzogen. Ein ausgewachsener Mann in den kräftigsten Jahren. Eine hohe, breite Stirn. Im Leben wohl ein schöner, kluger Denkerkopf. De erste Gedanke seines Lebens ein Segen für die Mutter, der letzte eine Verwünschung seiner Geburt! Im Reiche des silbernen Löwen IV.
//65//Eiserner Kanzler und Große Mutter
Auch in Karl Mays Wohnort Radebeul entstand im Jahr 1907 ein Bismarckturm. Auf den Weinbergen des Elbtals steht der Turm neben dem Spitzhaus, in entfernter Nachbarschaft des Mäuseturms und des Weinbergturms (34). Noch heute überzeugt die landschaftlich schöne, mit viel Bedacht ausgewählte Stelle. Auch wenn ein Tourist dem Deutschnationalen nur wenig zugeneigt ist, ist es für ihn ein Genuß, sich nach dem Erklimmen der 365stufigen Spitzhaustreppe auf
//66//
dem Gipfel der Weinberge im Grase vor dem Turm niederzulassen, den Weinbauern bei der Arbeit zuzuschauen und die Aussicht von Dresden im Südosten bis Meißen im Nordwesten zu genießen.
64k Jpg
"Turm der alten Mutter" III: Der von Mays Freund Wilhelm Kreis entworfene Bismarckturm in Radebeul. Foto: Archiv Peter Krauskopf
//67//
//68//Ein persisches Tal im deutschen Gewand
//69//
Der alte Barbarossa,
Der Kaiser Friederich,
Im unterirdschen Schlosse
Hält er verzaubert sich.
Er ist niemals gestorben,
Er lebt darin noch jetzt;
Er hat im Schloß verborgen
Zum Schlaf sich hingesetzt.
Er hat hinabgenommen
Des Reiches Herrlichkeit,
Und wird einst wiederkommen,
Mit ihr, zu seiner Zeit.
Der Stuhl ist elfenbeinern,
Darauf der Kaiser sitzt:
der Tisch ist marmelsteinern,
Worauf sein Haupt er stützt.
Sein Bart ist nicht von Flachse,
Er ist von Feuersglut,
Ist durch den Tisch gewachsen,
Worauf sein Kinn ausruht.
Er nickt als wie im Traume,
Sein Aug' halb offen zwinkt;
Und je nach langem Raume
Er einem Knaben winkt.
Er spricht im Schlaf zum Knaben:
Geh hin vors Schloß, o Zwerg,
Und sieh, ob noch die Raben
Herfliegen um den Berg.
Und wann die alten Raben
Noch fliegen immerdar,
So muß ich auch noch schlafen,
Verzaubert hundert Jahr.
Der Harz-Aufenthalt Mays im Jahre 1894 hat sich leider nicht besonders gut dokumentieren lassen (47). So läßt sich nicht nachweisen, ob er während dieser Reise auch den Kyffhäuser und seine Sehenswürdigkeiten besucht hat. Doch kann man davon ausgehen, daß May um die Magie dieser Örtlichkeit wußte. Seit 1888 war der Kyffhäuser durch eine gigantische Public-Relations-Aktion ins Bewußtsein der Deutschen gerückt worden. In der Ruine der alten Kaiserburg Kyffhausen wurde bis 1897 das Kaiser-Wilhelm-Denkmal erbaut, neben dem Niederwalddenkmal am Rhein das wohl wichtigste Nationaldenkmal des wilhelminischen Kaiserreiches. Zur Zeit von Karl Mays Harz-Aufenthalt bot sich auf dem Kyffhäuser das Bild einer gigantischen Baustelle, so wie er es in Winnetou IV beschreibt.
Die Pläne eines Kaiser-Wilhelm-Denkmals auf dem Kyffhäuser wurden zu Beginn der 1890er Jahre in der Presse heftig diskutiert; May mochte - Zufall oder Schickung? - spüren, wie eng diese national-symbolische Landschaftsgestaltung mit seinen individuellen Seelenlandschaften in Einklang standen. Die "Form des stadtfernen Bergdenkmals, die als typisch deutsch galt" (48), mochte ihm besonders zusagen. Der Wüsten- und Prairie-Poet war schließlich alles andere als ein Asphalt-Literat, und Kara Ben Nemsi gar ein 'Barbanera': Was meinen Namen betrifft, so wurde ich nicht bei meinem eigentlichen, sondern, wie auf meinen früheren Reisen,
Kara Ben Nemsi genannt. Kara heißt "schwarz" und Ben Nemsi "Sohn der Deutschen". Ich trug einen dunklen Bart und war ein Deutscher; daher dieser Name (49).
Bereits die Ruine der Reichsburg aud dem Kyffhäuser wurde von einem Barbarossa-Turm überragt, das Kaiser-Wilhelm-Denkmal sollte noch wesentlich monumentaler werden: insgesamt 81 Meter hoch, 131 Meter lang, 96 Meter breit und 1.452.254,37 Mark teuer. Die Skandale um die Finanzierung waren von noch geriebenerer Smartneß (50), als Karl May sie in Winnetou IV beim Bau des Winnetou-Denkmals beschreiben sollte. Im richtigen Leben hatte die Rolle von Mister Antonius Paper (Okih-tschin-tscha), Bankier und Kassierer (51) der Geh. Regierungsrat Prof. Dr. Alfred Westphal inne, 3. Präsident und Geschäftsführer des Deutschen Kriegerbundes und Initiator des Kaiser-Wilhelm-Denkmals. Er begeisterte die zahlreichen deutschen Kriegervereine für die Idee und bat deren Mitglieder, die Veteranen von 70/71, mit je 1 Mark zur Kasse, so wie das Denkmal-Komitee in Winnetou IV die Angehörigen der verschiedenen Indianerstämme um ihr Gold schröpft. Die Rolle von Old Surehand spielte Fürst Georg zu Schwarzburg-Rudolstadt, in dessen Unterherrschaft das Gebiet des Kyffhäusers lag, und der die Einwilligung des "Allerdurchlauchigsten, Großmächtigsten Kaiser, König und Herrn Wilhelm II." zum Bau des Denkmals einholte - was im Roman Old Surehand bei Old Shatterhand übrigens nicht gelingt.
Selbstverständlich gab es beim Bau des Kaiser-Wilhelm-Denkmals auch Young Surehands und Young Apanatschkas, und zwar gleich deren vier. Der Architekt Bruno Schmitz (1858 - 1916), der den Turmbau selbst entwarf, war der führende Denkmalbauer in Deutschland, verantwortlich für die Monumente am Deutschen Eck
und an der Porta Westfalica, für das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig (52) und sogar für ein Kriegerdenkmal im amerikanischen Indianapolis, was man durchaus als Winnetou-City in die Karl-May-Sprache übersetzen kann, verantwortlich war. Der Bildhauer Emil Hundrieser gestaltete das Reiterstandbild Wilhelms I. sowie die allegorischen Figuren "Geschichte" und "Krieg". Nicolaus Geiger meißelte die Gestalt Barbarossas ins Gestein und August Vogel übernahm die Ausführung der ornamentalen Teile wie Reichsadler, Wappen, Krone und Säulenkapitäle (53).
Hauptmotiv des Denkmals ist "der mächtige, über quadratischem Grundriß sich leicht verjüngende Turm, der über einer breit gelagerten Sockelzone aufwächst. Die Schauseite des Monuments wendet sich nach Osten. Nur an dieser Seite präsentiert sich das Kaisermal mit seinem vollständigen Programm. Hier kommt die Grundidee des Denkmals, die Darstellung der Erfüllung der Geschichte im Reich von 1871, in symbolhafter Abkürzung, gleichsam schlagwortartig, zum Ausdruck. Wir sehen im Sockelgeschoß, gewissermaßen in der Tiefe der Geschichte, Barbarossa im Augenblick des Erwachens, und über ihm - vor einer Nische des bollwerkartigen Turmes - Wilhelm I. zu Pferde, begleitet von den allegorischen Gestalten des Krieges und der Geschichte. Darüber erscheinen die Widmungsinschrift, der Reichsadler 1871 und - als Abschluß des Turmes - die niemals existent gewesene, immer nur Zeichen gebliebene Krone des Zweiten Kaiserreiches" (54)
So, wie sich beim Betrachten des Bismarckturms in Radebeul dem Karl-May-Leser der Turm der alten Mutter aufdrängt, so kommt er nicht umhin, an den Ruinenbau des Hohen Hauses aus dem Silberlöwen zu denken, wenn er, zum winzigen Untertanen geschrumpft, vor dem Kyffhäuser-Denkmal steht. So wie das Denkmal die Erfüllung des nationalen Reichs-Mythos darstellen soll, ist der Ruinenbau im Tal der Dschamikun ein Bildnis von Mays Religionsphilosophie. Wie in Analogie zum Kyffhäuser bedeutet jede Stufe der Ruine einen Schritt in der religiösen Entwicklung der Menschheit, die zum Schluß vom Alabasterzelt gekrönt wird.
Aber auch im Detail stecken Hinweise, daß sich May vom Kyffhäuser-Denkmal hat inspirieren lassen. Was sind [...] die amerikanischen Teocalli? (55) fragt sich May angesichts der Ruinen, und wenn man die Ornamente am Fuße des Denkmals betrachtet, so erinnern August Vogels vor-expressionistische Darstellungen der Lindwürmer und Krieger durchaus an mittelamerikanische Indianerkunst. In Ardistan und Dschinnistan ist die seltsam verzerrende Untersicht, die sich dem Betrachter von Kaiser Wilhelm hoch zu Roß bietet, für May Anlaß zur einer hübschen, satirischen Darstellung des deutschen Denkmalkultes. Massig, schwer und wohlbeleibt, so stand das Pferd auf seinem Postament. Es war, wie gesagt, nicht übel geraten [...] daß es keinen Ochsen, sondern ein Pferd vorstellen sollte, ersah man schon daraus, daß es einen Reiter trug [...]. Dieser war lebensgroß, das heißt nach den Maßen der Ussul. Das Pferd aber war über lebensgroß, und darum erschien der Reiter viel zu klein (56).
Selbst die Höhle der verkalkten Seelen finden wir im Umkreis des Kyffhäuser-Denkmals wieder. Nicht nur, das Bruno Schmitz' Darstellung der Barbarossa-Höhle, zu der er den beim Bau entstandenen Steinbruch zu Füßen des Denkmalsturms gestaltete, genügt hätte, um
Die Höhle wurde im Jahr 1865 entdeckt, als Bergleute einen Stollen in den Berg trieben, um den Kupferschieferbergbau im Kyffhäuser wieder aufzunehmen. Nach einer Strecke von 178 m stießen sie auf unbekannte natürliche Räume, die schon bald - und ab 1891 intensiv - als touristische Attraktion genutzt wurden. 600 von 800 Metern Höhle wurden im Laufe der Zeit erschlossen. Typisch für die Barbarossahöhle sind die flachen Gewölbe des sog. "Empfangssaals" und "Tanzsaals". Sedimentgesteine wie Gips erscheinen weiß bis schmutziggrau, häufig jedoch auch als leuchtende Kristalle und Muster aus Alabaster. Und der wird, so berichtet May, von den Kalkhöhlen ihres Berges den Dschamikun als sog. weißer Rucham geliefert (58). Das Alabasterzelt, das den Zusammenbruch der Ruine auf einem Felssporn ragend übersteht, ist aus diesem Material gebaut. Wie in der Höhle der verkalkten Seelen gibt es auch in der Barbarossahöhle unterirdische Seen, die zwar mit ihren höchsten zwei Metern Tiefe nicht mit einem Kahn befahren werden können - aber immerhin. Neben der Barbarossahöhle sind im Kyffhäusergebirge noch etwa 40 weitere Höhlen und über 80 'Erdfälle', durch ein Einsturz von Gesteinsmassen über Karsthöhlen entstandene Krater, bekannt. Der bekannteste Erdfall ist das "Äbtissinnenloch" - der Nonnenturm läßt grüßen.
Doch nicht nur landschaftlich-architektonisch, auch literarisch hat May sich auf das Kyffhäuser-Denkmal und die Barbarossa-Sage bezogen (59). Abu Schalem, der Scheik der Dschemma der Toten in Ardistan und Dschinnstan, weist eine ganz konkrete Ähnlichkeit mit Barbarossa auf. Ihm ist das Haar im Tode weitergewachsen (60). Die Erfüllung von alten Sagen ist im Kontext des Märchens von Ardistan und Dschinnstan geradezu ein Leitmotiv in Mays Alterswerk. Doch bezeichnenderweise geht es dabei nicht um die Huldigung einer kriegerischen Wiederbegründung eines Reiches, sondern immer um die Rückkehr des Friedens. In Ardistan und Dschinnistan I werden Kara Ben Nemsi auf den Türmen von Ussula von der alten Mutter des Dschirbani jene Naturereignisse gezeigt, die am Ende des zweiten Bandes mit dem Zusammenbruch des Panthers und des Erreichens von Dschinnstan zur Erfüllung der Sage vom versiegten Fluß Ssul (Friede) führen (61). In Winnetou IV geht es um die Erfüllung der Sage vom Berg der Königsgräber, von dem der Junge Adler mit seinem Flugzeug jene Medizinen holt, die den Ursprung der indianischen Rasse in Dschinnistan beweisen (62).
Doch der wesentliche Unterschied zwischen dem Kyffhäuser-Denkmal und Mays Monumentalbauten ist, daß nicht der Bau eines Riesenbauwerkes, sondern dessen Zusammenbruch die Erfüllung der Sagen symbolisiert. Indem May die Strukturen der wilhelminischen National-Mythologie benutzt, stellt er sie gleichzeitig in Frage. In Anlehnung an das Sascha-Schneider-Titelbild von Am Jenseits hat der Filmregisseur Hans-Jürgen Syberberg in seinem Film "Ludwig - Requiem für einen jungfräulichen König" den Schriftsteller als blinden Seher dargestellt, und fast scheint es, als habe May mit den Katastrophen die Zusammenbrüche des Deutschen Reiches von 1918 und 1945 tatsächlich vorausgesehen. Da ihm dies in erster Linie durch ein Hinabsehen in das eigene Ich gelang, möchte man ihm umso mehr das Prädikat eines "Nationalkünstlers" verleihen.
Mays Kritik an der Monumental-Architektur wiegt umso schwerer, wenn man sich die weitere Karriere von Wilhelm Kreis vergegenwärtigt. Während er in den 20er Jahren durch Zweckbauten wie das Dresdner Hygienemuseum, Hochhäuser und Museumsbauten in Düsseldorf, Rat- und Kaufhäuser im Ruhrgebiet, Brücken und Industrieanlagen hervortrat, wurde er in den 30er und 40er Jahren als Schöpfer nationaler Weihestätten von den Nazis vereinnahmt, seit 1943 sogar als 'Präsident der Reichskammer der bildenden Künste'. "Der Weg von seinen Frühwerken bis zu den reifen Leistungen des Siebzigjährigen ist zugleich der Weg des Reiches von Bismarck bis zu Adolf Hitler", rühmte ihn der Reichsrüstungsminister und Hitlers Generalbauinspektor Albert Speer (63). Kreis Entwürfe für zahlreiche monumentale Ehrenmale in den von der Wehrmacht während des zweiten Weltkrieges eroberten Gebieten und seine Entwürfe für das Oberkommando des Heeres im Rahmen der 'Neugestaltung der Reichshauptstadt' nach dem Endsieg wurden zum Glück nicht mehr realisiert. Sascha Schneider hingegen wurde vor einer Verstrickung in die Nazi-Kultur von der Gnade des rechtzeitigen Todes im Jahr 1927 bewahrt. Auch Schneider hätte sich mit seinem Spätwerk gut in die Nazikunst eingefügt, betrachtet man etwa Gemälde wie "St. Michael" von 1920. (64) Größer ist jedoch die Wahrscheinlichkeit, daß er als Homosexueller Opfer des nationalso-
zialistischen Rassenwahns geworden wäre.
Eine historische Ironie am Rande: Das Kyffhäuser-Denkmal überlebte alle deutschen Zusammenbrüche. Selbst als deutsche Kommunisten das Monument 1945 sprengen wollten, wurde dies von der sowjetischen Militäradministration verboten. Begründung: "Ihr Deutschen müßt endlich lernen, mit Eurer Geschichte und Euren Denkmälern zu leben." (65)
Das war zu jener Zeit, als der Teufel auf den Gedanken kam, Baumeister zu werden. Er zeichnete viele tausend Pläne, aber keiner war ihm fromm genug. Da sah er ein, daß man jedes Fach, also auch dieses, erst nach und nach zu erlernen habe, und beschloß darum, zu den Menschen in die Schule zu gehen. [...] So legte er sich also auf den "Stil" und weiter noch auf alles, was sonst noch nötig war. Und als er dann vor seiner Meisterprüfung stand, an was für Bauten hatte er sich geübt? [...] An lauter frommen Werken, die nur zur Ehre dessen errichtet worden waren, für den der Teufel nichts als Haß besitzt. [...]
Drum war sein Haß jetzt gar zum Grimm, zur stillen Wut geworden, weil alle diese Bauten der Wahrheit dienten, aber nicht dem Scheine, und er beschloß, in seinem Meisterstück ein Werk zu schaffen, bei welchem alles Schein, nichts aber Wahrheit sei. Er ging in jenes Felsenland zurück, wo er die Lehre einst begonnen hatte, denn dort war Gott ein lieber Himmelsgast und ließ sich oft bei seinen Menschen nieder. Er saß so gern bei ihnen, licht und hehr, im offnen Alabasterberg, sich seiner Sonne freuend. [...]
In diesen Menscheitsfrieden trat der Andre, den es gelüstete, sein Meisterstück zu machen. [...] Nun sandte er den Neid in Scharen aus, herbeizuschleppen, was er vorbereitet. Und als das nächste Morgenrot erschien, nahm er die göttliche Gestalt des Höchsten an und kam, den frommen Schein ins Werk zu setzen. [...]
Da flogen die Quader herbei, die Säulen, die Steine, die Ziegel. Der Felsen gab das Fundament; die Mauer klammerte sich fest, sie wuchs empor. Der Teufel saß als Gott im Heiligtum. Doch seine Scharen regten sich, ihn eiligst für das Volk hier einzumauern. Das Bauwerk stieg ihm immer höher, bis an den Leib - - - bis an die Brust - - - bis an den Hals! Und betend lag dabei die Andacht auf den Knieen! Der Kopf verschwand nun auch. Fast war der Berg verschlossen. Da schwang ein dunkler Flederhäuter sich aus der letzten Oeffnung und flatterte in das Verschwundensein. Und in demselben Augenblicke erschien der Architekt vor seinem Werke und lobte laut, daß er zufrieden sei. - - -
"Was war es für ein Bau?"
Vielleicht haben wir ihn gefunden.
GR: Karl May's Gesammelte Reiseerzählungen. Freiburg 1892 bis 1912. 33 Bände
KMW: Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Herausgegeben von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Nördlingen, Zürich, Bargfeld. 1987 ff
Jb-KMG: Jahrbuch der Karl May Gesellschaft. Herausgegeben von Claus Roxin u.a. Hamburg, Husum 1969ff
M-KMG: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft
1 Karl May, Von Bagdad nach Stambul. GR III, S. 315. KMW IV.3, S. 272
2 Karl May, Der Schut. GR VI, S. 307. KMW IV.6, S. 275
3 Karl May, Der schwarze Mustang. KMW III.7, S. 110
4 Karl May, Winnetou 1. Band. GR VII, S. 184. KMW IV.12, S. 163.
5 Später, als May im Seminar wohnte, wurde er beim Masturbieren ertappt. "Mir war das Glück beschieden, im Sommer 1963 in einem Aktenband den Nachweis zu entdecken, daß der Seminarzögling MAY Masturbation betrieben hat". Hainer Plaul: Anstelle einer Rezension. ARNO SCHMIDT: Sitara und der Weg dorthin. In: Anlage zu den Mitteilungen der AG Karl-May-Biographie. Nr. 6/ April 1964. Vergl. auch: Andreas Graf: Abenteuer und Sinnlichkeit. In: JB-KMG 1993, S. 341, Anm. 11.
6 Karl May, Die Juweleninsel. KMW II.2, S. 39ff
7 KMW II.2, S. 48ff
8 Karl May, "Weihnacht!". GR XXIV, S. 72. KMW IV.21 S. 67
9 Die Baronin öffnete den Schrank und nahm das einzige Gewand heraus, welches er enthielt. Es war die Festkleidung eines Bauernmädchens aus dem Argonner Walde. [...] sie [...] legte das [...] Gewand an und (...) hatte sich die größte Mühe gegeben, alle ihre Reize hervorzuheben und in das beste Licht zu stellen. Sie stand jetzt da als üppig schönes Bauernmädchen, schön und verführerisch, daß sie im Stande war, auch festere Grundsätze zu Schanden zu machen (...) "Komm, mein Henri, blicke mich an!" (...) Seine Blicke bekamen immer mehr Selbstbewußtes. Karl May, Die Liebe des Ulanen. KMW II. 9. S.93/94
Andrerseits weist der Name Henri auf Mays Vater Heinrich. Die Szene kann auch als eine Erinnerung Mays an eine Verführungssituation seiner Eltern gedeutet werden. Liama ist übrigens auch eine Reminiszenz an Fatima, eine türkische Mätresse August den Starken.
10 KMW II.9, S. 152
11 KMW II.9, S. 150
12 Karl May, Mein Leben und Streben. S. 25f
13 Karl May, Old Surehand 1. Band. GR XIV, S. 12
14 Vergl. Arno Schmidt, Sitara und der Weg dorthin. Kap. "Die große Mutter" und Hans Wollschläger, "Die sogenannte Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung überhaupt". Materialien zu einer Charakteranalyse Karl Mays. In: Jb-KMG 1972/73. S. 11ff
15 Hans Wollschläger, Der 'Besitzer von vielen Beuteln'. Lese-Notizen zu Karl Mays 'Am Jenseits' (Materialien zu einer Charakteranalyse II). In: JB-KMG 1974, S. 161
16 Karl May, Durch das Land der Skipetaren. GR V, S.403f. KMW IV.5, S. 347
17 GR V, S. 419. KMW IV.5, S. 360
18 GR V, S. 415. KMW IV.5, S. 357
19 GR V, S. 473f. KMW IV.5, S. 406
20 Karl May, Im Reiche des silbernen Löwen 2. Band. GR XXVII, S. 543
21 GR III, S. 83. KMW IV.3, S. 78
22 GR XXVIII, S. 544
23 GR III, S. 312. KMW IV.3, S.270
24 Karl May, Im Reiche des silbernen Löwen 3. Band. GR XVIII, S. 501
25 GR XXVIII, S. 508
26 GR XXVIII, S. 511
27 Karl May, Im Reiche des silbernen Löwen 4. Band. GR XXIX, S. 25
28 Umfangreiche Interpretation bei Dieter Sudhoff, Karl Mays Großer Traum. In: JB-KMG 1988, S. 117
29 Karl May, Winnetou 4. Band, GR XXXIII, S.27.
30 Vergl. Hans Wollschläger, Erste Annäherung an den 'Silbernen Löwen'. In: Jb-KMG 1979, S. 110. In diesem Zusammenhang seien auch die Wasserengel in "Ardistan und Dschinnistan" und die Höhle des Wasserfex in "Der Weg zum Glück" hingewiesen. Die Wasserengel - Statuen, in deren Sockel sich Brunnen befinden - sind Vorläufer des Winnetou-Denkmals. Die Höhle des
Wasserfex verbindet die Motive Wasser, tote Mutter und Sarg in der Art eines Horrorromans.
31 Karl May, Durch die Wüste, GR I, S. 306. KMW IV.1, S. 266
32 GR XXVIII, S. 479
33 Thomas Nipperdey, Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert. In: Historische Zeitschrift. Bd. 206, 1968, S. 578
34 Jürgen Helfricht, Friedrich Eduard Bilz - Altmeister der Naturheilkunde in Sachsen, Detmold 1992. S. 18, 25
35 Hansotto Hatzig, Karl May und Sascha Schneider - Dokumente einer Freundschaft, Bamberg 1976, S. 53
36 Rudolf W. Kipp, Die Lu-Droop-Story. In: M-KMG 37, S. 8
37 Nipperdey, S. 34
38 Wie tief Mays Bismarckverehrung war, die in der Karl-May-Forschung immer wieder behauptet wird, kann man nicht einwandfrei feststellen. In der frühen Humoreske "Die falschen Excellenzen" macht sich May mit spitz-satirischer Feder über einen Bismarckverehrer lustig: Der Kerl ist nicht ganz bei Troste. Das ist factisch! (Karl May: Unter den Werbern. KMG-Reprint, S. 224) Der Auftritt Bismarcks als Figur der Zeitgeschichte im Münchmeyer-Roman "Das Waldröschen" darf als ein übliches Stilmittel in historischen Kolportage-Romanen nicht überbewertet werden. Im Kulturkampf-Blatt "Hausschatz" griff May Bismarck sogar an, wenn auch durch die Blume. Die ganze Dschesidi-Episode im wilden Kurdistan ist eine Abrechnung mit Bismarcks Politik den Katholiken gegenüber, die sich als ähnliches Opfer einer progromartigen Attacke wie die Teufelsanbeter durch die Türken sehen mußten. Deswegen kommt diese Sekte in einer einer katholischen Zeitschrift erstaunlich gut weg. Kara Ben Nemsi erweist sich soch sogar als Anti-Moltke. Der Heerführer Bismarcks war in jungen Jahren Militär-Attach&etilde;e in der Türkei und hatte die türkische Armee auf Kriegszüge gegen die Dschesidi begleitet und darüber sehr populäre Bücher geschrieben. Wenn Kara Ben Nemsi den Dschesidi gegen die türkischen Soldaten hilft, so ist das eine handfeste Kritik an Moltke und somit auch an Bismarck. Daß die Weisheitsposen des "Alten von Friedrichsruh" dem alten May Möglichkeiten der Identifikation boten, liegt auf der Hand. Da mag eine Wurzel für die Chodj-y-dschuna-Figur in "Im Reiche des silbernen Löwen III/IV" liegen. Als Gegenpart Wilhelms II., dessen Kolonialpolitik May in "Und Friede auf Erden" kritisiert, mag Bismarck ebenfalls die Sympathien des Schriftstellers genossen haben. Doch der "Realpolitiker" Bismarck, der für einige Kriege im Rahmen der Reichsgründung verantwortlich war, und der pazifistische Utopist May lassen sich nicht in einen Topf werfen.
39 GR XXXIII, S. 446f
40 GR XXXIII, S. 12
41 GR XXXIII, S. 54
42 Hatzig, S. 54
43 Nipperdey, S. 570f
44 Horst Müller, Der Kyffhäuser, Leipzig 1992, S. 8
45 Vergl. Hans-Dieter Steinmetz, Mariechen, Ferdinand und Onkel Karl. Zu einem unbekannten Kapitel im Leben des Ustad. In: M-KMG 69, S. 10
46 Vergl. Arno Brost, Barbarossas Erwachen - Zur Geschichte der deutschen Identität. In: Poetik und Hermeneutik, Arbeitsergebnisse einer Forschergruppe VIII (1977), Stuttgart 1979.
47 Vergl. Hans-Dieter Steinmetz, S.10
48 Nipperdey, S. 578
49 Karl May, Die Rose von Kairwan, Osnabrück 1894, S. 246
50 GR XXXIII, S. 397
51 GR XXXIII, S. 9
52 An dem Wettbewerb für das Völkerschlachtdenkmal nahm auch Wilhelm Kreis teil und gewann sogar den 1. Preis. Den Auftrag jedoch bekam Schmitz, der nur den 3. Preis gewonnen hatte. Für die Ausführung des Denkmals übernahm Schmitz jedoch einige Gedanken von Kreis.
53 Vergl. Diana Maria Friz, Wo Barbarossa schläft. Der Traum vom Deutschen Reich, Weinheim 1991, S. 134
54 Das Kyffhäuser-Denkmal. Ein Führer von Monika Arndt. Göttingen o.J. S. 9
55 GR XXVIII, S. 501
56 Karl May, Ardistan und Dschinnistan 1. Band. GR XXXI, S. 293ff
57 Einrichtung Erholungswesen Barbarossahöhle (Hg.), Die Barbarossa-Höhle im Kyffhäusergebirge. Faltblatt.
58 GR XXXVIII, S. 511
59 Bereits in "Von Bagdad nach Stambul" erwähnt May eine Barbarossa-ähnliche Legende. Im Birs Nimrud sollen die gefallenen Engel Marud und Warud eingeschlossen sein. (GR III, S. 316) Ein zweite islamisch-orientalische Legende, diesen Zusammenhang betreffend, erwähnt er nicht. In seiner recht informativen Betrachtung über die Sunna und die Schia zu Beginn des Buches kommt der verborgene Imam nicht vor, jener letzte, nach Auffassung der Schia einzig rechtmäßige Erbe des Propheten, der in den Ruinen des irakischen Samarra auf seine Wiederkunft harrt und ab und zu eine Inkarnation hat wie in letzter Zeit etwa in dem iranischen Revolutionsführer Ayatollah Khomeini. Es mag sein, daß in Mays Quellen nichts davon stand, denn es ist kaum anzunehmen, daß er sich diese schöne, durchaus messianische Legende entgehen ließ.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf eine weitere 'Unterschlagung' Mays hinweisen. In der Marienkalender-Geschichte "Christus oder Muhammed" (in: Karl May, Orangen und Datteln, GR X) gibt er zu Beginn eine Beschreibung von Marseille, die auf eine aufmerksame Lektüre von Reiseführern schließen läßt. Daß in denen die kolossale, goldene Marienstatue von 'Notre Dame de la Garde', die seit Beginn der 1860er Jahre das Wahrzeichen der Stadt ist, nicht aufgeführt sein soll, kann ich mir nicht vorstellen. May erwähnt diese Figur jedoch nicht, ausgerechnet in einer Marienkalendergeschichte. Vorbild für das Winnetou-Denkmal in 'Winnetou IV' kann sie jedoch trotzdem gewesen sein.
60 Karl May, Ardistan und Dschinnistan 2. Band. GR XXXII, S. 401f
61 GR XXXI, S. 329
62 GR XXXIII, S. 578ff
63 Hans Stephan: Deutsche Künstler unserer Zeit. Wilhelm Kreis. Geleitwort von Reichsminister Albert Speer. Oldenburg 1943.
64 Abgebildet in: Rolf Günter/Klaus Hoffmann: Sascha Schneider und Karl May. Eine Künstlerfreundschaft. Schriftenreihe des Karl-May-Museums 1. Radebeul 1989.
65 Friz, S. 55
66 GR XXIX, S. 212ff
Inhaltsverzeichnis der Horen 178
Veröffentlichungen zu Karl May
Die Barbarossa-Sage war der zentrale Geschichts-Mythos, mit dem die Neugründung des Deutschen Reiches im Jahr 1871 legitimiert wurde. Die Idee des Reiches deutscher Nation, so sahen es die Ideologen, wurde von dem Staufer-Kaiser Friedrich I. 1190 mit in den Schlaf genommen, 1806 von dem Habsburger Franz II., der nach
//70//
der Niederlage gegen Napoleon 1806 die Kaiserkrone niederlegte, verschleudert und schließlich unter preußischer Führung in den Freiheitskriegen 1813 und dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 wiedergewonnen. Wilhelm I., von Fontane 'Barbablanca' genannt, galt als als Vollstrecker der Barbarossa-Sage. (46)
65k Jpg
Steingewordene Abfolge der Geschichte und Erfüllung einer alten Sage: Barbarossa hat die Idee des Reiches mit in den Schlaf genommen; Wilhelm I. läßt es neu entstehen.
//71//
34k Jpg
Ein "Hohes Haus" für die deutsche Nation: Das Kaiser-Wilhelm-Denkmal auf dem Kyffhäuser.
//72//
88k Jpg
53k Jpg
Was sind die südamerikanischen Teocalli: Ornamentale Verzierung am Kyffhäuser-Denkmal.
//73//
//74//
auf die May-Höhle zu verweisen: Nicht weit vom Denkmal, "am südwestlichen Rand des Kyffhäusergebirges, unterhalb der Ruine Falkenberg und des gleichnamigen Bergsporns, etwa 6 km von Bad Frankenhausen" (57) liegt eine wirkliche Barbarossahöhle.
62k Jpg
Das Pferd aber war über lebensgroß, und darum erschien der Reiter viel zu klein: Verzerrende Untersicht vom Kaiser.
//75//
125k Jpg
Abu Schalem: Kaiser Barbarossa.
//76//Karl May - ein Nationalschriftsteller ?
//77//
Wie wenig May das Monumentale, mit dem er sein alter ego Old Shatterhand doch so häufig umgeben hatte, im Alter noch mochte und als Teufelswerk ansah, erzählt er in der Sage von Chodeh, dem Eingemauerten, seiner eigenen - vielleicht etwas unlogischen - Version von Barbarossa und dem Denkmal.
"Kein Mensch vermags zu sagen."
"Wo liegt der Berg?"
"Ich weiß es nicht, doch möchte ich ihn finden." (66)
Zwei der elf vorstehenden Bilder gehören zu der Fotoausstellung »Die Jagdgründe der Phantasie« von Peter Krauskopf und Thomas Range. Fotos: Thomas Range.
//78//Anmerkungen:
Benutzte Abkürzungen:
//79//
//80//