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WINNETOU:


I. WINNETOU tritt auf in:


- OLD FIREHAND/WESTEN

- BOTH SHATTERS


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- WINNETOU (Neufassung von INN-NU-WOH)

- AUF DER SEE

- DEADLY DUST

- ÖLBRAND

- IM WILDEN WESTEN

- WINDHOSE

- BÄRENJÄGER

- GEIST

- SCOUT

- SILBERSEE

- GR 19-22

- ÖLPRINZ

- GR 7

- GR 8

- GR 9

- MUSTANG

- GOTT LÄßT SICH

- BLIZZARD

- GR 24

- MUTTERLIEBE

- (GR 33)


II. Andere Namen WINNETOUs


in GR 21:

- BEN ASRA (278)

- WINNETOU EL HARBI W'NASIR (WINNETOU, KRIEGER UND SIEGER) (349)

in BLIZZARD:

- MR. BEYERs INDIANER (570)


III. Herausragende Aktivitäten/Besonderheiten


in FIREHAND/WESTEN (nicht in GR 8 aufgenommene Besonderheiten):

- W ist leidenschaftlicher Zigarrenraucher; er ißt den Stummel auf. (139/34f)

- W hat Angst vor einem Eisenbahnzug. (141/41f)

in BOTH SHATTERS:

- W ist der Schwager von JOSIAS PARKER.

in AUF DER SEE/GR 15:

- Zweikampf mit MATTO-SIH (RICCARROH), der von W. brutal skalpiert wird, während er mit SAM FIRE-GUN kämpft. (AUF DER SEE: 516 GR 15: 167f)

- W reist mit Sam Fire-gun (u.a.) nach Deutschland. (822ff)

in DEADLY:


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- W will das Grab seines ehemaligen Feindes TSCHU-GA-CHAT schänden. (555 / nicht in GR 9 aufgenommen)

in ÖLBRAND:

- W hat dem ROTEN OLBERS mit dem Tomahawk die rechte Gesichtshälfte abgeschlagen. (166)

- W rettet die Kinder des Ölprinzen WITTLER aus dem brennenden Öltal. (179)

in WINDHOSE:

- (nur erwähnt): W schrieb ein Sprechendes Leder für BRENNENDE PFEIFE. (98)

in BÄRENJÄGER:

- Knieschuß (Hüftschuß) (145f)

- Messer-Zweikampf mit MAKIN-OH-PUNKREH (HUNDERTFACHER DONNER) (170f)

- Erzählung vom ersten Zusammentreffen mit OLD SHATTERHAND (OS) (Zweikampf) (nur GK 1. Jg.: 554)

in SCOUT:

- Zweikampf mit dem (anonymen) ICH-ERZÄHLER, der zur Freundschaft der beiden führt (600, 602 / nicht in GR 8)

in SILBERSEE:

- W springt NANAP NEAV nach einer Beleidigung so an, daß diesem die Hirnschale und der Brustkorb eingetreten werden. (422)

in GR 20:

- W.s Pferd heißt Iltschi (256)

in GR 21:

- W in Dresden (248)

- W in Ägypten/Tunesien (262 pass., 304, 325f)

- Meisterwurf mit dem Tomahawk auf eine Lanze (352f)

in GR 7:

- Zweikampf mit OS, dabei verletzt er diesen schwer (593ff)

in GR 19:

- Knieschuß (326-30)

- Bärenjagd mit OS (421)

in GR 8 (FIREHAND (WESTEN)/SCOUT):

- W skalpiert PARRANOH. (445)

- Liebeswerbung um RIBANNA als Rivale OLD FIREHANDs (als W fast noch ein Knabe war (502f)

in GR 9 (DEADLY/IM WILDEN WESTEN):

- W bringt HOLFERT kaltblütig um. (167)

- W wünscht sich Ave Maria gesungen. (421f)

- Religionsgespräch mit OS (423-29)

- Todesahnung (462)

- W wird von einer Kugel tödlich getroffen. (470)

- W wünscht sich im Sterben nochmals das Ave Maria. (473)

- W bekennt, ein Christ zu sein, und stirbt. (474)


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- W.s Testament (511f)

in GR 24:

- W. hat eine Reihe berühmter Vorfahren. (131)

- W. hat wunderbare »helle« (!) Augensterne. (275)

- W.s Augen (279)

- Frau VON HILLER küßt W. die Hand. (298)

- W. verschenkt am Weihnachtsabend Gold an AMOS SANNEL, HERMANN ROST, EMIL REITER und CARPIO. (607)

in GR 33: (nur erwähnt)

- W. war der besondere Liebling TATELLAH-SATAHs. (21ff)

- W.s wirkliches Testament (236-40, 244, 251-266)

- W.s Wesen, seine symbolische Bedeutung (285)

- W.s Leben am Mount Winnetou (421f)

- W.s Wohnung bei Tatellah-Satah (428f)

- W.s Arbeitszimmer (429)

- W. hat ein Passiflorenkreuz angelegt. (476f)

- Lesung aus W.s Testament (522f)

* * * * *

Der Ruhm Karl Mays ist zu einem großen Teil auf die Wirkung seiner beiden überragenden Ich-Figuren OLD SHATTERHAND und KARA BEN NEMSI zurückzuführen und auf seine dritte omnipotente Heldengestalt, auf Winnetou, den Häuptling der Mescalero-Apachen, der mehr noch als die beiden Ich-Erzähler zum Mythos wurde: »Obwohl es Winnetou niemals gab, wirkt die Persönlichkeit von Karl Mays Romanfigur noch heute auf uns. Obwohl Geronimo seine reale Lebensgeschichte erzählte, hat er eigentlich keine Wirkung auf uns. Geronimo ist Realität. Winnetou ist Wirklichkeit.« 1

An der Gestaltung der Figur hat May von Beginn seines literarischen Schaffens (1875) bis zu seinem letzten Roman (Winnetou IV 1909) gearbeitet. Die Entwicklung der Figur läuft dabei weitgehend parallel mit der des weißen Helden der Amerikaromane. Auffällig ist, daß May in den neunziger Jahren, als er die Old-Shatterhand-Legende aufbaute (seinen Lesern vortäuschte, er, der Schriftsteller Karl May, sei identisch mit seiner Figur, mit dem omnipotenten Westmann Old Shatterhand, und habe dessen Abenteuer wirklich selbst erlebt), auch die Winnetou-Figur biographisch belebte: »Winnetou war geboren 1840 und wurde erschossen am 2.9.1874. Er war noch herrlicher, als ich ihn beschreiben kann«, schrieb May am 21.3.1899 an Sophie von Stieber;2 später verschenkte May Haare vom »berühmten blauschwarzen Schopf des Verblichenen«3 an Verehrer - aber es waren Pferdehaare, und der Schwindel flog auf ... Die Versuche, ein historisches Vorbild für Mays Winnetou auszumachen, sind bislang noch ohne befriedigendes Ergebnis geblieben.4 Besser ist die Forschungslage hinsichtlich der literarischen Vorlagen der Figur. May hat sich durch den exotisch-ethnographischen Abenteuerroman des 19. Jahrhunderts und seine sogenannte primitivistische Variante (französische Frühromantik) anregen


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lassen. François-René Chateaubriand zelebriert in seinen 1801 und 1805 erschienenen Romanen Atala und Rene eine melancholische Europamüdigkeit mit gleichzeitiger Verherrlichung des Indianerlebens, das als tragisch untergehende Kultur geschildert wird. Typisch für diese Variante des exotischen Abenteuerromans, zu der auch Coopers Lederstrumpf-Erzählungen gehören, ist das Auftreten von edlen Wilden (Chateaubriand: Outougamiz; Cooper: Unkas/Chingachgook), die sich durch ihre Gesinnung und ihr Verhalten von dem primitiven Verhalten anderer Indianer (z.B. Coopers Magua) unterscheiden. Für May noch bedeutender sind die Abenteuerromane aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts, die im Südwesten der USA und im Norden Mexikos spielen, also Die Skalpjäger des Iren Mayne Reid (1851) und Der Waldläufer von Gabriel Ferry (1853).

Noch nicht restlos geklärt ist die Frage nach der Herkunft des Namens. Albert Stütz gibt die Bedeutung zunächst mit Brennendes Wasser an. Er entnimmt dem Tagebuch des Mayfreundes Ernst Abel eine Geschichte, die Karl May vor einer Anzahl von Verehrern am 25.3.1898 erzählte:

INTSCHU TSCHUNA, »Winnetous Vater, wurde von allen Apatschenstämmen, mit Ausnahme eines einzigen, als oberster Anführer anerkannt. Er begab sich in Begleitung Winnetous zu diesem abtrünnigen Stamm, um auch dort seine Anerkennung durchzusetzen; beide wurden jedoch gefangengenommen und mit dem Tod bedroht. Das Dorf, in dem die Gefangennahme stattfand, lag an einem kleinen See, dessen Oberfläche mit einer Naphtaschicht bedeckt war. Nun erklärten diese Apatschen: Wenn Winnetou imstande ist, den See lebend zu durchschwimmen, so erhalten beide die Freiheit und Intschu-tschuna wird als Oberhaupt anerkannt. Die Naphtaschicht wurde hierauf in Brand gesteckt, Winnetou (der damals 13 Jahre alt war) von seinen Fesseln befreit. Er sprang sofort ins Wasser und blieb lange Zeit verschwunden, so daß er für tot gehalten wurde; er tauchte aber unerwartet mitten unter den Apatschen wieder auf, mit Brandwunden bedeckt und seines schönen Haars durch das Feuer beraubt. Dieses Ereignis verschaffte Intschu-tschuna die Anerkennung als Oberhaupt durch den bisher feindlich gesinnten Stamm, Winnetou aber den Ehrennamen 'Brennendes Wasser«5

Stütz stellt dann aber fest, daß es in der Apachensprache keine Wörter gibt, die der Übersetzung entsprechen. In dem Werk ›Zwölf Sprachen aus dem Südwesten Nordamerikas‹ von Albert S. Gatschet (1876), das Karl May nachweislich benutzte, fand er aber das Wort vintu aus der Diggersprache, das mit Indianer zu übersetzen ist. Da aber der Name Winnetou schon 1875 von May geschaffen wurde, kommt Gatchets Buch letzlich nicht als Quelle für den Namen in Frage.6 1989 lieferte Werner Poppe einen weiteren Deutungsversuch: In George Catlins Die Indianer Nordamerikas (deutsch 1848 von May nachweislich benutzt), wird ein Blackfeet-Häuptling namens Wun-nes-tou erwähnt. Ganz überzeugend fällt die Theorie, das sei Mays Anregung für den Namen seines Indianerhelden, nicht aus.7 Die von May selbst erfundene Legende um den Namen ist - wenn auch philologisch nicht hieb- und stichfest - die schönste und dem Charakter der Figur am angemessensten.

In seiner Selbstbiographie ›Mein Leben und Streben (LEBEN UND STREBEN 1910) schrieb May über seine frühe Redaktionszeit bei Münchmeyer und seine Arbeit für das Deutsche Familienblatt: »... ich (begann) sofort mit Winnetou, nannte ihn aber


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einem anderen Indianerdialekt gemäß einstweilen INN-NU-WOH.« (185) Inn-nu-woh ist in der Tat der erste Indianer in Mays Werk. Der »finstere Kerl«, wie der ICHERZÄHLER ihn nennt, ist ein großer Häuptling der Sioux-Dakota und »best' Schwimm in United States« (INN-NU-WOH 8). Er schlägt nach einer Beleidigung unmittelbar zu und schmettert seinen Gegner auf den Steinboden. Später rettet er die Tochter seines Widersachers vor einer ausgebrochenen Tigerin. Dank lehnt er stolz ab. Die Verbindung zu Winnetou ist zunächst schwer herzustellen. Lange hat man Mays Behauptung nicht ernstgenommen. 1980 aber wurde die 1878 erschienene Erzählung WINNETOU gefunden, die ein modifizierter Abdruck des Inn-nu-woh-Textes ist und in der der Indianer nun Winnetou heißt.

Das erste Mal taucht die Figur Winnetou jedoch schon kurz nach der Inn-nu-woh-Geschichte in der Erzählung Old Firehand (FIREHAND 1875) auf. Winnetou wird als »großer Häuptling« (125) der Apachen vorgestellt. Er nennt den Ich-Erzähler, der eine Frühform der Old Shatterhand-Figur ist, mehrfach seinen »Bruder«, hat aber mehr ein lehrerhaftes, als ein wirklich freundschaftliches Verhältnis zu ihm. Es werden gemeinsame Abenteuer mit wilden Bisons und feindlichen Indianern erwähnt. Obwohl die Figur nicht näher beschrieben wird, hat May sie sich wohl als älteren Mann vorgestellt, der seinen jungen weißen Freund in den Künsten des Westens unterrichtet hat. Er hat dem Weißen das hervorragende Pferd Swallow geschenkt. Winnetou ist in dieser Erzählung ein edler Wilder, wobei die Betonung durchaus auf Wilder liegt. So sammelt er die Skalpe seiner Feinde, inhaliert den Rauch von Zigarren »nach Indianerweise«, verschluckt dann den Stummel (139) und erschrickt vor der Eisenbahn (141). Er ist ein tapferer Kämpfer. FIREHAND ist eine der blutrünstigsten Erzählungen Mays, noch ganz in der Tradition Mayne Reids, Gabriel Ferrys und Coopers stehend. So ist von einer Schonung der Feinde keine Rede. Die Freundschaft zwischen dem Erzähler und dem Indianer ist vornehmlich eine Kampfgemeinschaft. Es wird erzählt, wie Winnetou einst (in GR 8 nachgetragen: als er fast noch ein Knabe war) mit OLD FIREHAND um die Liebe RIBANNAs warb. Sie wählte Old Firehand. Später begehrte der weiße Jäger TIM FINNETEY die schöne Indianerin. Er überfiel das Lager ihres Stammes, als die Krieger abwesend waren, und tötete Ribanna und ihre jüngste Tochter. Seinen Racheschwur kann Winnetou mit Hilfe des Erzählers am Schluß der Erzählung erfüllen.

Zwar überwiegen in FIREHAND die kämpferischen Akzente der Figur, doch sind auch schon edlere Züge angelegt. So zerbricht die Freundschaft mit Old Firehand nicht an der gescheiterten Werbung Winnetous um Ribanna, Winnetou verspricht der Tochter der beiden sogar seinen besonderen Schutz.

In Die Both Shatters (BOTH SHATTERS) - 1881 erschienen, aber wahrscheinlich eine der frühesten Geschichten Mays, von der vermutet wird, sie sei schon vor 1877 erschienen - wird Winnetou nur erwähnt. JOSIAS PARKER, einer der Both Shatters, hatte WINNETOUs SCHWESTER geheiratet, die von SCHA-TUNGA, einem Häuptling der Yankatou-Sioux, ermordet wurde. In den Erzählungen seines Schwagers ist Winnetou ein stolzer, unerschütterlicher Krieger.

In dem Roman Auf der See gefangen (AUF DER SEE 1878) wird Winnetou zum ersten Male ausführlich beschrieben: »Sein Gewand war sauber und sichtlich gut gehal-


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ten, eine außerordentliche Seltenheit von einem Angehörigen seiner Rasse. Sowohl der Jagdrock als die Leggins waren von weichgegerbtem Büffelkalbleder ... höchst sorgfältig gearbeitet und an den Nähten zierlich ausgefranst; die Mocassins waren aus Elennhaut und nicht in fester Fußform, sondern in Bindestücken gefertigt ... Die Kopfbedeckung fehlte; an ihrer Stelle war das reiche, dunkle Haar in einen Knoten geschlungen, welcher turbanartig auf dem stolz erhobenen Haupte thronte.« (467) Das Auge wird als dunkel und scharf bezeichnet. Sein Auftritt ist imponierend: Der Besitzer eines Store (WINKLAY) will ihn zunächst nicht bedienen, dann als er erfährt, daß Winnetou Gold bei sich hat bietet er ihm Brandy an. Winnetou lehnt ab. Der Wirt weigert sich daraufhin, Winnetou Pulver und Kugeln zu verkaufen. Winnetou appelliert an die Menschlichkeit des Weißen: »›Wir Alle sind Brüder; wir Alle müssen sterben, wenn wir kein Fleisch schießen können; wir Alle müssen Pulver und Kugeln haben.‹« (488) Erst als auch das nichts nutzt, greift er zur Waffe. Die Situation ändert sich schlagartig, als er seinen Namen nennt: »Das Wort hatte eine überraschende Wirkung. Kaum war es ausgesprochen, so traten die Angegriffenen mit allen Zeichen der Achtung und Ehrerbietung von ihm zurück. Winnetou war ein Name, der selbst dem kühnsten Jäger und Fallensteller Respect einflößen mußte. Der Indianer war der berühmteste Häuptling der Apachen.« (468)

Die Apachen, einst als hinterlistige Feiglinge verschrieen, hatten sich unter Winnetous Führung »nach und nach in die geschicktesten Jäger und verwegensten Krieger verwandelt; ihr Name wurde gefürchtet ... an jedem Lagerfeuer und im kleinsten Boarraume ebensowohl wie im Salon des feinsten Hotels (bildete) Winnetou mit seinen Apachen den stehenden Gegenstand der Unterhaltung.« (468) Winnetou war schon oft »über den Mississsippi« gekommen, um die »Dörfer und Hütten der Bleichgesichter« zu sehen und mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten zu sprechen. Er reiste dazu allein nach Washington. »Er war der einzige Häuptling der noch ununterjochten Stämme, welcher den Weißen nicht übel wollte.« (468)

Winnetou ist auch bedeutender als in der FIREHAND-Geschichte an der Handlung beteiligt. So übernimmt er bei der Aktion gegen die Oglala, die einen Zug überfallen wollen, den Oberbefehl. May hat das Kampfgeschehen weitgehend aus FIREHAND übernommen, so erleben wir Winnetou dann doch eigentlich nicht mehr zu seinem vorherigen Auftritt passend als wilden, blutrünstigen Kämpfer, der seinem besinnungslos daliegenden Erzfeind RICCARROH den Skalp bei lebendigem Leibe abreißt und diesen Triumph mit einem markerschütternden Schrei feiert. Die Handlung verlagert sich nach San Francisco und endet in Deutschland. Winnetou spielt deshalb keine große Rolle mehr. Interessant ist, daß er mit nach Deutschland kommt. Er will aber nicht im Schloß MAX VON SCHÖNBERG-WILDAUENs schlafen, sondern übernachtet im Schloßpark: »›wie es thun die Kinder seines Volkes von Jugend auf.‹« (824)

Ein erster Schritt auf dem Weg zum Edelindianer war in AUF DER SEE getan, doch wurde durch den Rückgriff auf die ältere Geschichte der Prozeß unterbrochen. Ähnlich ist es in der teilweise parallel erschienenen Überarbeitung der INN-NU-WOH-Geschichte, die unter dem Titel WINNETOU ab Oktober 1878 erschien (Winnetous Auftritt in AUF DER SEE erschien etwa im August 1878, der Roman insgesamt lief bis zum Ende des Jahres). Die Umbenennung der Titelfigur deutet darauf hin, daß May durch die


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FIREHAND-Geschichte Gefallen an Winnetou gefunden hatte und ihn nun (vielleicht wie Cooper seinen Chingachgook als Held all seiner Lederstrumpfgeschichten verwandte) als seine exklusive indianische Heldenfigur einsetzen wollte. Winnetous Berühmtheit, der Wandel seiner Apachen, seine Reisen - auch die nach Washington - werden mit den gleichen Worten geschildert, wie in AUF DER SEE. Die Beschreibung wird nicht sehr glücklich, da hinter die passendere aus AUF DER SEE zurückfallend, neu gefaßt: »Er schien im Anfange der fünfziger Jahre zu stehen, seine nicht zu hohe Gestalt war von ungewöhnlich kräftigem und gedrungenem Bau, und insbesondere zeigte die Brust eine Breite, die einen hoch aufgeschossenen und langhalsigen Yankee in die respectvollste Bewunderung zu setzen vermochte. Der Aufenthalt im civilisierten Osten hatte ihn genöthigt, eine dort weniger auffällige Kleidung anzulegen, aber das dichte, dunkle Haar hing ihm in langen, schlichten Strähnen bis weit über die Schultern herab, im Gürtel trug er ein Bowiemesser nebst Kugel- und Pulverbeutel, und aus dem Regentuche, welches er malerisch um die Achsel geschlungen hatte, sah der verrostete Lauf einer Büchse hervor, die vielleicht schon manchem Westmanne das letzte Valet gegeben hatte.« (479)

Im Sinne der Aufwertung seines indianischen Helden hat May die Tiger-Episode aus INN-NU-WOH für WINNETOU bearbeitet. Als der Vater des Mädchens, der Winnetou zuvor als Feigling bezeichnet hatte, ihm seinen Dank aufzwingen will, reagiert der Apache hoheitsvoll: »Der Indianer drehte sich langsam um und maß den Sprecher mit ernstem Blicke vom Kopfe bis zu den Füßen herab. Seine Gestalt reckte sich in die Höhe; seine Augen blitzten leuchtend über die Umstehenden, und seine Stimme klang scharf und hell, als er ... sprach ... ›Der weiße Mann irrt. Die rothen Männer haben keinen Muth und kein Herz; sie sind keine Menschen ...‹ ... Mit stolzem Neigen des Hauptes wandte er sich um ... Noch lange sah man sein reiches, mähnenartiges Haar im Winde wehen; noch länger lag der Klang seiner Stimme den Hörern im Ohre, am längsten aber dachte man an den Edelmuth, mit welchem er dem Colonel Böses mit Gutem vergolten hatte.« (491)

Der Erzähler beendet seine Geschichte mit der Mitteilung, er habe Winnetou später wiedergetroffen und mit ihm zahllose Abenteuer in der Prärie erlebt; er nennt ihn »den besten, treuesten und edelsten meiner Freunde« (491).

Die 1878 erschienenen Winnetou-Erzählungen stellen eine wichtige Station auf dem Weg zum Mythos Winnetou dar. May wertete die in der Indianerliteratur der damaligen Zeit wie Tiere beschriebenen Apachen zu einem Stamm von edlen Wilden auf, stellt Winnetou als indianischen Helden und Staatsmann von hohem Charakter und bedeutenden geistigen und politischen Fähigkeiten dar.

Die konkrete Auseinandersetzung mit dem Roman Der Waldläufer von Gabriel Ferry, den Karl May 1879 »für die Jugend« bearbeitete, hatte besondere Auswirkung gerade auf die Gestaltung Winnetous. Der indianische Held in Ferrys Roman ist der Comanche Rayon-Br-lant (Brennender Strahl - bei May heißt die Figur FALKENAUGE). Die Übersetzung erinnert an Mays Übersetzung des Namens Winnetou mit Brennendes Wasser. Wichtig für die Winnetoufigur wurden nicht die Aktivitäten Falkenauges, sondern seine Beschreibung. Man vergleiche die Passage aus dem Waldläufer mit dem Bild


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Winnetous, das 1880 in dem Roman Deadly Dust (DEADLY/GR 9) von Winnetou gegeben wird:

»Die eleganten, nervigen Körperformen und der elastische, stolze Schritt mit welchem der junge Krieger eintrat, mußten sofort imponiren. Seine breiten Schultern und seine starke Brust waren nackt; um seine engen, gerundeten Hüften schlang sich eine feine Decke von Santillo, in glänzenden, verschiedenartigen Farben schillernd. Gamaschen von scharlachrothem Tuche bedeckten seine Unterschenkel; von Pferdehaar gestickte Kniebänder und merkwürdig aus Stachelschweinsborsten gearbeitete Eicheln umschlossen über den Knöcheln diese Gamaschen, und die Füße staken in den kunstreichen Moccassins ... Sein Kopf war, mit Ausnahme eines Büschels kurzer Haare, der wie ein Helmbusch aussah, ganz geschoren und mit einem höchst sonderbaren Schmucke bedeckt. Es war ... eine Art schmalen Turbans, aus zwei malerisch um seine Stirn gewundenen Tüchern bestehend. Die glänzende, trockene Haut einer ungeheuren Klapperschlange schlang sich durch die Falten des Turbans, und sowohl der noch mit den Klappern versehene Schwanz als auch der mit spitzigen Zähnen bewehrte Kopf des Thieres hingen an jeder Seite seiner Schulter herab. Wäre sein Gesicht von den entstellenden Malereien frei gewesen, so hätte man eine echt römische Nase, eine hohe Stirn, auf welcher Muth und Biederkeit thronten, einen kühn geschnittenen Mund und zwei Augen bewundern können, welche bestimmt sein schienen, durch ihren Blick zu herrschen. Die fast unmerklich hervortretenden Wangen störten die schöne Harmonie der Züge nicht, vielmehr gaben sie ihnen etwas eigenthümlich Fremdartiges, was den Be- »Die zierlichen, nervigen Körperformen und die Spannkraft einer jeden seiner Bewegungen hätten auch dem stärksten, erfahrensten Trapper imponirt. Seine breiten Schultern und seine starke Brust waren nackt und von zahlreichen Narben bedeckt. Um seine engen, gerundeten Hüften schlang sich eine feine Decke von Santillo, in glänzenden, verschiedenartigen Farben schillernd. Eine kurze, prächtig gegerbte Wildlederhose legte sich eng um seine muskulösen Oberschenkel und war an den Seiten mit den Scalplocken getödteter Feinde geschmückt. Gamaschen von scharlachrothem Tuche bedeckten seine Unterschenkel; Kniebänder, von Menschenhaar geflochten, welches jedenfalls auch von den Scalpen der Feinde stammte, und aus Stachelschweinsborsten gefertigte Eicheln umschlossen über den Knöcheln und unterhalb der Kniee diese Gamaschen und die Füße steckten in wirklich kunstreichen Moccassins, welche mit Zierrathen von Pferdehaar ausgeputzt waren. Von seiner Schulter hing das Fell eines grauen Bären. Wäre sein Gesicht nicht mit Kriegsfarben bemalt gewesen, so hätte man eine ächt römische Nase, eine hohe Stirn, auf welcher Muth und Biederkeit thronten, einen kühn geschnittenen Mund, und zwei Augen bewundern können, welche bestimmt zu sein schienen, durch ihren Blick zu herrschen. Die fast unmerklich hervortretenden Backenknochen störten die schöne Harmonie der Züge nicht, vielmehr gaben sie ihnen etwas eigenthümlich Fremdartiges, was den Beschauer fesseln mußte. Seine Waffen bestanden in einem leichtgekrümmten Scalpmesser, einem glänzenden Tomahawk, zwei Re-


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schauer fesseln mußte. Seine Waffen bestanden in einem leicht gekrümmten Skalpirmesser, einem glänzend geschliffenen Tomahawk, einem kunstvoll geflochtenen Lasso, welches in kurzen Bogen um seine Hüften hing, und einer Büchse, deren Holztheile eng mit silbernen Nägeln beschlagen waren. So wie er da stand ..., hätte er ruhig auf dem elegantesten Maskenballe einer der europäischen Residenzen erscheinen können, niemand würde geglaubt haben, daß all die beschriebenen Dinge der Savanne wirklich angehörten, so nett und sauber war jeder Zollbreit an ihm, und so elegant und gebieterisch zugleich seine ganze Erscheinung.«

(WALDLÄUFER, 337f)

volvern, einem künstlich geflochtenen Lasso, welcher in kurzen Bogen um seine Hüften hing, und in einer gezogenen Doppelbüchse, deren Holztheile eng mit silbernen Nägeln beschlagen waren. So wie er hier saß ..., hätte er ruhig auf der Bühne oder auf einem der eleganten Maskenbälle einer europäischen Residenz erscheinen können, und Niemand würde geglaubt haben, daß alle diese Dinge dem wilden Westen gehörten, so nett und sauber war jeder Zollbreit an dem rothen Krieger, und so ritterlich und gebieterisch zugleich seine ganze Erscheinung.«


(DEADLY, 536)


Die Beschreibung Falkenauges orientiert sich eng am Text Ferrys. Nur die Bewaffnung hat May hinzugefügt. Die berühmte Silberbüchse Winnetous hat möglicherweise ihr Vorbild in dem mit Messingnägeln beschlagenen Gewehr SANG-MELEs.

In DEADLY hat May zum ersten Mal in seinem Werk seinen weißen Ich-Helden Old Shatterhand auftreten lassen, der als berühmter und wegen seines Jagdhiebes gefürchteter Held zu den Westmännern erster Garnitur zählt. Er zeichnet sich durch unübertreffliche Meisterschaft in allen Künsten des Westmannslebens (Fährtendeuten, Schießen, Kämpfen mit allen Waffenarten) aus. Diesem Helden wollte May einen ebenbürtigen Freund an die Seite stellen. Da kam ihm die Vorlage Ferry gerade recht. Er wandelte seinen indianischen Krieger Winnetou vom in den mittleren Jahren stehenden Mann in einen jugendlichen Helden um, der nicht nur durch den Ruhm seiner Tapferkeit und seiner Unbesiegbarkeit, sondern auch durch sein Äußeres, das nach klassisch-römischem Schönheitsideal und nach deutschen Reinlichkeitsvorstellungen gestaltet ist, unter allen Indianern herausragt. Die Freundschaft mit Old Shatterhand ist noch etwas distanziert, obwohl Winnetou ihn vertraulich »Shar-lih« nennt. Es wird angedeutet, daß die Freundschaft darauf zurückgeht, daß Winnetou einst den von einem Grizzly schwer verwundeten Old Shatterhand gesundpflegte. Im Verlaufe der Erzählung wird aus der Kampfgemeinschaft echte Freundschaft.

Der Figur haften in DEADLY noch immer Züge der vorangegangenen Kriegerkonzeption an; Winnetou ist noch nicht ganz Edelindianer, so erschießt er kaltblütig den Verbrecher HOLFERT und will das Grab eines feindlichen Häuptlings (TSCHU-GA-CHAT) schänden, er lehnt es auch ab, mit seinen Feinden, den Comanchen das Calumet des Friedens zu rauchen.


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Schon in der nächsten Amerika-Erzählung, in Im 'wilden Westen Nordamerica's' (IM WILDEN WESTEN/GR 9), die 1883 erschien, von der Roland Schmid jedoch vermutet, es gäbe eine etwa 1881 gedruckte (noch nicht entdeckte) Erstfassung,8 läßt May Winnetou sterben. Die Beschreibung Winnetous ist mit der aus DEADLY weitgehend identisch. Zusätzlich beschrieben wird seine Haartracht: »Sein Kopf war unbedeckt, und er trug das Haar in einen hohen Schopf geflochten, aus welchem das Häuptlingszeichen, mehrere Rabenfedern, hervorragten; dadurch erhielt diese Frisur ein helmartiges Aussehen, welche das Kriegerische seines Ausdruckes erhöhte.« May gibt dann ein Charakterbild: »Das also war der Mann, dessen Name an jedem Lagerfeuer lebte, dessen Ruf von dem einen Meere bis zum andern reichte, und dessen Thaten in jedem Munde waren. Verehrt von den Freunden, war er zugleich geachtet und gefürchtet bei den Feinden. Er hatte noch niemals einem Gegner den Rücken gewandt, aber er war fern jedem Bludurste, und Gerechtigkeit leitete alle seine Handlungen.« (99)9

Die Schilderung des unverhofften Treffens der beiden Freunde Winnetou und Old Shatterhand zeigt, daß May das Verhältnis jetzt entschieden intimer gestalten wollte, als in den Erzählungen davor: »Ja, das war er, der Held so vieler Abenteuer, der einzige Indianer, den ich von Herzen lieb gewonnen hatte, der herrliche stolze Krieger10 ... ›Schar-lih!‹ rief er frohlockend ... Er öffnete die Arme, und wir lagen uns am Herzen. ›Schar-lih, shi shteke, shi ntaye Charles, mein Freund, mein Bruder!‹ rief er, beinahe weinend vor Freude. ›Shi inta ni inta, shi itchi ni itchi mein Auge ist Dein Auge, und mein Herz ist Dein Herz!‹ ... Er blickte mich immer von Neuem mit liebevollen Augen an; er drückte mich immer von Neuem an seine Brust ...« (64/98 GR 9, 389)

Überhaupt wird die Figur nun weicher gezeichnet - auch äußerlich: Winnetou hat jetzt auch eine Friedenspfeife umhängen. Deutlich wird die Wandlung in der Helldorf-Episode. Winnetou hört die Siedler ein Ave Maria singen. Er fühlt sich durch den Gesang so angerührt, daß er sie bittet, es für ihn noch einmal vorzutragen. Im Anschluß an dieses Erlebnis spricht Winnetou mit Old Shatterhand über Tod und Religion. Im Gegensatz zu den religiösen Gesprächen zwischen HALEF und Kara Ben Nemsi, die meist auch humoristische Untertöne haben und zudem aus der Distanz des Herr-Diener-Verhältnisses geführt werden, handelt es ich hier um ein Gespräch zwischen gleichrangigen Freunden: Nachdem Old Shatterhand Winnetou davon überzeugt hat, daß der christliche Glaube gegenüber den indianischen Vorstellungen »Ruhe, Frieden, Trost« spenden kann, erzählt er »von dem Glauben der Bleichgesichter«: »ich redete zu ihm in jenem milden, überzeugungsvollen Tone, welcher zum Herzen dringt, jedes Besserseinwollen vermeidet und den Hörer gefangennimmt, obgleich er diesen denken läßt, daß er sich aus eigenem Willen und Entschließen ergeben habe ... Es war ein liebevolles Netzauswerfen nach einer Seele, die wert war, aus den Banden der Finsternis erlöst zu werden.« (GR 9, 427) Das Glaubensgespräch, überhaupt die missionarische Tätigkeit Old Shatterhands, gründet hier nicht allein in dem Sendungsbewußtsein dieser Figur, wichtig ist vielmehr, daß beide Freunde so weit eins werden, daß sie auch im Glauben einig sein wollen: »›Mein Bruder Schar-lih hat recht gesprochen. Winnetou hat keinen Menschen geliebt als ihn allein; Winnetou hat keinem Menschen vertraut als nur seinem Freunde, der ein Bleichgesicht ist und ein Christ ... Er hat seinen Bruder Winnetou niemals getäuscht und wird ihm auch


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heut die Wahrheit sagen. Das Wort meines Bruders gilt mehr als das Wort aller Medizinmänner ...‹« (GR 9, 426f) Nach dem Gespräch und nachdem er nochmals das Ave Maria gehört hat, erklärt Winnetou: »›Winnetou wird die Töne seiner weißen Freunde nie vergessen. Er hat geschworen, von jetzt an nie mehr den Scalp eines Weißen zu nehmen, denn die Weißen sind die Söhne des guten Manitou, der auch die rothen Männer liebt!‹« (169/GR 9, 429)

Warum May seinen indianischen Helden, nachdem er ihn zum ersten Mal als Edelmenschen gezeichnet hat, direkt sterben ließ, ist noch nicht ergründet worden. Winnetou wird bei der Befreiung der Helldorf-Siedler durch die Kugel eines Oglala getötet. Im Sterben läßt er sich das Ave Maria noch einmal vortragen. Dann »flüsterte er: ›Schar-lih, ich glaube an den Heiland. Winnetou ist ein Christ. Lebe wohl!‹« (237/GR 9, 474) Gegenüber den emotionsgeladenen Passagen gerade der Old Shatterhand-Winnetou-Szenen überrascht, daß die Trauer Old Shatterhands über den Tod Winnetous nur angedeutet wird: »Was soll ich weiter erzählen? Käme doch bald die Zeit, in der man solche blutige Geschichten nur noch als alte Sagen kennt.« (237/GR 9, 474) Nach diesen Worten geht Old Shatterhand (nur in der frühen Fassung, nicht in GR 9) gewissermaßen zur Tagesordnung über und berichtet vom weiteren Schicksal der Helldorf-Siedler.

In den ab 1883 geschriebenen Erzählungen und Romanen (Ausnahme: Der Scout 1888) ändert sich bis zu Mays letztem Roman Winnetou IV (1909) an der Konzeption der Winnetou-Figur nichts wesentliches mehr. Es werden nur noch Details nachgetragen. 1886 schrieb May für die Jugendzeitschrift Der gute Kamerad den ersten seiner ausdrücklich für die Jugend konzipierten Romane Der Sohn des Bärenjägers (BÄRENJÄGER). Darin paßt er die Beschreibung Winnetous dem Edelindianerstatus an:

»Er war ganz so gekleidet wie Old Shatterhand, nur daß er anstatt der hohen Stiefel Mokassins trug. Auch eine Kopfbedeckung hatte er nicht. Sein langes, dichtes, schwarzes Haar war in einen hohen, helmartigen Schopf geordnet und mit einer Klapperschlangenhaut duchflochten. Keine Adlerfeder schmückte diese indianische Frisur. Dieser Mann bedurfte keines solchen Zeichens, um als Häuptling erkannt und geehrt zu werden. Wer nur einen Blick auf ihn richtete, der hatte sofort die Ueberzeugung, einen bedeutenden Mann vor sich zu haben. Um den Hals trug er den Medizinbeutel, die Friedenspfeife und eine dreifache Kette von Bärenkrallen, Trophäen, welche er sich selbst mit Lebengefahr erkämpft hatte. In der Hand hielt er ein doppelläufiges Gewehr, dessen Holzteile dicht mit silbernen Nägeln beschlagen waren. Dies war die berühmte Silberbüchse, deren Kugel niemals ihr Ziel verfehlte. Der Ausdruck seines ernsten, männlich schönen Gesichtes war fast römisch zu nennen; die Backenknochen standen kaum merklich vor, und die Hautfarbe war ein mattes Hellbraun mit einem leisen Bronzehauch. Das war Winnetou, der Apachenhäuptling, der herrlichste der Indianer. Sein Name lebte in jeder Blockhütte und an jedem Lagerfeuer. Gerecht, klug, treu, tapfer bis zur Verwegenheit, ohne Falsch, ein Freund und Beschützer aller Hilfsbedürftigen, gleichviel ob sie rot oder weiß von Farbe waren, so war er bekannt über die ganze Länge und Breite der Vereinigten Staaten und deren Grenzen hinaus.« (64)

Trotz der ständig von May betonten Gleichrangigkeit der beiden Freunde ist bei genauerem Hinsehen Old Shatterhand stets die dominante Figur. Der Weiße übernimmt


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immer die schwierigeren Aufgaben: im BÄRENJÄGER entführt er den Shoshonenhäuptling TOKVI-TEY, während Winnetou ihm nur die Zeltdecke hält, bei den Upsaroka-Zweikämpfen erhält Winnetou den etwas leichteren Gegner und kämpft im noch nicht entscheidenden ersten Kampf. Daß Old Shatterhand Winnetou überlegen ist, zeigt auch der Beginn der Freundschaft, den Winnetou Tokvi-tey erzählt: »›Das war am Rio Gila ... Winnetou war noch jung. Er wurde ausersehen, die Fährte der Komanchen zu suchen ... Er erhielt zehn Krieger, welche mit ihm ritten, und es gelang, die Spur des Feindes zu finden. Auf dem Rückwege sah er einen Rauch aufsteigen und schlich hinzu, um zu sehen, welche Männer an dem Feuer zu finden seien. Es waren fünf Bleichgesichter. Die Apachen standen mit den Weißen in Feindschaft; darum beschloß Winnetou, sie zu überfallen und sich mit ihren Skalpen zu schmücken. Der Ueberfall gelang den roten Männern, aber zu ihrem eigenen Schaden. Die Bleichgesichter wurden überrumpelt, aber sie waren tapfer, sie wehrten sich. Einer von ihnen war hinter einen Baum gesprungen und schoß einen Roten nach dem andern nieder. So starben vier Bleichgesichter, aber auch die zehn Apachen, welche mit Winnetou waren. Endlich waren nur noch das tapfere Bleichgesicht und Winnetou übrig. Der Weiße warf sein Gewehr weg und stürzte sich auf den Roten. Er riß ihn zu Boden und entwand ihm die Waffen. Winnetou war verloren; er lag unter dem Weißen und konnte sich nicht bewegen, denn dieser letztere war stark wie ein grauer Bär. Der Apache riß sein Jagdhemd auf und bot dem Feinde die nackte Brust. Dieser aber warf das Messer weg, stand auf und reichte Winnetou die Hand. Sein Blut war geflossen, denn Winnetou hatte ihn in den Hals gestochen, und dennoch schonte er das Leben des Apachen. Dieses Bleichgesicht war Old Shatterhand. Seit jener Zeit sind beide Männer Brüder gewesen, und sie werden Brüder bleiben, bis der Tod sie voneinander trennt.‹« (GK 1. Jg.: 554f diese Passage wurde von May für die Buchausgabe gestrichen.)

Winnetou fährt fort: »›Und seit Winnetou seinen Bruder Old Shatterhand gefunden hat, ist ihm die Erkenntnis gekommen, daß der große Geist die Liebe ist, daß unser guter Manitou traurig sein Haupt verhüllt, wenn seine Söhne sich untereinander zerfleischen. Der Schöpfer der Erde hat seinen Sohn Je-su gesandt, um seinen roten und weißen Kindern wissen zu lassen, daß Friede sein soll in allen Ländern. Das Kriegsbeil soll vergraben sein und das Calumet der Versöhnung geraucht werden von Ort zu Ort, von Stamm zu Stamm. Der Häuptling der Schoschonen wird das nicht begreifen; er mag, wenn er es erfahren will, selbst mit Old Shatterhand sprechen. Winnetou hat keinen Mund zu dieser Rede; aber er reitet von Nord nach Süd, von Ost nach West, von Stamm zu Stamm, um durch sein Beispiel zu lehren und zu zeigen, daß die roten und weißen Kinder des großen Geistes in Liebe und Frieden bei einander wohnen können, wenn sie nur wollen ...‹« (GK 1. Jg.: 555 diese Passage wurde von May für die Buchausgabe gestrichen.)

Mit der Edelmenschrolle verweichlicht das Bild Winnetous. Es wird androgyner, erhält stärker weibliche Züge. Das läßt sich an kleinen Änderungen der Beschreibung festmachen. Im auf den BÄRENJÄGER folgenden Roman Der Geist des Llano estakado (GEIST) wird der als kriegerisches Attribut eingeführte Haarhelm nicht mehr erwähnt, die Haare hängen nun lang und weit über den Rücken herab.


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Es wird betont, daß das Gesicht bartlos ist. Eindeutige Anzeichen lassen vermuten, daß May mit der Winnetou-Figur Erinnerungen, Vorstellungen, Grundhaltungen, die mit seinem Mutterbild in Verbindung stehen, verband.11

In seinem Roman Der Scout (SCOUT/GR 8) versuchte Karl May, seinen weißen Wildwesthelden neu zu konzipieren. Es war ihm wohl deutlich geworden, daß seinem Old Shatterhand die vom Leser nachzuvollziehende, mitzuerlebende Vorgeschichte fehlte. So kreierte er einen neuen, einen anonymen Ich-Helden, den er als wahres Greenhorn an der Seite OLD DEATHs in den Westen ziehen läßt. Auch die Winnetou-Figur war von diesem Neubeginn betroffen; May mußte einen Winnetou darstellen, der noch nicht der Freund des Ich-Helden war. Winnetous Auftritt in diesem Roman gleicht dem in AUF DER SEE; May setzt seinen roten Helden geschickt in Szene: In einem Wirtshaus randalieren Rowdies, Winnetou tritt ein. »Es gibt Menschen, welche gleich im ersten Augenblicke der Begegnung, noch ehe sie ein Wort gesprochen haben, einen tiefen, unauslöschlichen Eindruck auf uns machen. Ohne daß eine solche Person sich freundlich oder feindselig verhalten hat, fühlt man deutlich, ob man sie hassen oder lieben werde. Ein solcher Mensch war dieser Indianer. Er trug ein weißgegerbtes und mit rother, indianischer Stickerei verziertes Jagdhemde. Die Leggins waren aus demselben Stoffe gefertigt und an den Nähten mit dicken Fransen von Scalphaaren besetzt. Kein Fleck, keine noch so geringe Unsauberkeit war an Hemd und Hose zu bemerken. Seine kleinen Füße steckten in mit Perlen gestickten Moccassins, welche mit Stachelschweinsborsten geschmückt waren ... die Lippen des vollständig bartlosen Gesichtes waren voll und doch fein geschwungen ... Die Wirkung seiner Persönlichkeit war so groß, daß sich bei seinem Eintreten eine wahre Kirchenstille einstellte.« (251/vgl. GR 8, 59f) Winnetous Stimme wird als wohlklingend, sonor bezeichnet. Es fällt auf, daß die Beschreibung, die durch die bekannte Schilderung der Waffen und des helmartigen Haarschopfes vervollständigt wird, männliche und weibliche Züge/Attribute fast gleichwertig mischt.

Auf eine Bemerkung Old Deaths hin erzählt Winnetou von seinem Onkel (WINNETOUs ONKEL): »›Er wurde der Lehrer seines Neffen Winnetou und hat ihn unterrichtet, gut zu sein und die Sünde von der Gerechtigkeit, die Wahrheit von der Lüge zu unterscheiden‹« (252) Damit wird die Bildung und das souveräne Auftreten in der weißen Zivilisation erklärt. Er zeigt auch gleich, was er von den Weißen hält: Einen ihn provozierenden Rowdy wirft er kurzerhand aus dem Fenster. Den Ich-Erzähler beachtet er nicht, blickt ihn sogar beim Abschied recht verächtlich an, da er meint, dieser sei nicht energisch genug gegen Rowdies vorgegangen. Gegen Ende des Romans wird der Erzähler (in SCOUT noch nicht Old Shatterhand !), der mit Old Death im Lager der Comanchen weilt, bei einem Angriff der Apachen auf das Lager in einen Kampf mit Winnetou verwickelt: »Eine dunkle Gestalt tauchte grad vor mir auf, sprang augenblicklich auf mich ein und warf mich zu Boden. Der Mann kniete auf mir und legte mir die Hände um den Hals, so daß ich keinen Laut ausstoßen konnte ... Er wollte mich erwürgen, ohne irgend ein Geräusch zu verursachen. Der Mann besaß eine ungeheure Körperstärke. Seine Finger lagen wie eiserne Klammern um meinem [!] Halse. Nur mit List konnte ich mich retten. Ich machte einige konvulsivische Bewegungen und streckte mich lang aus, wodurch in ihm der Glaube erweckt wurde, daß mir der Athem ausgegangen sei. Jetzt löste


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er seine rechte Hand von meinem Hals, jedenfalls um nach dem Messer zu greifen, es mir in das Herz zu stoßen und mir dann denn Scalp zu nehmen. Mit der Linken hielt er mich noch fest, aber ich konnte doch einen Athemzug thun. Diesen Augenblick mußte ich benutzen. Ich bäumte mich empor und warf ihn ab. Er flog zur Seite auf den Boden und ich schnellte mich auf ihn, um nun meinerseits ihn beim Halse zu nehmen. Da erhielt ich einen Stoß gegen das Kinn, so daß mir der Kopf in den Nacken flog ein Knirschen und Prasseln in meiner linken Kinnlade ich achtete nicht darauf. Er hatte mir das Messer von unten herauf in diesselbe gestoßen; die Klinge war, wie sich später herausstellte, in die Mundhöhle gedrungen, ohne glücklicherweise die Zunge zu verletzen. Ich hatte ihn bei der Kehle und drückte ihm dieselbe so zusammen, daß seine Hand sich vom Griffe des Messers löste. Es blieb mir in der Wunde stecken. Er faßte meine Hände, um sie los zu bringen, er versuchte, mich abzuwerfen, vergebens. Für mich handelte es sich um Tod oder Leben, und ich nahm alle Kraft zusammen, mich zu retten. Keiner von uns beiden hatte bis jetzt ein Wort oder auch nur einen Laut hören lassen, jeder war nur darauf bedacht, den Feind nicht aufkommen zu lassen Er machte es mir ungeheuer schwer und entwickelte eine Gewandtheit, welche fast noch größer war, als seine Körperkraft. Mit aalglatten Bewegungen suchte er mir zu entschlüpfen. Aber es gelang ihm nicht. Endlich wurden seine Bewegungen langsamer und schwächer, und seine Hände lösten sich von den meinigen. Er lag still ... Ich hatte Winnetou besiegt!« (600/602 nicht in GR 8 übernommen) Winnetou, der den Ich-Erzähler für einen Verbündeten der Comanchen gehalten hatte, wird über seinen Irrtum aufgeklärt und freigegeben, er verabschiedet sich: »›Er wird den beiden Bleichgesichtern [sc. Old Death war hinzugekommen] dankbar sein, so lange er lebt.‹« (615) Etwas später beteuert er: »›Winnetou wurde während seines Lebens zum ersten Male besiegt; sein Leben und sein Scalp gehörten diesem jungen Manne ... Ihr könnt von dem Häuptlinge der Apachen Alles verlangen, was er vermag. Er wird es euch geben.‹ ... er ließ sich von mir das Totem [sc. das der Erzähler von INDA-NISCHO erhalten hatte] zeigen und vervollkommnete es durch einige Schnitte. Er schwor mir, weil ich ihn nicht getödtet, ewige Freundschaft.« (648/650 nicht in GR 8) Franz Kandolf meint dazu: »... noch nie ist die Zeremonie eines Freundschaftsschlusses trockener und nüchtener geschildert worden«12 Der junge Weiße erhält von Winnetou ein wertvolles Pferd aus Winnetous eigener Zucht geschenkt. Der Apache läßt den Weißen das Pferd besteigen, obwohl er wußte, daß es ihn sofort abwerfen werde: »Ich hätte den Hals brechen können! Ein ächter Indianerstreich.« (680 nicht in GR 8) Auch dieses Verhalten zeugt nicht von Seelenfreundschaft. Kandolf meint: »Der Leser hat den Eindruck, daß Winnetou kaum mit seinem weißen Bruder Freundschaft schließen würde, wenn dieser ihm nicht das Leben geschenkt hätte.«13 Erst zum Abschied wird Winnetou herzlicher: »Ein Indianer liebt es keineswegs, seine Gefühle zu äußern wie ein Weißer. Winnetou aber machte heute eine Ausnahme. Er umarmte mich, küßte mich auf die Wange ...« (682 nicht in GR 8)

Dieses weichere Schlußbild paßt zur Haltung Winnetous, als er vor der Entscheidung steht, die eingeschlossenen Comanchen niederschießen zu lassen: »›Winnetou kennt weder Furcht noch Angst, aber der Rücken wird ihm kalt, wenn er daran denkt, daß er das Zeichen der Vernichtung geben soll.‹« (681/GR 8, 385) Möglicherweise ist das ambiva-


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lente Bild Winnetous in SCOUT darauf zurückzuführen, daß May in diesem Roman versuchte, für seinen weißen Wildwesthelden eine Abenteurerbiographie zu schaffen. Der Versuch kann nicht als gelungen bezeichnet werden, und auch die Integration der eigentlich schon weitgehend vollkommenen Winnetou-Figur in das neue Konzept ist nicht zufriedenstellend.

Im auf SCOUT folgenden Amerikaroman Der Schatz im Silbersee (SILBERSEE 1890/91) und in Satan und Ischariot I-III (GR 20-22 entstanden 1891/92) kehrt May wieder zu dem vom BÄRENJÄGER bekannten Winnetoubild zurück. Zwei Beispiele aus diesen Werken machen deutlich, daß das Zwiespältige in der Figur noch nicht überwunden ist - wohl auch, weil May noch immer kein wirklich überzeugendes Konzept für den weißen Helden gefunden hatte: In SILBERSEE findet sich eine der brutalsten Szenen des Mayschen Oevres: Der Apache wird von dem alten Utah-Häuptling NANAP NEAV schwer beleidigt: »Winnetou war dem Alten mit einem gewaltigen Satze gegen den Leib gesprungen, hatte ihn dadurch hintenüber geworfen, versetzte ihm mit der Ferse einige Hiebe und Tritte auf die Brust und gegen den Kopf und kehrte wieder nach seinem Platze zurück ... Die Hirnschale war ihm [sc. dem Utah] an der rechten Seite des Kopfes eingetreten und ebenso ein Teil des Brustkastens.« (422)

In GR 20 erleben wir eine außergewöhnliche Begrüßungsszene zwischen Old Shatterhand und seinem roten Bruder: Winnetou »riß sein Pferd mitten im Ventre ... terre zurück, so daß es sich hoch aufbäumte und fast überschlug; dann trieb er es weiter, stellte sich in den Bügel hoch und schrie mit jubelnder Stimme: ›Scharlieh, Scharlieh!‹ ... ›Winnetou, Winnetou, n'scho, n'scho Winnetou, Winnetou, wie gut, wie gut!‹ antwortete ich, indem ich mein Pferd ihm entgegentrieb. Er kam gleich einem Halbgotte dahergesaust. Stolz und aufrecht, wie angewachsen, saß er auf dem fliegenden Rappen, den beschlagenen Kolben der Silberbüchse auf das Knie gestemmt. Sein edles Gesicht mit den gebräunten, fast römischen Zügen strahlte vor Freude; seine Augen glänzten. Ich war aus dem Sattel. Er gab sich gar nicht die Mühe, sein Pferd im Laufe anzuhalten; er ließ die Büchse zur Erde gleiten, und schnellte sich, während es an mir vorüberschoß, herab und mir in die ausgebreiteten Arme, um mich an sich zu drücken und wieder und wieder zu küssen. Ja, wir waren Freunde, Freunde in des Wortes vollkommenster und bester Bedeutung ...« (254f) Für die WinnetouGestalt bemerkenswerte, jedoch konstitutionell nicht bedeutende Einzelheiten aus der Satan-Trilogie sind: Es werden zum ersten Mal die Pferde der beiden Helden vorgestellt: Winnetou reitet Iltschi (Wind) und Old Shatterhand Hatatitla (Blitz) (GR 20, 256). Als Kuriosum erlebt der Leser Winnetou in Dresden, bekleidet mit dunkler Hose, dunkler Weste, Gürtel, kurzem Saccorock, und Zylinder (GR 21, 248), und in Afrika. Winnetou erkrankt auf der Rückreise an einem Gallen- und Leberleiden, das er erst nach dreizehnwöchigem Siechtum (»zum Skelette abgemagert« GR 22, 2) übersteht.

Auch in Der Ölprinz (ÖLPRINZ 1892 begonnen) bleibt es beim gewohnten Winnetou-Bild. Im Frühjahr 1892 faßte Karl May den Plan, seine frühen Winnetou-Erzählungen (FIREHAND/DEADLY/IM WILDEN WESTEN/SCOUT) zu einem zweibändigen Sammelwerk zusammenzufassen. Im Oktober 1892 erklärte er seinem Verleger, Friedrich Ernst Fehsenfeld, der gerade Mays Orientzyklus (GR 1-6) herausgegeben hatte, drei


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Bände, von denen der erste völlig neu geschrieben werden solle, als »hochspannendes Lebensbild des »berühmtesten Indianers« und zugleich eine Tragödie des Untergangs seiner Nation«14 gestalten zu wollen. Der Anfang des neuen Bandes, Winnetou, der Rote Gentleman I (GR 7) lag im Januar 1893 vor; er entstand also zeitweise parallel zu ÖLPRINZ.

Winnetou I, wie der Band ab 1904 hieß, war und ist für viele May-Leser das erste Leseerlebnis in der Welt Karl Mays. Überdies zählt der Roman zu den beliebtesten Büchern Mays überhaupt,15 so daß das Winnetou-Bild, wie es sich den meisten Lesern eingeprägt hat, weitgehend darauf basiert. Unvergeßlich für den Leser von Winnetou I ist auch die Einleitung, die May für den Roman schrieb: »Ja, die rote Nation liegt im Sterben! ... Ich kann nur klagen, aber nichts ändern; ich kann nur trauern, doch keine Toten zurück ins Leben rufen. Ich? Ja, ich! Habe ich doch die Roten kennen gelernt während einer ganzen Reihe von vielen Jahren und unter ihnen einen, der hell, hoch und herrlich in meinem Herzen, in meinen Gedanken wohnt. Er, der beste, treueste und opferwilligste aller meiner Freunde, war ein echter Typus seiner Rasse, welcher er entstammte, und ganz so, wie sie untergeht, ist auch er untergegangen, ausgelöscht aus dem Leben durch die mörderische Kugel eines Weißen. Ich habe ihn geliebt wie keinen zweiten Menschen und liebe noch heut die hinsterbende Nation, deren edelster Sohn er gewesen ist. Ich hätte mein Leben dahingegeben, um ihm das seinige zu erhalten, so wie er dieses hundertmal für mich wagte. Dies war mir nicht vergönnt; er ist dahingegangen, indem er, wie immer, ein Retter seiner Freunde war; aber er soll nur körperlich gestorben sein und hier in diesen Blättern fortleben, wie er in meiner Seele lebt, er, W i n n e t o u , d e r g r o ß e H ä u p t l i n g d e r A p a c h e n. Ihm will ich hier das wohlverdiente Denkmal setzen, und wenn der Leser, welcher es mit seinem geistigen Auge schaut, dann ein gerechtes Urteil fällt über das Volk, dessen treues Einzelbild der Häuptling war, so bin ich reich belohnt.« (GR 7, 1/5f) So wird dem Leser Winnetou als Edelmensch vorgestellt, lange bevor er im Roman selbst auftritt. Hauptfigur des Romans allerdings ist nicht wie angekündigt Winnetou, sondern Old Shatterhand. Dessen Entwicklung vom Greenhorn zum omnipotenten Heros erlebt der Leser detailliert mit. Gerade an dem Punkt, an dem Old Shatterhand seine Lehrjahre im Westen mit dem erfolgreichen Kampf gegen einen Grizzly abschließt, erscheint Winnetou. Beschrieben wird er wie in BÄRENJÄGER. Sein zu einem helmartigen Schopf aufgebundenes Haar »war so lang, daß es dann noch reich und schwer auf den Rücken niederfiel. Gewiß hätte ihn manche Dame um dieses herrliche, blauschimmernde schwarze Haar beneidet. Sein Gesicht war fast noch edler als dasjenige seines Vaters und die Farbe desselben ein mattes Hellbraun mit einem leisen Bronzehauch. Er stand, wie ich jetzt erriet und später dann erfuhr, mit mir in gleichem Alter und machte gleich heut, wo ich ihn zum erstenmale erblickte, einen tiefen Eindruck auf mich. Ich fühlte, daß er ein guter Mensch sei und außerordentliche Begabung besitzen müsse. Wir betrachteten einander mit einem langen, forschenden Blicke und dann glaubte ich, zu bemerken, daß in seinem ernsten, dunklen Auge, welches einen sammetartigen Glanz besaß, für einen kurzen Augenblick ein freundliches Licht aufglänzte, wie ein Gruß, den die Sonne durch eine Wolkenöffnung auf die Erde sendet.« (109f)


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Mit seinem Vater und seinem weißen Lehrer (KLEKIH-PETRA) klagt Winnetou den Bahnvermessungstrupp, zu dem Old Shatterhand gehört, des Länderraubs an. Im Verlauf der Auseinandersetzung wird Klekih-petra erschossen. Er wirft sich in den Schuß, der Winnetou galt, und rettet so dessen Leben. In Winnetous Schoß stirbt er. Zuvor hatte der Alte aber Old Shatterhand ein Versprechen abgenommen: »›Bleiben Sie bei ihm treu mein Werk fortführen !‹ Er hob bittend die Hand; ich nahm sie in die meinige und antwortete: ›Ich thue es; ja, sicher, ich werde es thun!‹« (135) Durch das Vermächtnis eines Sterbenden erhält die Beziehung, die zunächst in spontaner Sympathie gründet, eine tiefere, eine numinose Dimension. Die Beschreibung Winnetous, die - wie schon erwähnt - abwechselnd männliche und weibliche Züge hervorhebt, legt zudem eine tiefenpsychologische Deutung des Verhältnisses nahe: Winnetou ist für das Maysche Erzähl-Ich und damit auch für die reale Persönlichkeit May selbst zum einen männlich tapferer Freund und Bruder, zum anderen (auf unbewußter Ebene) die ideale Geliebte, durch deren Schönheit sich der geliebte Freund (Old Shatterhand/May) in einem Akt verborgenen Narzissmus selbst emporhebt, seinen Wert steigert.16 Daß beide sich zunächst als Feinde gegenüberstehen, liegt daran, daß Old Shatterhand für Winnetou zu den Länderdieben gehört und daß May seinen weißen Helden sich stufenweise entwickeln läßt. Nach dessen Entpuppung als geborener Westmann ist Winnetou der Katalysator für die geistige Reifung des weißen Helden. Als erstes wird durch die Begegnung mit Winnetou das Bewußtsein für das Unrecht, daß die Weißen der roten Rasse zufügen, in Old Shatterhand geweckt.

In einem Schlachtengetümmel geraten die beiden späteren Freunde kurz darauf aneinander: Winnetou sieht Old Shatterhand über den niedergeschlagenen Intschu tschuna gebeugt und will ihn mit dem Gewehrkolben niederschlagen. Er trifft aber nur dessen Schulter. Ein ins Herz gezielter Messerstich gleitet an einer Blechdose ab und dringt oberhalb des Halses und innerhalb der Kinnlade und in den Mund und durch die Zunge. Der zweifach getroffene OS kann sich dennoch aus Winnetous Würgegriff befreien: »Nun gab es ein wahrhaft satanisches Ringen zwischen uns. Man denke, Winnetou, der nie besiegt worden war und später auch nie wieder besiegt worden ist, mit seiner schlangenglatten Geschmeidigkeit, den eisernen Muskeln und stählernen Flechsen ... Er wendete alle seine Kraft an, mich abzuwerfen, und ich lag auf ihm wie ein Alp, der nicht abzuschütteln ist. Er begann zu keuchen und keuchte immer stärker; ich preßte ihm mit den Fingerspitzen den Kehlkopf so fest nach innen, daß ihm der Atem ausging. Sollte er ersticken? Nein, auf keinen Fall! Ich gab also für kleinen Augenblick seinen Hals frei, worauf er sofort den Kopf hob; das brachte diesen für meine Absicht in die richtige Stellung zwei, drei rasch aufeinander folgende Faustschläge, und Winnetou war betäubt; ich hatte ihn, den Unbesieglichen, besiegt.« (294f)

Man erkennt deutlich, daß May seinen weißen Helden stets dominant gegenüber Winnetou zeichnet. Old Shatterhand greift vom ersten Augenblick der Begegnung an in Winnetous Leben ein. Er übernimmt die Beschützer- und auch die Lehrerfunktion Klekih-petras; er entscheidet, daß Winnetou als tapferer Kämpfer bei einem Überfall der Apachen auf ein Kiowalager vom Kampf ferngehalten werden muß, damit sein Leben nicht gefährdet ist, und schlägt ihn bewußtlos, so daß er gefangengenommen wird. Er


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befreit ihn wieder und und schneidet sich bei der Gelegenheit eine Strähne von Winnetous Haar ab, als Beweis für die Rettungstat. Symbolisch gesehen ist das Abschneiden des Haares ein Akt der Schwächung (vgl. die Samson-Episode in der Bibel). Der Sieg über Winnetou im Zweikampf durch einen Neuling im Westen, der zudem schwer verletzt ist, setzt die Reihe fort.

Zwar siegt Old Shatterhand über Winnetou, aber Winnetou hatte ihm eine gefährliche Verwundung beigebracht, die ihn an den Rand des Todes brachte. Das Überstehen der Todesnähe ist wichtiger Teil der Entwicklung des weißen Helden. Seine Vollendung als halbgottähnliche Gestalt erfährt Old Shatterhand dann durch die mythische Vereinigung mit Winnetou. Nachdem Old Shatterhand sich und seine Gefährten durch einen Kampf mit Intschu tschuna aus der Gefangenschaft der Apachen auslöste und sich als Retter Winnetous ausweisen konnte (Haarsträhne), wird er in den Stamm der Apachen aufgenommen. Das geschieht, indem er Winnetous Blutsbruder wird: »›... er wird das Blut Winnetous trinken, und dieser wird das seinige genießen; dann ist er Blut von unserm Blute und Fleisch von unserm Fleische.‹« (415) May versichert zunächst dem Leser, daß er sich von abergläubischen, heidnischen Riten, wonach die Kraft des einen Blutsbruders auf den anderen übergehe, distanziert, doch die Worte, die er Intschu tschuna in den Mund legt, erinnern deutlich an die Worte, die beim Ritus des christlichen Abendmahles gesprochen werden. May war sich der Bedeutung dieser Szene als Abschluß der Persönlichkeitsentwicklung seiner Figur sicher bewußt, auch wenn er - wohl um den Analogiecharakter zu verdecken - die Handlung nochmals abwiegelnd kommentiert: »Es wurde dabei dem Genusse des Blutes weder von mir, noch von den Apachen irgendwelche Wirkung zugeschrieben, sondern er hatte nur eine rein symbolische, also bildliche Bedeutung. Und doch, höchst sonderbar, trafen später stets die Worte Intschu tschunas zu, daß wir [sc. Old Shatterhand und Winnetou] eine Seele mit zwei Körpern sein würden. Wir verstanden uns ohne uns unsere Gefühle, Gedanken und Entschlüsse mitteilen zu müssen. Wir brauchten uns nur anzusehen, um genau zu wissen, was wir gegenseitig wollen; ja, dies war gar nicht einmal notwendig, sondern wir handelten selbst dann, wenn wir voneinander fern waren, mit einer wirklich erstaunlichen Uebereinstimmung, und es hat nie, niemals irgend eine Differenz zwischen uns gegeben. Das war aber nicht etwa die Wirkung des genossenen Blutes, sondern eine sehr natürliche Folge unserer innigen, gegenseitigen Zuneigung und des liebevollen Eingehens und Einlebens des einen in die Ansichten und individuellen Eigentümlichkeiten des andern.« (418)

In einigen wichtigen Punkten ist die Seelengemeinschaft der Blutsbrüder jedoch nicht so vollkommen, so daß der eine die Einstellung des anderen gar nicht wirklich erkennt auch weil der andere seine Meinung nicht offen darlegt oder einer (es ist jeweils Old Shatterhand) dem anderen seine Ansicht aufzwingt oder heimlichen Einfluß auf ihn ausübt. Unaufrichtig seinem Blutsbruder gegenüber ist Old Shatterhand, als es darum geht, seine Beziehung zu Winnetous Schwester NSCHO-TSCHI darzulegen. Old Shatterhand ist der schönen Indianerin, die Winnetou äußerlich und innerlich sehr ähnlich ist und der er als seiner Pflegerin während der langen Zeit des Siechtums zu großem Dank verpflichtet ist, zwar herzlich zugetan, aber an eine Verbindung mit ihr denkt er nicht. Er weicht entsprechenden Fragen Intschu tschunas und Winnetous mit allgemeinen Antworten aus;


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mit der Folge, daß Nscho-tschi zu den Weißen reisen will, um weiße Bildung und weiße Umgangsformen zu erlangen und dadurch eine akzeptable Gefährtin Old Shatterhands zu werden. Auf dem Weg in den Osten werden sie und ihr Vater von SANTER erschossen. Nach diesem Doppelmord zwingt Old Shatterhand Winnetou zur Aufgabe seiner indianischen Identität, indem er den großen Häuptling hindert, einen seinem Selbstverständnis und dem seines Volkes entsprechenden Racheschwur abzulegen: »›Die Augen aller Apachen schauen jetzt auf Winnetou, um zu sehen, wie er den Tod seines Vaters und seiner Schwester rächen wird. Mein Bruder Old Shatterhand mag hören, was ich hier bei diesen beiden Leichen gelobe! Ich schwöre bei dem großen Geiste und bei allen meinen tapfern Vorfahren, welche in den ewigen Jagdgründen versammelt sind, daß ich von heut an jeden Weißen, jeden, jeden Weißen, der mir begegnet, mit dem Gewehre, welches der toten Hand meines Vaters entfallen ist, erschießen oder -‹ ›Halt!‹ fiel ich ihm schaudernd in die Rede, denn ich wußte, daß es ihm unnachsichtlicher, unerbittlicher Ernst mit diesem Schwure sein würde! ... seine Augen (funkelten) mich beinahe drohend an und er rief aus: ›Will Old Shatterhand mich hindern, meine Pflicht zu thun? Sollen die alten Weiber mich anspucken, und soll ich aus meinem Volke gestoßen werden, weil ich nicht den Mut besitze, das zu rächen, was heut hier geschehen ist?‹ ... Er stand stolz und hoch aufgerichtet vor mir, ein Mann, der sich trotz seiner Jugend als König all der Seinen fühlte! ... ›Du sollst und wirst thun, was du willst; vorher aber höre eine Bitte ... Hier liegt Nscho-tschi ... Auch dich hat sie lieb gehabt ... Bei dieser unserer Liebe bitte ich dich, sprich den Schwur, welchen du thun willst, nicht jetzt aus, sondern erst dann, wenn die Steine des Grabes sich über der edelsten Tochter der Apachen geschlossen haben!‹ Er sah mich ernst ... an und sagte: ›Mein Bruder ... hat eine große Macht über die Herzen aller, mit denen er verkehrt ... Nscho-tschi würde ihm seine Bitte gewiß erfüllen, und so will auch ich sie ihm gewähren ...‹« (497ff) Diese massive Beeinflussung begründet Old Shatterhand noch damit, daß Winnetous Schwur einen kontinentweiten Krieg der roten mit der weißen Rasse ausgelöst hätte, der letztlich zur Vernichtung der Indianer geführt hätte. Dahinter stand aber natürlich auch Old Shatterhands christliches Selbstverständnis. Und dieses ist der dritte Punkt, der die Freunde unterscheidet. In einem langen Gespräch bittet Winnetou Old Shatterhand, nie den Versuch zu machen, ihn zum Christentum bekehren zu wollen. Der Weiße verspricht ihm das aber nicht ohne Hintergedanken: »... muß man denn reden? Ist nicht die That eine viel gewaltigere, eine viel überzeugendere Predigt als das Wort? An ihren Werken sollt ihr sie erkennen, sagt die heilige Schrift, und nicht in Worten, sondern durch mein Leben, durch mein Thun bin ich der Lehrer Winnetous gewesen ...« (425) Das endet damit, daß Winnetou im Sterben seinem Bruder gesteht, ein Christ zu sein (GR 9, 474).17

Die Geschlossenheit und formale Meisterschaft, die den Roman Winnetou I auszeichnen, erreichen die Bände II und III (GR 8/9) nicht. Dem aufmerksamen Leser fällt auf, daß May darin Texte aneinanderreihte, die früheren Schaffensperioden entstammen. Das Winnetoubild dieser Bände wurde nur oberflächlich - teilweise auch gar nicht - dem neuen Niveau angepaßt. Winnetous Tod wird nahezu wörtlich wie in IM WILDEN WESTEN erzählt. May läßt seinen roten Helden nun jedoch den nahenden Tod erahnen. Auch der Schluß wurde geändert. Das Begräbnis Winnetous wird geschildert: »Der


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Leichnam des Apachen wurde in Decken gehüllt und auf ein Pferd befestigt ... bis in die Gros-Ventre-Berge war es nur zwei Tagesreisen ... wir (erreichten) das Thal des Metsur-Flüßchens. Dort haben wir den Indianer begraben, unter christlichen Gebeten und mit den Ehren, die einem so großen Häuptlinge bewiesen werden müssen: Er sitzt mit seinen sämtlichen Waffen und in seinem vollständigen Kriegsschmucke aufrecht auf seinem deshalb erschossenen Pferd im Innern des Erdhügels, welchen wir um ihn wölbten. Auf diesem Hügel wehen nicht die Skalpe erschlagener Feinde, wie man es auf dem Grabe eines Häuptlings zu sehen gewohnt ist, sondern es sind drei Kreuze darauf errichtet worden.« (475)

Die Betroffenheit Old Shatterhands über den Verlust des Bruders erfährt in GR 9 intensiveren Ausdruck als in der früheren Fassung von Winnetous Tod: »Winnetou tot! Diese beiden Worte sind genügend, um die Stimmung zu bezeichnen, in welcher ich mich damals befand. Es war, als ob ich mich von seinem Grabe gar nicht trennen könnte. Ich saß in den ersten Tagen schweigend bei demselben und sah dem Treiben der Menschen zu ... Ich sage, ich sah zu, aber eigentlich sah ich nichts. Ich hörte ihre Stimmen, und dennoch hörte ich nichts. Ich war geistesabwesend. Mein Geisteszustand glich demjenigen eines Mannes, der einen Hieb auf den Kopf erhalten hat und, nur halb betäubt, alles wie von weitem hört und alles wie durch eine mattgeschliffene Glasscheibe sieht ... Es verging eine halbe Woche, ehe ich mich aufraffte ...« (477)

Nach Winnetous Tod gräbt Old Shatterhand das Testament des Apachen, das dieser im Grab seines Vater versteckt hatte, aus. Dabei trifft er auf Santer, den Mörder Nscho-tschis und Intschu tschunas. Santer gelingt es, Winnetous Testament in seine Hände zu bekommen. In diesem Testament beschreibt Winnetou den Weg zu einer Höhle, in der ein großer Goldvorrat liegt. Eine Sicherheitsvorkehrung Winnetous nicht erkennend, sprengt sich der Mörder in die Luft. Dabei wird auch das Testament des Apachen zerstört.

In der formal der Winnetou-Trilogie ähnlichen Surehand-Reihe - der direkt für die Buchausgabe geschriebene Teil (GR 14/19) wird ebenfalls durch ein Kompendium aus frühen Texten ergänzt (GR 15) - spielt Winnetou keine bedeutsame Rolle, da es in diesem Roman in erster Linie um die Auseinandersetzung Old Shatterhands mit dem Gottesleugner OLD WABBLE und die Zusammenführung der Familie des Gottsuchers OLD SUREHAND geht. Eine Episode dieses Romans sei herausgehoben, da sie exemplarisch das Zusammenwirken Winnetous und Old Shatterhands vor Augen führt eine spektakuläre Bärenjagd:

»Dort lag ... der König der grauen Bären. Ja, diesen Namen verdiente er, denn von dieser Größe hatte ich noch keinen je gesehen ... Winnetou senkte seinen Blick mit jenem unbeschreiblichen Ausdrucke, der mir unvergeßlich ist, in meinen [!] Augen und fragte mich: ›Hat mein Bruder Shatterhand noch das alte Vertrauen zu mir?‹ Ich nickte ... ›Zu mir, zu meiner Hand und meinem Messer?‹ fragte er wieder. ›Ja.‹ ›Will er mir sein Leben anvertrauen?‹ ›Ja.‹ Ich hätte nicht nein gesagt, auch wenn mir bange gewesen wäre, denn Winnetou hätte sich mir auch unbedenklich anvertraut ... Er führte uns ... nach einem dichten Busche. Dort blieb er stehen und sagte: ›Hinter diesem Strauch verstecke ich mich. Old Shatterhand wird mir den Bären bringen und ihn hier vorüberführen ... Old Shatterhand und Winnetou sind eins. Beide haben einen Leib, eine Seele und auch


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nur ein Leben. Das seinige gehört mir und das meinige ihm. Howgh!‹ ... Winnetou nahm sein Messer in die linke Hand und kroch hinter den Busch, so daß er nicht zu sehen war. Er flüsterte mir, falls ich je noch bedenklich sein sollte, beruhigend zu: ›Der Wind ist unser Verbündeter, und wenn der Bär mich je entdecken sollte, hast du den ersten Stich!‹ Mir war gar nicht bange ... Ich zog mein Messer auch mit der linken Hand und huschte ... zurück ... der Bär (lag) noch genau so wie vorher ... Ich ... hob einen Stein auf ... und warf nach ihm. Er ... hob den Kopf. Die kleinen, giftigen Augen erfaßten mich, und er stand, ohne sich einmal zu dehnen und zu strecken, mit einer Schnelligkeit auf, in welcher ihn gewiß kein Tiger oder Panther übertroffen hätte. Ich huschte ... zurück und schritt ... rückwärts dem Busche zu, hinter welchem der Apatsche steckte. Jetzt erschien der Bär, und nun galt es freilich das Leben. Wenn ich strauchelte und stürzte, war ich sicher verloren. Das Kunststück bestand darin, den Bären an Winnetou vorüber zu locken und ihn dann zum Stehen zu bringen, um dem Apatschen einen sichern Stoß zu bieten. Mit jener schwerfällig erscheinenden Leichtigkeit, welche außer dem Bären noch dem Elefanten eigen ist, folgte er mir, langsam und überlegend, wie es schien, in Wahrheit aber sehr schnell und entschlossen. Er ... kam mir immer näher. Das wollte ich. Als ich den Busch erreichte, war er nur noch acht Schritte entfernt. Ich retirierte schneller, jetzt war er am Busche. Noch einen Schritt weiter, und wenn ich ihn nun nicht zum Stehen brachte, war es mit mir aus! Den riesigen Tatzen dieses Ungeheuers konnte kein Geschöpf der Erde widerstehen ... Also entweder oder! Ich sprang zwei Schritte vor und hob den Arm. Schon war Winnetou hinter dem Busche hervorgetreten und stand mit gezücktem Messer hinter dem Bären. Dieser hielt bei meiner scheinbaren Angriffsbewegung inne und richtete sich auf, kopfshöher noch als ich. In diesem Augenblicke stieß der Apatsche zu, nicht hastig schnell, sondern mit der raschen Bedächtigkeit, welche geboten war, wenn er richtig treffen wollte, nämlich zwischen die zwei bekannten Rippen in das Herz. Die Klinge war bis an das Heft hineingefahren; er ließ sie nicht stecken, sondern zog sie schnell wieder heraus, um nicht ohne Waffe zu sein. Das Ungetüm wankte, als ob es stürzen wolle, drehte sich aber ganz unerwartet im Nu um und streckte die Pranken nach Winnetou aus, der kaum Zeit fand, zurückzuspringen. Jetzt war sein Leben in Gefahr, nicht mehr das meinige. Ich stand sofort hinter dem Bären, holte aus und stach zu, sprang aber augenblicklich, das Messer stecken lassend, wieder zurück ... dann brach er, wie von einem unsichtbaren Eisenhammer getroffen ... zusammen.« (418-22)

In Old Surehand III (GR 19) kommt May - im Zusammenhang mit der Schilderung eines Knieschusses sich an seine Leser wendend - auf Winnetous Tod zurück: »Ich halte noch heut meine Waffen hoch. Mein Henrystutzen und mein Bärentöter sind noch jetzt meine wertvollsten Besitztümer. Kostbarer aber noch als sie ist mir Winnetous Silberbüchse, die ich schon, als er noch lebte, stets mit einer gewissen heiligen Scheu betrachtet oder in die Hand genommen habe. Als er erschossen worden war, haben wir ihn hoch zu Roß und mit allen seinen Waffen, also auch mit ihr begraben. Einige Jahre später kam ich ... grad dazu, daß die Sioux sein Grab öffnen und berauben wollten. Wir vertrieben sie nach hartem Kampfe. Sie hatten es auf die Silberbüchse abgesehen. Ich konnte natürlich nicht als Hüter seines Grabes stets im Thale des Metsurflusses bleiben, und da zu erwarten war, daß sich die Entweihung des Grabes wiederholen werde, nahm ich die Silber-


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büchse heraus und sorgte dafür, daß dies überall bekannt wurde ... Jetzt hängt dieses herrliche Gewehr neben meinem Schreibtische, und während ich jetzt von ihm erzähle, habe ich es vor meinen Augen und gedenke in tiefer Wehmut dessen, den es nicht ein einziges Mal im Stich gelassen hat und der mein bester, vielleicht mein einziger Freund gewesen ist, das Wort Freund in seiner wahren, edelsten und höchsten Bedeutung genommen!« (328f)

Im Roman Der schwarze Mustang (1896/97), Mays letztem Beitrag für den Guten Kameraden, und in den Marienkalendergechichten (GOTT LÄßT SICH/BLIZZARD/ MUTTERLIEBE) wird das bis dahin erreichte Niveau der Figuren Old Shatterhand und Winnetou nicht ganz gehalten, da in diesen Texte die Helden eher als Rächer bzw. Richter fungieren, wobei Rücksichtslosigkeiten und auch Gewalttätigkeiten vorkommen. In seinem letzten Winnetou-Roman, in »Weihnacht !« (GR 24 1897), der mit einer Episode aus KARL MAYs/Old Shatterhands Jugend beginnt, tritt Winnetou wieder ganz als Edelmensch auf. May gibt in diesem Roman die ausführlichste und im Sinne der erotischen Untertöne decouvrierendste Beschreibung seines roten Helden:

»... der berühmte Häuptling der Apatschen war auch weit mehr als bloß ein ungewöhnlicher Mann. Die Häuptlingsstellung war es natürlich nicht, welche imponierte ... sondern es lag ganz allein nur in seiner Personalität, in der Gesamtheit seiner Vorzüge, seinen geistigen und seelischen Eigenschaften, welche in seiner fehlerlosen männlichen Schönheit eine köstliche Verkörperung gefunden hatten, daß sein Erscheinen überall, wohin er kam, Bewunderung erregte und dabei zugleich jene niemals ausbleibende Ehrerbietung erweckte, deren sofortige Folge stets der unwillkürliche Gehorsam ist. Er trug, wie auch ich stets, wenn ich mich im Westen befand, einen aus Elkleder gefertigten Jagdanzug von indianischem Schnitt, an den Füßen leichte Mokassins, welche mit Stachelschweinsborsten und seltengeformten Nuggets geschmückt waren. Eine Kopfbedeckung gab es bei ihm nicht. Sein reiches, dichtes, bläulich schwarzes Haar war auf dem Kopfe zu einem hohem, helmartigen Schopf geordnet und fiel von da aus, wenn er im Sattel saß, wie eine Mähne oder ein dichter Schleier fast bis auf den Rücken des Pferdes herab. Keine Adlerfeder schmückte diese indianische Frisur. Er trug dieses Abzeichen der Häuptlinge nie; es war ihm ohnedies auf den ersten Blick anzusehen, daß er kein gewöhnlicher Krieger sei. Ich habe ihn mitten unter Häuptlingen gesehen ...; seine königliche Haltung, sein freier, ungezwungener, elastischer und doch so stolzer Gang zeichneten ihn doch als den edelsten von allen aus. Wer auch nur einen einzigen Blick auf ihn richtete, der sah sofort, daß er es mit einem bedeutenden Manne zu thun hatte. Um den Hals trug er die wertvolle Friedenspfeife, den Medizinbeutel und eine dreifache Kette von Krallen der Grizzlybären, welche er mit Lebensgefahr selbst erlegt hatte. Der Schnitt seines ernsten, männlich schönen Angesichtes, dessen Backenknochen kaum merklich vorstanden, war fast römisch zu nennen, und die Farbe seiner Haut war ein mattes Hellbraun, mit einem leisen Bronzehauch übergossen. Einen Bart trug er nicht; in dieser Beziehung war er ganz Indianer. Darum war der sanfte, liebreich milde und doch so energische Schwung seiner Lippen stets zu sehen, dieser halbvollen, ich möchte sagen, küßlichen Lippen, welche der süßesten Schmeicheltöne ebenso wie der furchterweckendsten Donnerlaute, der erquickendsten Anerkennung gleichso wie der schneidendsten


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Ironie fähig waren. Seine Stimme besaß, wenn er freundlich sprach, einen unvergleichlich ansprechenden, anlockenden gutturalen Timbre, den ich bei keinem andern Menschen gefunden habe und welcher nur mit dem liebevollen, leisen, vor Zärtlichkeit vergehenden Glucksen einer Henne, die ihre Küchlein unter sich versammelt hat, verglichen werden kann; im Zorne hatte sie die Kraft eines Hammers, welcher Eisen zerschlägt, und, wenn er wollte, eine Schärfe, welche wie zersetzende Säure auf den festesten Gegner wirkte. Wenn er, was aber sehr selten und dann nur bei hochwichtigen oder feierlichen Veranlassungen geschah, eine Rede hielt, so standen ihm alle möglichen Mittel der Rhetorik zur Verfügung. Ich habe nie einen besseren, überzeugenderen, hinreißenderen Redner gehört als ihn und kenne nicht einen einzigen Fall, daß es einem Menschen möglich gewesen wäre, der Beredsamkeit des großen, unvergleichlichen Apatschen zu widerstehen. Beredt auch waren die leicht beweglichen Flügel seiner sanftgebogenen, kräftigen, aber keineswegs indianisch starken Nase, denn in ihren Vibrationen sprach sich jede Bewegung seiner Seele aus. Das Schönste an ihm aber waren seine Augen, diese dunklen, sammetartigen Augen, in denen, je nach der Veranlassung, eine ganze Welt der Liebe, der Güte, der Dankbarkeit, des Mitleides, der Besorgnis, aber auch der Verachtung liegen konnte. Solch ehrliche, treue, lautere Augen, in welchen beim Zorne heilige Flammen loderten oder aus denen das Mißfallen vernichtende Blitze schleuderte, konnte nur ein Mensch haben, der eine solche Reinheit der Seele, Aufrichtigkeit des Herzens, Unwandelbarkeit des Charakters und stete Wahrheit des Gefühles besaß wie Winnetou. Es lag in diesen seinen Augen eine Macht, welche den Freund beglückte, den Feind mit Furcht und Angst erfüllte, den Unwürdigen in sein Nichts verwies und den Widerspenstigen zum Gehorsam zwang. Wenn er von Gott sprach, seinem großen, guten Manitou, waren seine Augen fromme Madonnen-, wenn er freundlich zusprach, liebevolle Frauen-, wenn er aber zürnte, drohende Odins-Augen.« (276ff)

In GR 24 wird in besonderer Weise ein Motiv thematisiert, das von Beginn an mit der Winnetou-Figur verbunden ist: Gold. Winnetou kennt als Indianer viele reiche Goldlagerstätten. Wenn er in die Zivilisation kommt, zahlt er mit Nuggets. An dem Reichtum, den sein Wissen ihm ermöglicht, hat er jedoch keinerlei Interesse. Für ihn ist Gold deadly dust, tödlicher Staub. Kurz nach der Blutsbrüderschaftsszene in GR 7 fragt er Old Shatterhand nach seinem Verhältnis zum Reichtum. Dieser antwortet zunächst unklar, so daß Winnetou annimmt, er strebe nach Gold, und seinen weißen Freund belehrt: »›Das Gold hat die roten Männer nur unglücklich gemacht; des Goldes wegen drängen uns noch heut die Weißen von Land zu Land, von Ort zu Ort, so daß wir langsam aber sicher untergehen werden. Das Gold ist die Ursache unsers Todes. Mein Bruder mag ja nicht danach trachten.‹« (423f) Natürlich stellt sich heraus, daß Old Shatterhand nicht nach dem materiellen Reichtum strebt. Aber Winnetous Worte werden kurz nach dem Gespräch bittere Wahrheit. Um seine Schwester für die Ausbildung im Osten auszurüsten, suchen Intschu tschuna, Nscho-tschi und Winnetou am Nugget-tsil ein Goldlager auf. Dabei werden Nscho-tschi und Intschu tschuna erschossen. Das Motiv begleitet die Figur auch nach dem Tod noch: Winnetous Testament bezieht sich auf Goldschätze. Bei der Suche danach sprengt sich Santer in die Luft. In GR 24 dreht sich die gesamte Amerika-Handlung um ein finding-hole, ein Goldlager, auf das mehrere Gruppen Anspruch


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erheben. Schon zu Beginn der eigentlichen Handlung spielt Gold eine Rolle: Dem Westmann WATTER werden Nuggets gestohlen, Old Shatterhand, der inkognito in Weston weilt, wird verdächtigt, der Dieb zu sein. Da taucht Winnetou auf, deckt die Identität seines weißen Bruders auf und weist alle Beteiligten in ihre Schranken. Bemerkenswert an der Szene ist, daß Winnetou hoch zu Roß in eine Gaststube eindringt und gewissermaßen von oben herab für Recht und Ordnung sorgt. Auch bezüglich des finding-hole spielt Winnetou die Hauptrolle, da er nachweisen kann, daß ihm die Lagerstätte gehört; er hatte sie vor allen anderen gefunden. Zum ersten Mal in einer Erzählung beutet Winnetou sozusagen vor den Augen des Lesers eine Bonanza aus. Er zwingt die nach dem Gold gierenden Verbrecher, die Nuggets zu bergen. Old Shatterhand überzeugt ihn, daß Gold nur dann Verderben bringe, wenn es gesucht und gefunden wird, als Geschenk sei es ungefährlich. Am Weihnachtsabend verschenkt der Apache daraufhin das Gold an CARPIO, EMIL REITER, AMOS SANNEL und HERMANN ROST.

Erst 12 Jahre später schreibt Karl May wieder einen Amerika-Roman. Äußerer Anlaß war seine die erste und einzige Amerikareise im Jahre 1908. Mays Selbstverständnis als Schriftsteller hatte sich inzwischen grundlegend gewandelt.18 Er schrieb seit der Jahrhundertwende symbolisch-allegorische Romane. So ist auch der Roman Winnetou IV (GR 33 1909), Mays letzter Roman überhaupt, kein Abenteuerroman im altbewährten Sinne mehr. Winnetou selbst taucht nicht mehr auf, aber es geht dennoch in diesem Werk um dem großen Apachen - fast mehr als in den Werken, in denen er handelnd auftritt.

Der alternde Old Shatterhand wird zu einem großen Meeting am Mount Winnetou eingeladen. Dort will ein selbsternanntes Komitee nach Entwürfen von YOUNG APANATSCHKA und YOUNG SUREHAND, den Söhnen Old Surehands und APANATSCHKAs, Winnetou ein überdimensionales goldenes Monument errichten. Freunde und Feinde Winnetous sind unterwegs zu diesem Meeting, um dort den letzten Kampf miteinander auszutragen. Die Auseinandersetzung geht einmal um das Denkmal selbst, aber auch um die alten Zwistigkeiten zwischen den verfeindeten Indianerstämmen.

Die (vorläufige, steinerne) Statue ist »ungefähr acht Meter hoch ... Mein erster Blick war nach dem Gesicht Winnetous. Es war getroffen, überraschend getroffen. Und doch erschien es mir fremd. Es waren seine Züge, ganz genau seine Züge; aber sie waren nicht so freundlich ernst, so gütig und so lieb, wie ich sie kennen gelernt hatte, sondern sie zeigten einen fremden Ausdruck, der ihm im Leben niemals eigen gewesen war. Dieser Ausdruck harmonierte allerdings mit der aggressiven Bewegung, welche der Figur von ihren Verfertigern erteilt worden war. Die Kleidung war mit peinlichster Gewissenhaftigkeit ausgeführt ... Den rechten Fuß wie zum Sprunge vorgesetzt, stützte sich die Figur auf die in der linken Hand gehaltene Silberbüchse, während die rechte Hand einen geladenen zweiten Revolver drohend vorstreckte. In dieser vorwärts strebenden Bewegung hatte die Gestalt etwas aal- oder schlangenhaftes. Oder man dachte an einen Panther, der sich aus seinem Hinterhalt hervorschnellt, um sich auf die Beute zu stürzen. Hierzu paßte der nicht etwa nur drohende, sondern gierige Ausdruck des Gesichtes, welcher umso befremdender oder abstoßender wirkte, je deutlicher die Schönheit dieses Gesichtes trotz alledem hervortrat.« (445f) Zwei Vorbildern ist das Äußere der Statue nachempfunden: einmal greift May auf seine Winnetoubeschreibung aus DEADLY zurück (im obigen


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Zitat ausgelassen), zum anderen standen wohl Deckelbilder von Buchausgaben (erste Ausgabe von GR 7 und SILBERSEE) Pate. Old Shatterhand ist mit der geplanten Art, Winnetou zu ehren, nicht einverstanden. Die Vorlagen des von ihm abgelehnten Denkmals machen deutlich, daß der Schriftsteller Karl May sich von dem Winnetoubild seiner bis 1900 erschienenen Romane und Erzählungen distanzieren wollte. Winnetou sollte nicht mehr nur der - wenn auch noch so edle - indianische Krieger sein. May wollte auch diese Figur in den Zusammenhang seiner Spätwerkphilosophie einbinden: »Ich sah um mich herum das tiefste Menschenelend liegen ... Und hoch über uns lag die Erlösung, lag die Edelmenschlichkeit, nach der wir emporzustreben hatten ... Aus der Tiefe zur Höhe, ... vom niedern Sinnenmenschen zum Edelmenschen empor. Wie das geschehen müsse, wollte ich an zwei Beispielen zeigen, an einem orientalischen und an einem amerikanischen. Ich teilte mir die Erde für diese meine besonderen Zwecke in zwei Hälften, in eine amerikanische und eine asiatisch-afrikanische ... In Amerika sollte eine männliche und in Asien eine weibliche Gestalt das Ideal bilden, an dem meine Leser ihr ethisches Wollen emporzuranken hätten. Die eine ist mein Winnetou, die andere MARAH DURIMEH geworden.« (LEBEN UND STREBEN 143f) So schrieb May in seiner Selbstbiographie (1910). Die posthume Symbolisierung Winnetous erfolgt durch zwei Motive des Romans. Das eine ist die Idee des Winnetou-Clans, das andere das wahre Testament des Apachen.

Im Vorwort zu GR 7 verkündete May, mit der Winnetou-Trilogie Winnetou und damit der roten Rasse ein Denkmal setzen zu wollen. Von der Art, in der das geschah, will der Karl May des Spätwerks sich absetzen. Er dreht das Konzept um: Winnetou ist nicht der letzte große Repräsentant einer Rasse, die untergeht, jetzt wird Winnetou im Rahmen eines utopischen Konzeptes zum Prototyp einer neuen Rasse. Dies geschieht über sein Vermächtnis. Zunächst des ungeschriebenen: TATELLAH-SATAH, der große indianische Medizinmann und Freund Winnetous, berichtet vom Wandlungsprozeß, den auch er durchmachen mußte: »›Ich ahnte die Geschichte und die Geheimnisse unserer Rasse. Ich hatte diese Rasse vom Untergange, vom Tode retten wollen. Ihre Seele sollte erwachen, in Winnetou, dem gedankentiefsten, dem edelsten der Indianer. Nun war er tot, und die Seele seiner Rasse war gestorben. So glaubte ich, ich Tor! ... Die Stimme des Lebens drang wieder zu mir herein. Und wo ich sprechen hörte, sprach man von Winnetou. Er lebte. Er kam vom Hancockberg, wo er erschossen wurde, über Prärien, Täler und Berge in seine Heimat zurück ... Er war nicht tot ... Seine Taten wachten auf. Seine Worte wanderten von Zelt zu Zelt. Seine Seele wurde laut. Sie begann zu sprechen, zu predigen. Sie schritt durch die Täler. Sie stieg auf die Berge ... Sie kam zu mir herein, und als ich sie erkannte, da war es zwar die Seele Winnetous, zugleich aber auch die Seele seines Stammes, seines Volkes, seiner Rasse ... Er war im Munde aller roten Nationen. Er wurde zur Turmesflamme, die über die Savannen und über die Berge leuchtet. Wer Gutes, Reines und Edles wollte, der sprach von Winnetou. Wer nach Hohem, nach Erhabenem trachtete, der redete von ihm. Winnetou wuchs zum Ideal. Er ist die erste geistige Liebe seiner Rasse!‹« (422f) Ganz deutlich wird in diesen Worten die Nähe zur Christusgestalt. Die Ausgestaltung des Gedankens, Winnetou zum roten Heiland emporzustilisieren, wird durch ein seltsames Utopiekonzept Mays in ihrer Stringenz etwas getrübt. May propagiert die Entstehung einer germanisch-indianischen Rasse. Schon in Ardistan und Dschinni-


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stan I (1907 GR 31) läßt May Marah Durimeh, die MENSCHHEITSSEELE, davon reden: »›Dieser rote Mann stirbt nicht. Kein Portugiese, kein Spanier, kein Englischmann, kein Yankee hat die Macht, ihn auszurotten. Und der Deutsche geht nicht hinüber, um des Indianers Feind zu sein. Sie haben Beide das, was wohl kein Anderer hat, nämlich Gemüt, und das wird sie vereinen. Der sogenannte sterbende Indianer wird wieder aufstehen ... Der gegenwärtige Yankee wird verschwinden, damit sich an seiner Stelle ein neuer Mensch bilde, dessen Seele germanisch-indianisch ist. Diese neue amerikanische Rasse wird eine geistig und körperlich hochbegabte sein und ihren Einfluß nicht auf die westliche Erdhälfte allein beschränken. Sie wird sich aller geistigen Triebkräfte des Abendlandes bemächtigen ...‹« (18f) Winnetou ist zum Prototyp der neuen Rasse prädestiniert, da er edelster Indianer und zugleich Zögling eines deutschen Gelehrten (Klekih-petra) und Old Shatterhands ist. Der Rassegedanke wird (glücklicherweise) in GR 33 nicht weiterverfolgt. May begnügt sich damit, den ersten Schritt auf dem Weg zur neuen Rasse aufzuzeigen: Am Ende des Romans begraben die indianischen Stämme ihre selbstmörderischen Feindschaften und werden ein Volk im Geiste Winnetous.

Das ungeschriebene Vermächtnis Winnetous wird durch ein geschriebenes ergänzt. Es stellt sich heraus, daß es zwei Testamente des Apachen gibt. Das eine, in GR 9 mit Santer untergegangene, handelte von irdischen Schätzen. Es gibt aber noch ein anderes, ein wertvolleres: Old Shatterhand hatte damals nach Winnetous Tod nicht richtig gesucht. Durch einen Brief Tatellah-Satahs wird er auf seinen Irrtum aufmerksam gemacht: »Warum suchtest du nur nach deadly-dust? Nach tödlichem, goldenem Staub? Glaubtest du wirklich, Winnetou, der überschwänglich Reiche, könne der Menschheit nichts Besseres hinterlassen? War Winnetou, den du doch kennen mußtest, so oberflächlich, daß du es verschmähen durftest, in größerer Tiefe zu suchen?» (243) Am Nugget-tsil findet Old Shatterhand/KARL MAY das wahre Testament Winnetous. Es besteht aus einer Anzahl von Heften, in denen Winnetou zu seiner Rasse und zur Menschheit spricht. Im Passiflorenraum am Mount Winnetou, einer Gebetskapelle, in der Winnetou ein riesiges Kreuz aus Passionsblumen anpflanzte, liest Old Shatterhand (später WAKON) einem auserwählten Publikum aus dem Testament vor. Seinen Lesern verspricht May, in den folgenden Bänden seiner Gesammelten Werke wolle er sie mit Winnetous Texten bekanntmachen. Über wenige Notizen hinaus ist dieses Vorhaben jedoch nicht gediehen. Dieter Sudhoff meint, daß May ein solches Werk auch gar nicht hätte schreiben können, da es nach dem Konzept des Bandes GR 33 nur darum hätte gehen können, das Neue Testament neu zu schreiben.19

Konkret ausgeführt hat May, wie er sich die Umsetzung und Verbreitung der vom neuen Winnetou ausgehenden Welterlösung im einzelnen vorstellte. Der JUNGE ADLER erzählt am Nugget-tsil die Sage von Dschinnistan: Vor langer Zeit waren Boten der Königin MARIMEH aus Asien nach Amerika gekommen und hatten dort das Gesetz von Dschinnistan verkündet, »›das das Gesetz der Schutzengel heißt ... ein jeder Untertan dort hat im Stillen der unbekannte Schutzengel eines andern Untertanen zu sein ... Das gefiel unseren Urvätern, denn sie waren ebenso edel wie die Bewohner des Erdteiles Asien.‹« (276f) Nach einer langen Zeit des Friedens und des Glückes unter diesem Gesetz wurde die Verbindung mit Dschinnistan unterbrochen. Das Gesetz geriet in Vergessen-


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heit, die indianischen Völker begannen sich zu bekriegen. Von Tatellah-Satah ging der Gedanke aus, das Gesetz von Dschinnistan erneut einzuführen. So gründete sich der Winnetou-Clan: »›Ein jedes Mitglied verpflichtet sich, der Schutzengel eines andern Mitgliedes zu sein, das ganze Leben hindurch, bis in den Tod. Wir hätten diesen Clan also den Clan der Schutzengel heißen können, haben ihn aber den Clan Winnetou genannt ... Wir treffen damit das Richtige, und wir ehren dadurch zu gleicher Zeit das Andenken des besten und geliebtesten Häuptlings aller Zeit und aller Apatschenstämme ... Es soll dies das einzige Denkmal sein, welches ihm die rote Rasse setzt. Es gibt kein besseres und kein wahreres.‹« (289)

»Der erste beispielhafte Edelmensch war Winnetou; der Clan Winnetou ist die erste Menschengruppe, die sich zum Edelmenschen zusammengeschlossen hat; ihr hat sich nach und nach die ganze Menschheit unter dem Gesetz von Dschinnistan anzuschließen ... In Winnetou kam das Gesetz Dschinnistans zum ersten Mal wieder »zu neuem Bewußtsein« (285f), damit wurde er der Protagonist einer neuen Religion, die ihren Ursprung aber schon »in uralten Zeiten« hat. Die Parallele zum Alten und Neuen Testament ist offensichtlich, Winnetou wird zum Erlöser, zum Heiland ...«20 und Old Shatterhand/Karl May zu seinem Propheten. Dem entspricht das äußere Denkmal, das man am Mount Winnetou dem großen Häuptling setzt. Nicht das falsche monumentale, sondern eines aus Licht und Wasser: »(der Ingenieur) öffnete seinen Apparat, und sofort erschien auf der grandiosen, herabstürzenden Wasserfläche [sc. eines Wasserfalles] unser zum Himmel emporstrebender Winnetou, mit wehendem Haar und zur Erde zurückkehrender Häuptlingsfeder. Infolge der abwärts gehenden Bewegung des Wassers hatte es den Anschein, als ob die Gestalt sich in Wirklichkeit nach oben bewege« (614f).21

Der großen Lesergemeinde Karl Mays ist die Umwandlung Winnetous, wie May sie in GR 33 vornahm, nicht recht ins Bewußtsein gedrungen. Wie die anderen Spätwerke Mays (GR 25-33), wurde auch Winnetou IV bei weitem nicht so populär, wie die vor der Jahrhundertwende entstandenen Abenteuerromane. Der Mythos Winnetou ist nicht in dem Sinne Mythos geworden, wie May es im Alterswerk seinen Lesern vorgeben wollte. Die Leser haben ihrem Winnetou, dem edlen Krieger und treuen Bruder Old Shatterhands, auf ihre Art in ihren Herzen ein Denkmal errichtet.


1 Aus einer Werbe-Anzeige für Herbert Pietschmann: Die Wahrheit liegt nicht in der Mitte (Edition Weitbrecht) in DIE ZEIT

2 Zitiert nach Hans Wollschläger: Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens. Zürich 21976, S. 86 (detebe Taschenbuch 112)

3 Ebd.

4 Eckehard Koch: »Winnetou war geboren 1840 und wurde erschossen am 2.9.1874.« Zum historischen Hintergrund der Winnetou-Gestalt. In: Dieter Sudhoff/Hartmut Vollmer (Hrsg.): Karl Mays Winnetou. Studien zu einem Mythos. Frankfurt a.M. 1989, S. 105-147 (bes. S. 111-14) (Suhrkamp-Taschenbuch 2102)

5 Adalbert Stütz: Die Bedeutung des Wortes »Winnetou«. In: Karl-May-Jahrbuch 1922. Radebeul 1921, S. 256f.


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6 Werner Poppe: »Winnetou«. Ein Name und seine Quellen. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1972/73. Hamburg 1972, S. 250f.

7 Werner Poppe: Winnetou. Ein Name und seine Quellen. (rev. Neufassung). In: Sudhoff/Vollmer, wie Anm. 4, S. 37ff.

8 Roland Schmid: Vorwort. In: Winnetous Tod. Hrsg. und erläutert von Roland Schmid. Bamberg 1976, S. 4

9 Dieser Textteil wurde von Karl May nicht in GR 9 übernommen.

10 Dieser Textteil wurde von Karl May nicht in GR 9 übernommen.

11 Vgl. dazu Wolfram Ellwanger/Bernhard Kosciuszko: Winnetou eine Mutterimago. In: Sudhoff/Vollmer, wie Anm. 4, S. 366-79 dort S. 377 (Anm. 1) weitere Literaturangaben zum Thema.

12 Franz Kandolf: Der werdende Winnetou. In: Sudhoff/Vollmer, wie Anm. 4, S. 188 (Kandolfs Aufsatz erschien zuerst im Karl-May-Jahrbuch 1921.)

13 Ebd.

14 Karl May: Brief an Fehsenfeld vom 10.10.1892. In: Roland Schmid: Nachwort (zu Winnetou I). In: Karl May: Freiburger Erstausgaben Bd. VII. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1984 (unpaginiert)

15 Der Band wird im 3.583. Tausend ausgeliefert (Bamberger Ausgabe die Auflagenhöhe setzt sich zusammen aus allen Bamberger Ausgaben, auch den Taschenbuch- und Lizenzausgaben).

16 Johanna Bossinade: Das zweite Geschlecht des Roten. Zur Inszenierung von Androgynität in der Winnetou-Trilogie. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1986. Husum 1986, S. 259-64

17 Zu Winnetous Christentum vgl.: Martin Lowsky: Roß und Reiter nennen. Karl Mays conte philosophique von Winnetous Tod. In: Sudhoff/Vollmer, wie Anm. 4, S. 306-328.

18 Siehe hierzu die Ausführungen in den Essay-Artikeln KARA BEN NEMSI und OLD SHATTERHAND

19 Dieter Sudhoff: Karl Mays Winnetou IV. Materialien zur Karl-May-Forschung Bd. 6. Ubstadt 1981, S. 100f

20 Ebd., S. 100 (Die Seitenangabe zur Zitatstelle wurde angepaßt.)

21 Es wird das vom Maler SASCHA SCHNEIDER geschaffene Deckelbild des Bandes GR 9 auf einen Wasserfall projiziert.


Chr. F. Lorenz

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- WINNETOUs ONKEL: weißer Gelehrter; »Lehrer der Apachen«; Mann der TAUBE DES WESTENS (nur erwähnt) (SCOUT: 252)


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- WINNETOUs SCHWESTER:


1) Frau von JOSIAS PARKER; sie wurde von SCHA-TUNGA skalpiert, getötet und den Kojoten vorgeworfen, weil sie nicht ihn, sondern Parker heiratete. (nur erwähnt) (BOTH SHATTERS: 851)


2) -> NSCHO-TSCHI


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