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Am Jenseits: An der Schwelle des Übergangs zum symbolisch-allegorischen Spätwerk


Die Jahre 1898/99 müssen als Grenze zum letzten, zum bittersten, für des Dichters Entwicklung aber bedeutendsten Lebenskapitel gesehen werden. Der Untergang einer gespaltenen, nach Erlösung schreienden Existenz, die Faszination einer großen Verwandlung zeichnet sich ab. Der späte, gerade im Alter sein Bestes schaffende May nimmt Gestalt an.1

   In Kirchheim unter Teck bei Stuttgart2 verfaßte er, im August und September 1898, die Anfangsteile des Jubiläumsbandes XXV der Fehsenfeld-Reihe.3 Allein schon der Titel des neuen Romans, Am Jenseits, ist mehrfach beziehbar: erstens "auf die Schwelle zur Hochliteratur, die May mit diesem 'Jubiläumsband' zu überschreiten hoffte";4 zweitens auf die krisenhafte Zuspitzung in der Lebensentwicklung des Schriftstellers vor der Jahrhundertwende; und drittens auf den Tod als die endgültige - entscheidende - Begegnung des Menschen mit Gott.

   Mitte März 1899, unmittelbar vor Antritt der großen Orientreise,5 schickte May die letzten Manuskriptseiten an Fehsenfeld. In der Ausführung bleibt dieser Roman, dem Anschein nach, ein Fragment. Die Handlung bricht vor dem Höhepunkt ab. Das, von "Giölgeda padishanün" (1881) bzw. Durch die Wüste (1892) her bekannte, Reiseziel Mekka wird im Jenseits-Buch nicht erreicht. Wie im Silberlöwen I/II bleiben so manche, den Leser bewegende, Fragen ohne Antwort. Die versprochene Fortsetzung 2. Band Am Jenseits bzw. Im Jenseits - diesen letzteren Titel nannte May noch im Dezember 1908 - wird nie geschrieben.6

   Der Wiener Schriftsteller Robert Müller (1887-1924) erklärte in seinem Nachruf auf Karl May: "Am Jenseits heißt eines seiner letzten Bücher. Es spielt 'an Grenzen', sagte er einmal. 'Mit dem nächsten, paßt auf, komme ich dann hinüber. Es wird heißen: Im Jenseits'"7 Ins Jenseits "hinüber" kam der Autor, zu Lebzeiten, natürlich nicht. Die Grenze zum absoluten Geheimnis hat May, auch in den folgenden Büchern, nicht überschritten. Der Seher hat, falls er Im Jenseits überhaupt jemals plante,8 schließlich erkannt: "Was kein Auge gesehen und kein Ohr je gehört hat" (1 Kor 2, 9), das kann auch er nicht beschreiben. Er selbst "wußte am besten, daß es keine Fortsetzung geben konnte".9

   Am Jenseits steht, zeitlich und literarisch, an der Schwelle zum Spätwerk.10 Mays Romane nach 1900 sind, stilistisch und im Gehalt, etwas weitgehend Neues, in den früheren Schriften, besonders im Jenseits-Band, aber doch Vorbereitetes. Daß May die symbolistische Schreibweise von Anfang an - bewußt - im Sinne hatte, wie die Selbstbiographie, diverse Briefe und zahlreiche Artikel des Autors es nahelegen, ist zwar unwahrscheinlich; als bloße 'Flucht', nach den Presseangriffen auf May (ab Mitte 1899),11 ist der Neubeginn aber nicht zu verstehen. Denn das Spätwerk ist, im wesentlichen, die Konsequenz einer inneren Entwicklung des Dichters, deren Anfänge weit zurückreichen und sehr früh, in den Geographischen Predigten (1875/76) z.B., schon erkennbar sind.12

   Noch VOR der - biographisch wichtigen und für die künstlerische Weiterentwicklung des Autors bedeutsamen - Orientreise (1899/1900) und VOR Beginn der Pressekampagne (die den Schriftsteller zum verstärkten Nachdenken zwang) hatte die literarische Neuori-


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entierung, die Hinwendung Karl Mays zur 'Psychologie' und zur religiösen Symbolik, deutlich eingesetzt. Der Jenseits-Band belegt das eindrucksvoll.

   Am 2. März 1899 schrieb May an Felix Krais, den Besitzer der Hoffmannschen Buchdruckerei in Stuttgart (wo die Fehsenfeld-Bände gedruckt wurden): Am Jenseits sei DER Roman, "auf welchen alle anderen zugespitzt waren, das eigentliche Ziel meines literarischen Strebens".13 Und im Brief Karl Mays vom 13. März 1899 an Fehsenfeld heißt es:


Lesen Sie die Correcturen von Band 25? Ja? Dann werden Sie gemerkt haben, daß Karl May jetzt beginnt, mit seinen eigentlichen Absichten herauszurücken. Es handelt sich um eine wohlvorbereitete, großartige Bewegung auf religiös-ethisch-sozialem Gebiete.


   Man beginne "nun endlich" einzusehen, "daß Karl May keine Indianergeschichten, sondern 'PREDIGTEN AN DIE VÖLKER' schreibt." Und weiter: "[...] ich will wenigstens noch 30 Bände schreiben, nun, da ich erst eigentlich mit meiner Aufgabe BEGINNE. Die bisherigen Bände waren nur dazu geschrieben, mir eine möglichst große Zahl von Lesern als Arbeitsfeld zu schaffen."14

   Das alles klingt vollmundig und wirkt übertrieben, wie so häufig bei May. Aber den Stellenwert und die Qualität des Jenseits-Buches hat der Schriftsteller wohl kaum überschätzt. Nur der Erfolg, der große Massenerfolg - bleibt aus. Die Mehrzahl der Leser wird Kara Ben Nemsi jetzt nicht mehr folgen. Kein Wunder! Am Jenseits (und die folgenden Bände) kann man nicht wie die Abenteuerromane verschlingen. Für süchtige Schnell-Leser ist das neue Buch nicht geeignet. Der Verfasser zwingt jetzt zur Reflexion oder - zum Weglegen.



9.1

Der literarische Rang des Jenseits-Romans: Formale Qualität und theologische Tiefe


Der Jenseits-Band ist - nach dem Urteil Hans Wollschlägers - das "Große Buch",


in dem es May gelingt, die dissolute Form der Reiseerzählung in ein bedeutendes allegorisches System zu bringen: ein Vorspiel auf dem Theater der späteren Parabel von Ardistan und Dschinnistan; eine geisterhaft durchhuschte Galerie von schlicht-grandiosen, atemlos-dichten Bildern, mit denen die Verwandlung des Alters beginnt.15


   In seiner Werkanalyse Der "Besitzer von vielen Beuteln". Lese-Notizen zu Karl Mays 'Am Jenseits' meinte Wollschläger, dieser Roman sei "das erste Buch, an dem May formal mit hoher Kraft und Absicht gearbeitet hat".16 Ulrich Schmid hat dieser These - partiell - zwar widersprochen: Was die Konstruktion des Romans und die Durcharbeitung von Einzelheiten betrifft, sei "Weihnacht!" (1897) noch besser gelungen als Jenseits.17 Die künstlerische Qualität und die psychographische Tiefendimension des Jenseits-Bandes sind - auch nach der Auffassung Schmids - aber nicht zu bezweifeln.

   Die Einteilung der vier Kapitel (mit leitmotivischen, bewußt verfremdenden arabischen Überschriften), aber auch die Figurenkonstellation und wichtige Erzählelemente - wie die Visionen des Münedschi oder das Bild von der Gerichtswaage 'El Mizan' - sind in strenger Symmetrie konzipiert. Alle Personen, alle Ereignisse und alle Schauplätze des Romans sind - so Wollschläger -


auf Balance angelegt, haben einen doppelten Phänotypus: Vorstufe auch darin des Spätwerks, wo dieses Formprinzip bis zur Vervielfältigung erweitert und verkompliziert ist. Was solche Aufteilung der Rollen notwendig machte, ist wohl zu erkennen: sie ermöglichte Entlastung vom lastenden Material; wo 'Gefahr' ins Spiel kam, Gefahr der Überdeutlichkeit, konnte ein Double einspringen.18


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   Lastendes, den Autor bedrückendes Material enthält der Roman zweifellos. Kara Ben Nemsi, das - eher verhalten und distanziert - erzählende 'Ich', verrät es zwar kaum. Um so mehr aber der Münedschi, ein blinder, äußerst geheimnisvoller, in sich gespaltener 'Seher', der durch den Engel Ben Nur ('Sohn des Lichtes') "in alle Zeiten, die vergangene, gegenwärtige und zukünftige"19 zu schauen vermag. Selbst die Pforte zum Jenseits weiß er zu schildern. Aber im Diesseits ist er, physisch wie psychisch, blind und sucht - vergeblich - die Liebe.

   Am Jenseits behandelt, nach Wollschläger, die "elementare Not"20 Karl Mays. Doch dies ist nur EIN Aspekt und nur EINE Deutungsmöglichkeit. Auch andere Gesichtspunkte sind zu bedenken. Denn nahezu alle Motive und Vorgänge in dieser Erzählung sind, auf verschiedenen Ebenen, "mehrdeutig gestaltet":21 handlungsbezogen, autobiographisch und, über die Selbstreflexion des Autors hinaus, religiös-philosophisch (mit dem Anspruch auf allgemeine Gültigkeit). Hartmut Vollmer hat in einer ausführlichen Spezialuntersuchung auf diese Mehrschichtigkeit verwiesen22 und - teilweise im Anschluß an Wollschläger - den "symbolisch-allegorischen Charakter"23 des Jenseits-Buches herausgestellt und erläutert.

   Mehrbödig sind, wie wir gesehen haben, schon die früheren Erzählungen Karl Mays. Auch die Selbstdarstellung des Autors in mehreren Ich-Derivaten ist keineswegs neu. Aber neu ist in Jenseits der - fast sprunghafte - Zuwachs an psychologischer Tiefe und theologischer Feinheit. Auch die oberschichtige Fabel ist neu. Wie Ulrich Schmid betont, greift May hier nicht mehr zurück auf ältere Stoffe; er liefert nicht, wie im Silberlöwen I/II, eine Montage von bekannten Erzählelementen aus früheren Werken, sondern "produziert [...] neue, unverbrauchte Motive und unvorhersehbare Fortsetzungen."24

   Die bisherigen Erzählkonventionen werden "weitgehend aufgegeben, sowohl hinsichtlich der Szenerie wie auch in Bezug auf das Geschehen. An die Stelle der Abenteuer-Elemente treten allegorisch-symbolische Motive"25 und religiöse, den Tod und das Sterben betrachtende Bildreden. Mays, für Marah Durimeh angekündigte,26 "Lebens- und Sterbensphilosophie": hier findet sie sich! Nicht in dürren Begriffen, aber in bewegenden Bildern.

   Die äußeren Geschehnisse: die für May - bisher - so typischen Abenteuer (die freilich, schon immer, nur 'Gewand' und nur Maske waren) schrumpfen in Jenseits zusammen auf wenige Szenen. Die Schauplätze bestehen, wie Claus Roxin bemerkte, jetzt "nur noch aus Wüstensand"27 und dem 'Bir Hilu', dem lebendigen und lebenspendenden Brunnen. Die, für viele andere (frühere und spätere) Werke Mays charakteristische, räumliche Aufwärts- und Vorwärtsbewegung verwandelt sich hier "in eine Kreisbewegung",28 und "alles endet dort, wo es begann: in der Wüste"29 als dem Ort der Verlassenheit, der (scheinbaren) Trostlosigkeit und zugleich - des Heilswirkens Gottes.

   Betrachtungen über das christliche Liebesgebot, über den 'Zufall', über göttliche Führung usw. hat May auch in die früheren Erzählstoffe eingeflochten. In den späten Reiseerzählungen, ab 1896, wird diese Tendenz dann forciert. Doch die spannende Handlung steht, bis einschließlich "Weihnacht!", noch immer im Vordergrund. Das ändert sich jetzt: Die religiöse, die theologische Thematik beherrscht den ganzen Jenseits-Roman. Kunstvolle Besinnungen über das Hell und Dunkel der menschlichen Seele sind das zentrale, dominierende Thema.

   So bruchlos verwoben wie in späteren Werken, besonders in Ardistan und Dschinnistan, sind die Handlungsebene und die philosophisch-theologische Reflexion im Jenseits-Band freilich nicht: Beide Dimensionen laufen - so Hartmut Vollmer -


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oftmals abgesetzt nebeneinander her, was z.B. auch dazu führt, daß es für die verschiedenen Ebenen auch verschiedene Höhepunkte gibt, die den kontinuierlichen Aufbau des Buches beeinträchtigen. Die Vision des Münedschi erscheint für den Handlungsaufbau doch äußerst isoliert, ebenso einige Reflexionen [...], die den Bezug zur Handlung zwar erahnen, jedoch nicht als zwingend erscheinen lassen.30


   Insofern ist der Jenseits-Band tatsächlich noch 'Vorspiel' zur theologischen Poesie in den Altersjahren des Dichters. Zu Mays bedeutendsten Werken gehört der Roman, aufgrund seines Inhalts und (mit Einschränkungen) seiner Form, aber dennoch. Nicht zuletzt in der Schilderung von Sterbeerlebnissen - des Persers Khutab Agha - erweisen sich der hohe Ernst, die visionäre Kraft und die religiöse Tiefe des Jenseits-Buches. Der evangelische Theologe Eckard Etzold hat, in einer überzeugenden Analyse Karl May: Am Ort der Sichtung. Ein literarisches Todesnähe-Erlebnis,31 diesen wichtigen Gesichtspunkt besonders herausgearbeitet.

   Am Jenseits muß gründlich, sehr gründlich gelesen werden. Fast jeder Satz - zumindest der Reden des blinden Münedschi, des sich wandelnden Hadschi Halef und des bekehrten Persers Khutab Agha - ist zitierfähig, und fast jeder Satz ist eines Kommentares wert.

   Mays Jenseits-Roman ist, in den Münedschi/Ben Nur-Partien vor allem, 'phantastische' Poesie und visionäre theologische Dichtung - insofern vergleichbar mit, ebenfalls 'phantastischen', Werken der christlichen Hochliteratur: Dantes Divina commedia oder Clive S. Lewis' Roman Die große Scheidung (The great divorce, London 1946)32 zum Beispiel.

   Die Jenseits-Visionen des May-Bandes schildern - in mancher Hinsicht vergleichbar mit den Traum-Gesichten des Ich-Erzählers in Lewis' Roman - eine Art 'Zwischenzustand': ein Sein zwischen Leben und Tod (AM Jenseits, nicht IM Jenseits!). Es geht, bei May wie bei Lewis, um die - von Gottes Gnade angebotene - WAHL, um die letzte Entscheidung des Menschen: für oder gegen die wahre, die 'selbstlose' Liebe.

   Gewiß, im Blick auf die äußere Fabel und auch den Erzählstil sind Karl Mays Am Jenseits und C.S. Lewis' Die große Scheidung sehr verschiedenartige Texte. Aber beide Romane sind christliche Poesie - an der Bibel, an der neutestamentlichen Offenbarung orientierte 'Lebens- und Sterbensphilosophie'. Und beide Romane sind, partiell, beeinflußt von Dantes Komödie. Ein Vergleich liegt also doch nahe.

   Was die sprachliche Eleganz, die gedankliche Tiefe, die entlarvende Ironie, die Originalität und die Anschaulichkeit der Bilder und Dialoge betrifft, ist Lewis' Roman der Göttlichen Komödie wohl ebenbürtig. Und der Jenseits-Band Karl Mays? Die in einem Zeitraum von zehn Jahren (1311-1321) entstandene Divina commedia, die May gekannt und die er geschätzt hat,33 ist im Ausdrucksvermögen gewiß noch subtiler und in der Anlage gewaltiger34 als der - innerhalb von höchstens acht Monaten, unter erheblichem Zeitdruck, verfaßte - Roman Karl Mays. Doch was die innere Wahrheit der ganzen Erzählung, die Größe des Themas, die Selbsterkenntnis des Autors, den satirischen Unterton in manchen Passagen und nicht selten (oder zumindest gelegentlich) auch den Stil, den sprachlichen Ausdruck betrifft, steht der Jenseits-Roman hinter Dantes Komödie so wenig zurück wie Die große Scheidung von Lewis.

   Dantes Werk ist der mittelalterlichen Scholastik verpflichtet, und seine Höllen-Vision ist den apokryphen Schriften, den Schauervorstellungen der Antike35 verhaftet. Mays Dichtung hingegen läßt Einsichten erkennen, die an romantische Denker,36 aber auch an moderne Theologen erinnern. Hätte Karl May nicht - Jahrzehnte noch nach seinem Tode - die Etikette des Trivialliteraten, das Image des geringgeschätzten Jugendschriftstellers angehaftet: mit Am Jenseits hätten sich illustre Theologen, Romano Guardini vielleicht37 oder Karl Rahner, durchaus beschäftigen können.


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   Die theologische Botschaft des Jenseits-Romans soll in einem späteren Abschnitt,38 zusammen mit der Botschaft der eigentlichen Spätwerke (nach 1900), dargestellt und gewürdigt werden. Im folgenden ist ein anderer, ein autobiographischer Aspekt des Romans zu erläutern: die Selbsterkenntnis, die kritische Selbsthinterfragung des Menschen und Schriftstellers Karl May in der Krise der Jahre 1898/99.


9.2

Biographische Rückschlüsse: Die Selbsterkenntnis des Hochstaplers und die Selbsthinterfragung des Predigers


Radikaler als in früheren Werken rechnet der Autor nun ab: mit den Fehlern so mancher Personen aus seinem Bekanntenkreis, aber auch, was man nicht überlesen darf, mit den eigenen Sünden. Die indirekten Schuldbekenntnisse füllen den ganzen Roman. Zu belegen wäre es an fast allen Personen und an fast sämtlichen Szenen des Jenseits-Buches. Die folgende Erörterung beschränkt sich auf die Romanfiguren Halef, Kara Ben Nemsi, Münedschi und EI Ghani.


9.2.1

Das Spiegelbild Hadschi Halef


Halef Omar - eines der heimlichen Teil-Ichs des Schriftstellers - wird begleitet von Hanneh, der "liebenswürdigste[n] aller Liebenswürdigkeiten". Er hält wieder, "voll bunter Raupen" (S. 7)39 steckend, köstliche Reden. Doch seine Läuterung, die in "Giölgeda padishanün" (1881) schon begann, macht weitere Fortschritte und erreicht eine neue Dimension. Man weiß es von früher her: "Besonders wenn er von unsern Erlebnissen erzählte, nahm er den Mund in einer Weise voll, daß ich ihn häufig unterbrechen mußte." (S. 7) Kara Ben Nemsi aber gibt dem Hadschi zu verstehen:


"Wir beide brauchen uns gar nichts einzubilden; es giebt überall Hunderte und Tausende von Menschen, die noch ganz andere Kerls sind, als du und ich! [...] Ich sage dir, wenn eine ganze Million Menschen unserer Sorte jetzt plötzlich stürbe, die Weltgeschichte würde ihren Gang sehr ruhig weitergehen!" (S. 68)


   Der Bescheidene will zweimal gelobt werden, zuerst für seine Werke und dann für seine Bescheidenheit. Dieses Bonmot von La Rochefoucauld könnte auch zutreffen auf den Ich-Helden Karl Mays, in modellhafter Deutlichkeit sogar. Aber HIER, in Jenseits, führt - der ganze Duktus der Erzählung beweist es - ECHTE Bescheidenheit das Wort.

   Halef vergöttert, wie 'Dr. Karl May, genannt Old Shatterhand', sein "Ich".40 Er rückt es bei jeder Gelegenheit an die erste Stelle. Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Dialog zwischen Kara Ben Nemsi und Halef.41 Des Prahlers "Ich" geht, so Kara zu Halef, in die "Bücher", d.h. in die May-Bücher mit ein. "Hunderttausende haben es schon gelesen." (S. 70) Sie werden es merken: wie aufgeblasen er ist, dieser Halef - sprich May. Der Scheik der Haddedihn erschrickt: "Mein ganzer Ruhm ist hin! Man wird mein Ich für ungeheuer rücksichtslos halten [...] Die Ehre meiner bescheidenen Unterwürfigkeit ist hingeschwunden und der Glanz meiner schönen Umgangsform in Finsternis verwandelt!" (S. 71) Wohl, wohl! Wir wissen es schon: die Auftritte Karl Mays in München, in Wien, in Gartow usw.! Und das große "Ich" in den Reiseerzählungen und vor allem im Weihnachts-Roman (1897)!42

   Der Kleine meint, das "Ich" müsse raus aus den Büchern! Kara: "Was einmal im Buche steht, kann leider nicht daraus entfernt werden!" Halef: "Aber wie da, wenn du ein neues


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schreibst?" Kara: "Da will ich dir ganz gern deinen Wunsch erfüllen und zeigen, daß du dich geändert hast. Nur muß diese Aenderung auch Wahrheit sein!" (S. 71)

   Karl May hat seine (bevorstehende) Blamage - in Halef - literarisch vorweggenommen! Abgeschwächt ins Humoristische, gewiß. Doch die Korrektur seines 'Ich' ist nun vorprogrammiert. Der Literat in seinem dunklen Drange ist sich des rechten Weges wohl bewußt: Er muß sich - ändern! "Nur muß diese Aenderung auch Wahrheit sein!"

   Halefs Ruhmseligkeit, aber auch seine Neigung zum Zorn, zum Gebrauch seiner Peitsche, werden zusammenbrechen. Noch freut er sich auf die Bastonnade, mit der er seine Gefangenen, die Leute aus Mekka, beglücken will. Nicht mehr lange! Denn "El Mizan", die "Wage der Gerechtigkeit", mit der - nach den Worten des Engels Ben Nur - die Sterbenden gewogen werden, läßt sein (Mays) Ego erzittern. Er erkennt sich als Mensch "der allerschwächsten Sorte" (S. 357). Und er merkt es sich gut: Nur die LIEBE, die selbst den Feinden noch Gutes tut (Mt 5, 44ff.), kann im Tode bestehen: Ben Nur hat - so Halef-May -


"einen ganz, ganz andern Menschen aus mir gemacht! [...] Du weißt, daß ich die Angst nicht kenne; [...] heut aber habe ich noch viel mehr als die Furcht, nämlich das Entsetzen, kennen gelernt [...] Darum bitte ich dich: Wenn mich der Hochmut und der Stolz [...] bei meinem Zorne packen, [...] so rufe mir ja schnell 'El Mizan, die Wage!' zu; dann wirst du sehen, daß ich sofort in mich gehe, um meinem Zorne die Bastonnade zu geben, welche die Mekkaner nun nicht bekommen werden!" (S. 343-46)


9.2.2

Das Spiegelbild Kara Ben Nemsi


An Kara Ben Nemsi wendet sich Halef, Mays Alter ego 'nach unten', in dieser Rede. Kara Ben Nemsi (alias Hadschi Akil Schatir),43 Mays Alter ego 'nach oben', war - als Christ - schon immer für die Güte, die Menschlichkeit. Omar Ben Sadek - früher ein fanatischer, nach Rache schnaubender Moslem - bezeugt:


"Du brachtest keine Lehren; du sagtest keine Worte, aber du sprachst in Thaten. Du lebtest ein Leben, welches eine hinreißende, eine überzeugende Predigt deines Glaubens war [...] So hast du in uns den Geist der Selbstsucht, des Hasses, der Rache besiegt; [...] und so bin auch ich [...] ein gläubiger und folgsamer Anhänger des Gottessohnes geworden, der seine Lehre von der ewigen Macht der Liebe durch sein ganzes Leben, durch sein Leiden und dann durch seinen Tod besiegelt und bestätigt hat." (S. 89f.)


   Kara Ben Nemsi ist 'Missionar'. Aber auch er muß geläutert werden - ein in den früheren Reiseerzählungen, in dieser Deutlichkeit, nicht bekanntes Motiv! Der blinde Münedschi hat den Helden in einer Vision schon durchschaut: "Ich sah dich selbst in zwei verschiedenen Gestalten, welche gegen einander kämpften [...] Die dunkle bestand aus deinen Fehlern, die du noch nicht überwunden hast." (S. 170)44

   Als Ben Nur dringt der Blinde in das Wunsch-Ich des Dichters ein - wie ein zweischneidiges Schwert. Ben Nur, die Licht-Gestalt des ebenfalls gespaltenen Münedschi, warnt den Effendi: "[...] du bedrohst dich als dein eigener Feind [...] Sei ja nie stolz auf deine Liebe!" (S. 405)

   Dieses Wort muß Kara-May treffen. Denn es gibt, und dies ist die subtilste Versuchung des 'Frommen', eine Frömmigkeit, eine Sanftmut, ein Leiden, die - heimlich, sehr heimlich und (oft) unbewußt - sich selbst noch genießen. Der Münedschi warnt Kara-May vor dem geistlichen Hochmut. Und er warnt vor dem "Drachen" (EI Aschdar), dem Verderber des Menschen:


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"Du hast mit ihm gekämpft, solange du lebst; er hat dich oft zum Fall gebracht, doch standest du immer wieder auf, [...] gehalten von der unsichtbaren Hand, die dich beschützt [...] El Aschdar ist ein [...] Feind, der immerwährend auf der Lauer liegt. Auch dich hat er nicht etwa freigegeben; er wartet nur, und kommt der Augenblick, [...] so schlägt er seine Krallen plötzlich ein, und dann beginnt der schwere Kampf mit seiner Macht von neuem. Ich seh' ihn lauern hier an deinem Wege; schon speit er seinen Geifer dir entgegen; es kommt mit ihm bald zum Zusammenprall; drum sei darauf bedacht, daß du dich seiner wehrst! [...] Ich wurde jetzt gebeten, dir zu sagen, daß du dem Drachen grad entgegengehst. Es ist ein Kampf mit ihm nicht zu vermeiden [...]" (S. 406f.)


   Die Schatten der Vergangenheit - May wird sie nicht los. Schon der Surehand-Roman gibt, nur wenig verhüllt, solche Andeutungen preis. Doch jetzt, in Jenseits, ist auch die Zukunft im Blick. Karl May hat, so möchte man meinen, schon jetzt - noch auf der Höhe des Ruhmes - geahnt, daß seine Stunde, das 'Hiobsleiden', bald kommen wird. Nur wenige Monate werden vergehen. Dann wird der 'Drachen'-Kampf, nach innen und außen, - "von neuem" - und mit größerer Macht - beginnen. Zwölf Jahre wird er noch dauern: bis zum Tode des Dichters.

   Was ist der "Drache"? Nach Münedschi-Ben Nur: die Abkehr von Gott, das Herausfallen aus der Liebe, die selbstgerechte Vergeltung, der Haß auf den Feind. Auf der Handlungsebene des Romans ist der "Drache" ein Bild, eine Allegorie für die Versuchung Kara Ben Nemsis: Dieser will - aus gerechter Empörung - den Ghani, den "Liebling des Großscherifs", den "Reichen" in Mekka, mit dem Tode bestrafen. Doch der Blinde schreit auf: "El Aschdar - - -! El Aschdar - - -! El Aschdar - - -!" (S. 530) Kara erschrickt, erschrickt vor sich selbst. Er läßt sie sinken, die rächende Hand. Er gibt ihn frei ohne Bedingung, den Dieb, den Mörder, den scheinheiligen Pharisäer.

   Eine Allegorie ist der "Drache" auch in der Realität des Schriftstellers Karl May. Die Freundschaft mit Pustet, dem katholischen Verleger, ist soeben gebrochen; über die 'Schundromane', die May für Münchmeyer verfaßt hatte, wird schon gemunkelt;45 Christen und Atheisten werden - schon bald - des Schriftstellers Ehre vernichten. May wird versucht sein, mit denselben Waffen zurückzuschlagen: mit Haß und Polemik, mit selbstgefälliger Christlichkeit. Wird er sie hören, die Stimme Ben Nurs? Oder wird der "Drache" sich durchsetzen?


9.2.3

Das Spiegelbild Münedschi-Ghani


Noch erhellender, noch schonungsloser und hintergründiger als in Halef und Kara Ben Nemsi ist die Selbstreflexion des Dichters im Münedschi: dem blinden Seher, der zunächst an Teiresias in der griechischen Mythologie erinnert. Der Münedschi ist blind im wörtlichen wie im übertragenen Sinne: Dem 'frommen' Ghani, dem "Reichen", schenkt er sein ganzes Vertrauen. Daß der Ghani ein Verbrecher ist, ein Dieb, ein teuflischer Bösewicht, nimmt er nicht wahr. Im Gegenteil: Er hält ihn für seinen "Wohltäter", für den "einzigen" Menschen, der ihn schätzt und ihn liebt. Der Blinde ahnt nicht, daß der Ghani ihn hintergeht, ihn betrügt und am Ende gar aussetzen wird: in der "Wüste", im Sand des Verderbens.

   Was ist der Ghani in Wirklichkeit? Zum einen - wie Mays Schufte sonst auch - ein Symbol des Bösen schlechthin, des Dämonischen in seiner metaphysischen Dimension;46 zum anderen - wie Wollschläger gezeigt hat47 - eine 'Vater-Imago', eine Verkörperung der negativen Züge des Heinrich May. Dem 'blinden' Vertrauen des kleinen Karle, des (bis zum fünften Lebensjahr) blinden Kindes, in den übermächtigen Vater entspricht die Beziehung des Münedschi zum Ghani. Der Autor gewinnt, bewußt oder unterbewußt, auf


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diese Weise Distanz vom "eigenen, durch das Vaterbild bestimmten Ich-Ideal, mit dem der Münedschi am Schluß des Buches so unwiderruflich scheitert."48

   Die autobiographische Bedeutung der Beziehung Münedschi-Ghani erschöpft sich freilich nicht in diesem Aspekt. Nicht nur das Dunkle im Charakter des Vaters Heinrich May ist mit dem Ghani gemeint. Mit hoher Wahrscheinlichkeit spiegelt sich im Verhältnis Münedschi-Ghani auch die Beziehung May-Pustet! Wir dürfen annehmen, daß auch Pustet und der 'Deutsche Hausschatz' im Ghani zu finden sind: dämonisiert wie später - im Silberlöwen III/IV - Fedor Mamroth im "Fürsten der Finsternis" und Hermann Cardauns im "Henker", im Ghulam el Multasim.49

   Der Jenseits-Roman gibt beachtliche Hinweise in dieser Richtung: Der Blinde ist (wie May) ein interessanter, ein faszinierend, fast magisch wirkender Mann. Als Wahrsager und Hellseher wird er von den Leuten bestaunt. Doch der Ghani nützt ihn nur aus, stellt ihn zur Schau vor den 'Gläubigen' und verdient auf diese Weise sein Geld. "Genau so hatte es Pustet mit May gemacht - jedenfalls mag es Karl May bei der Abfassung des Jenseits-Bandes so gesehen haben."50

   Der Ghani steht in engster Beziehung zu einem hohen geistlichen Würdenträger: dem Großscherif, dem "Heiligen" in Mekka. Mays Verbrecher gaben sich auch in früheren Romanen gerne als 'Heilige', als Fakire und fromme Derwische aus. Gegen pseudoreligiöses Getue, gegen den Mißbrauch der Religion zu persönlichen Zwecken ist May ja schon immer gewesen. Böse Erfahrungen im Seminar zu Waldenburg, in der Hilfslehrerzeit und im Gefängnis stecken dahinter. Und in diesem Falle - im Ghani - darf auch ein aktueller Hintergrund supponiert werden: eine Anspielung auf die Bindung Pustets an kirchliche Kreise, in denen May jetzt Gegner zu vermuten beginnt.

   Der Blinde sieht im Ghani - verblendet - seinen einzigen Wohltäter. Das wird so oft und so nachdrücklich gesagt, daß es eine persönliche Relevanz für den Autor wohl nahelegt. Kann mit dem einzigen Wohltäter Friedrich Pustet gemeint sein? Hat sich May dem Regensburger Verleger in DIESER Weise jemals verpflichtet gefühlt? Man wird da weniger an Pustet als Einzelperson, wohl aber - insgesamt - ans literarische Umfeld des damaligen Katholizismus und speziell an den 'Deutschen Hausschatz' zu denken haben: "May wird es so empfunden haben, daß er erst durch den Hausschatz und die Unterstützung der katholischen Literaturpublizistik zu einem seriösen, beachteten und beliebten Autor geworden ist"; gewiß - finanziellen Erfolg hatte May durch Fehsenfelds 'grüne Bände', kulturelle Bedeutung und soziales Ansehen aber "nur als Lieblingsschriftsteller der katholischen Welt"51 erlangt. Insofern war Pustet (stellvertretend für die katholische Publizistik) der 'einzige Wohltäter' Mays.

   Doch der Ghani, der einzige 'Freund' des Münedschi, läßt diesen dann sitzen: in der Wüste. Ebenso wollten die katholische Literaturbewegung um Carl Muth und der 'Deutsche Hausschatz' den Schriftsteller May "in die Wüste schicken!"52 Muths literarische Impulse dürfte May, im Prinzip, zwar gebilligt haben;53 Pustets "Waschzettel" (1898) aber, dessen genauen Inhalt wir freilich nicht kennen, hat May als Vorverurteilung, als "Verrath an der [...] Freundschaft"54 verstanden!

   Apropos Wasch-Zettel: Der Ghani trägt, wie ganz am Rande vermerkt wird, den Beinamen EI Waraka, zu deutsch "Der Zettel" (S. 159), und er hört diesen Namen "nicht gern". Warum? Die Erklärung dafür - auf der Handlungsebene des Romans - wirkt umständlich, gekünstelt und ungeschickt; im weiteren Verlauf der Erzählung wird sie nie wieder aufgegriffen. Gerade das ist verräterisch! 'Fehlleistungen' dieser Art deuten bei May fast immer auf (verdeckte) psychische Brisanz. Die richtige Erklärung des 'Zettels'


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wird in der Biographie des Dichters zu suchen sein: An Pustets Waschzettel wird Karl May wahrscheinlich gedacht haben.

   Nimmt man alle diese Indizien zusammen, so bleibt doch kein Zweifel: dem Jenseits-Roman ist nebenbei zu entnehmen, wie der Schriftsteller den Bruch mit Pustet erlebt hat. Er fühlte sich betrogen als Opfer eines 'Verräters'. Das Opfer ist, in der romanhaften Verschlüsselung, der Blinde. Damit wird klar: Im Münedschi spiegelt sich May, und zwar nicht nur das blinde, hilflose KIND,55 sondern auch der Schriftsteller in den Jahren 1898/99.

   Auf diese Jahre ALLEIN beschränkt sich die Selbstbesinnung des Autors freilich ebenso wenig wie auf die Kindheitsjahre allein. Denn nicht nur ein besonderer Lebensabschnitt, sondern die Gesamt-Existenz des Dichters wird im Jenseits-Buch, in der Figur des Münedschi vor allem, sehr kritisch durchleuchtet.


9.2.4

Das Spiegelbild Münedschi-Ben Nur


Wer ist der Münedschi? NUR ein schuldloses Opfer? Keineswegs. Eine ganz und gar fragwürdige, eine schillernde, eine zwielichtige Gestalt ist dieser Mann. Das Fundament seines Existierens - als Mensch und als Dichter, als Erzieher und 'Prediger' - stellt Karl May hier in Frage, radikaler noch als in Surehand III (in Old Wabble), im Silberlöwen I/II (in Dozorca) oder im Weihnachts-Roman (in Carpio).

   Ein "in der Wüste verlorenes Schaf", das "seinen Hirten sucht" (S. 174), ist der Münedschi. Der Blinde ist geteilt in zweierlei Wesen. Was er in der Ekstase, mit der Stimme 'Ben Nurs' ZU SAGEN hat, ist erschütternd, ist gut und ist wahr. Aber er SELBST ist problematisch, dem Erzähler "ein Rätsel" (S. 120): "Bedenklich waren mir nicht seine Worte, sondern war mir nur er selbst" (S. 342).

   Münedschis Problem: Er sieht - mit seinem inneren Blick - das Vergangene, das Jetzige und das Künftige; nur "alles, was mich selbst betrifft, was sich auf meine Person bezieht, das sehe ich nicht." (S. 173) So kann er auch die LIEBE nicht finden, über die er so trefflich philosophiert, ohne sie "auf sich selbst beziehen"56 zu können. Das Geschaute bleibt ihm persönlich verschlossen. Es bringt ihm kein Heil, keine Heilung.

   Der Münedschi ist - noch tragischer als Old Wabble, Dozorca oder Carpio - ein 'gebrochener Charakter'. Im normalen Zustand, im Wachen ist er ein nikotinsüchtiger,57 ein über-nervöser, vielleicht 'hysterischer' (S. 120), jedenfalls hilfloser Greis. Das Vertrauen zur Menschheit hat er verloren, und nach Liebe hat er vergeblich verlangt: "Ich habe sie gesucht bei Gott, bei den Menschen, im Leben, in der Kirche - - -" (S. 363), umsonst! Vor allem die Christen haben ihn bitter enttäuscht. Sie reden von Liebe und frönen dem Streit. So trat er - wie Dozorca im Silberlöwen - denn über: zum 'Islam' (wohl nicht gerade zur "Haßreligion",58 aber doch zu einer fremden, womöglich selbst gebastelten Religion). Doch den Frieden findet er nicht.

   Verunsichert im Glauben - was er überspielt durch scheinbare Glaubenssicherheit -, gehört er zu den Dürstenden, die die Quelle nie finden, "weil sie blind an ihr vorübergehen"! (S. 106)

   In der Trance jedoch, im Traumwandel (oder wie immer man diesen Zustand benennen mag), geht der Blinde mit sicherem Schritt. Und er spricht mit veränderter Stimme, mit der Stimme Ben Nurs. "Der Gelehrte wird zwar da gleich von Krankheit sprechen. Ja, krank war der Münedschi; das ist nicht zu leugnen"; aber was er sagte, konnte nicht "das


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ausschließliche Produkt des kranken Gehirns" sein (S. 522)! Denn gerade das Kranke, das Schwache, das Törichte hat Gott - wie es in der Bibel heißt - ERWÄHLT (1 Kor 1, 27).

   Der Blinde wird in der Trance zum 'Propheten', zum 'Mund', durch den ein anderer spricht. Dieser 'andere' ist Ben Nur, der Sohn des Lichtes.

   Nach Wollschläger ist Ben Nur der "Abglanz der Mutter":59 der verlorenen Liebe (der Mutter Karl Mays), die den Dichter schon immer bewegt hat. Diese - psychoanalytische - Deutung wird richtig sein, doch sie berührt nur EINEN, wenn auch wichtigen Teilaspekt.

   Wer ist Ben Nur? Das "Gewissen"60 des Münedschi? Die Stimme des Unbewußten, die "Inspirationsquelle"61 des Dichters? Die Stimme der Wahrheit, der 'göttliche Funke' in der Seele des Autors (dessen Feder, wie es in Surehand III heißt,62 die 'Schutzengel' führen)?

   Als Engel des Herrn, als Bote der Ewigkeit,63 als Mittler des göttlichen Wortes könnte Ben Nur - den ersten Deckelbildern des Jenseits-Buches64 entsprechend - theologisch interpretiert werden. Die partielle Motiv-Verwandtschaft des Jenseits-Romans mit Dantes Komödie ist offensichtlich: Ein Engel, ein "vom Himmel Gesandter" begegnet auch dem Seher in der Commedia, zum erstenmal im 9. Gesang des 'Infemo'.65

   Dantes Engel nun freilich tritt auf in persona. Der 'Engel' Ben Nur aber ist das unsichtbare Alter ego eines menschlichen Wesens. Ben Nur ist der 'andere' Münedschi, genauer: das Göttliche IM Münedschi. Dies wird der Schlüssel sein für die autobiographische Deutung des Münedschi bzw. des Lichtwesens Ben Nur: Im blinden Münedschi verbirgt sich der MENSCH Karl May in all seiner Fragwürdigkeit; in Ben Nur aber wird das 'Göttliche' seiner DICHTUNG, das Wahre, das Schöne und Gute seiner - inspirierten66 - Bilder und Träume symbolisiert.

   Münedschi und Ben Nur: der Mensch und der Dichter Karl May! Zwei verschiedene Welten? Für immer? May gehört, so wird oft gesagt, zu denjenigen Schriftstellern, bei denen Werk und Person (literarisches Ich-Ideal und reale Existenz des Verfassers) besonders weit auseinanderklaffen. Und doch ist zu fragen: Soll der Mensch, der May IST, in Ewigkeit 'trauernd den grüßen',67 der er hätte WERDEN sollen (und den das Edel-Ich seiner Werke antizipiert hat)? Muß er - für immer - sich selbst, seine Möglichkeiten, verfehlen?

   Der Dichter steigt auf: zur 'richtigen', zur 'Hochliteratur'. Und der Mensch Karl May? Auch er will 'hinauf': zur höheren Menschlichkeit, zu - Gott. Auf welchem Weg? "Hast du die Liebe?", fragt Kara Ben Nemsi den Blinden. "Warum that ich grad diese Frage?" (S. 96) Weil er es weiß: daß nicht der Erfolg, nicht der Besitz (im Roman der "Schatz der Glieder", die "vielen Beutel") und nicht der Ruhm bei den Menschen, sondern allein die Liebe Gewicht hat: auf der 'Waage' des Gottes-Gerichts.

   Soll May die Liebe, die seine Bücher verkünden, für sich selbst niemals finden? Der Weg zur Liebe ist, für May jedenfalls, der Weg der Läuterung. Es begann - so meint der Erzähler des Jenseits-Romans über sich selbst -


eine große, leider so unendlich schwierige Reinigung, daß ich gar wohl einsehe, mit ihr in diesem kurzen Erdenleben nicht fertig werden zu können; aber es wurde doch wenigstens soviel Erdenschmutz überwunden, daß mir jetzt, wo ich fast sechzig Jahre zähle, das Weiterlernen und Weiterüben als die schönste Aufgabe der mir noch beschiedenen, abendroten Tage erscheint. (S. 454)


   Mays "Weiterüben" wird - nach der bitteren Kindheit, den Jahren der Haft und (vermutlich) der Ehe mit Emma - zum neuen 'Inferno'. Doch die göttliche Gnade, die der Jenseits-Band so kräftig bezeugt,68 wird auch May, den Dichter wie den Menschen, nicht fallen lassen.


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Anmerkungen


1Die folgenden Ausführungen sind die leicht überarbeitete und zum Teil erweiterte Fassung von Hermann Wohlgschaft: "Das ist die Wage der Gerechtigkeit". Bemerkungen zu Karl Mays 'Jenseits'-Roman. In: JbKMG 1988, S. 184-208 (S. 184-193).
2Näheres bei Martin Lowsky: Flucht nach einem einsamen Ort. In: MKMG 89 (1991), S. 47f.
3Vgl. Roland Schmid: Nachwort (zu Am Jenseits). In: Karl May: Freiburger Erstausgaben, Bd. XXV. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1984, N 14-24.
4Ulrich Schmid: Das Werk Karl Mays 1895-1905. Erzählstrukturen und editorischer Befund. Materialien zur Karl-May-Forschung, Bd. 12. Ubstadt 1989, S. 113.
5Vgl. unten, S. 375ff.
6Vgl. R. Schmid, wie Anm. 3, N 20f.
7Robert Müller: Nachruf auf Karl May. In: JbKMG 1970, S. 106-109 (S. 109).
8Hans Wollschläger: Der "Besitzer von vielen Beuteln". Lese-Notizen zu Karl Mays 'Am Jenseits' (Materialien zu einer Charakteranalyse II). In: JbKMG 1974, S. 153-171 (S. 171, Anm. 84), zitiert einen Brief Karl Mays vom 17.4.1907: "Der zweite Band von 'Am Jenseits' wird unter dem Titel 'Im Jenseits' sofort erscheinen, wenn ich sehe, daß der erste Band verstanden worden ist." - Mays Ironie ist unverkennbar.
9Wollschläger: Besitzer, wie Anm. 8, S. 167.
10Vgl. Hartmut Vollmer: Karl Mays 'Am Jenseits'. Exemplarische Untersuchung zum 'Bruch' im Werk. Materialien zur Karl-May-Forschung, Bd. 7. Ubstadt 1983 - Ders.: (Werkartikel zu) Am Jenseits. In: Karl-May-Handbuch. Hrsg. von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987, S. 277-282. - Sibylle Becker: Karl Mays Philosophie im Spätwerk. Materialien zur Karl-May-Forschung, Bd. 3. Ubstadt 1977, zieht - aufgrund des Inhalts - Am Jenseits zu Recht für die Untersuchung der Altersromane mit heran. - Auch im Editionsplan der 'Historisch-kritischen Ausgabe' der Werke Mays (hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger) wird Am Jenseits zum Spätwerk gerechnet.
11Vgl. unten, S. 391ff.
12Vgl. oben, S. 139ff.
13Zit. nach U. Schmid, wie Anm. 4, S. 86.
14Zit. nach Hans Wollschläger: Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens. Zürich 1976, S. 88, und R. Schmid, wie Anm. 3, N 18.
15Wollschläger: Karl May, wie Anm. 14, S. 88.
16Wollschläger: Besitzer, wie Anm. 8, S. 165.
17Vgl. U. Schmid, wie Anm. 4, S. 105.
18Wollschläger: Besitzer, wie Anm. 8, S. 166.
19Karl May: Am Jenseits. Gesammelte Reiseerzählungen, Bd. XXV. Freiburg 1899, S. 173.
20Wollschläger: Besitzer, wie Anm. 8, S. 154.
21U. Schmid, wie Anm. 4, S. 113.
22Vollmer: Karl Mays 'Am Jenseits', wie Anm. 10, z.B. S. 69-75 (mit Bezug auf den 'Schatz der Glieder' und den Teppich, der den Schatz verhüllt).
23Ebd., S. 101ff.
24U. Schmid, wie Anm. 4, S. 112f.
25Ebd., S. 159; vgl, ebd., S. 113f.
26In Mays Brief vom 6.10.1896 an Fehsenfeld; vgl. oben, S. 283.
27Claus Roxin: "Dr. Karl May, genannt Old Shatterhand". Zum Bild Karl Mays in der Epoche seiner späten Reiseerzählungen. In: JbKMG 1974, S. 15-73 (S. 56).
28U. Schmid, wie Anm. 4, S. 112.
29Vollmer: Karl Mays 'Am Jenseits', wie Anm. 10, S. 100 - Zur tieferen Bedeutung der 'Wüste', des 'Wassers' und des 'Brunnens' vgl. ebd., S. 39ff.
30Ebd., S. 100.
31Eckard Etzold: Karl May: Am Ort der Sichtung. Ein literarisches Todesnähe-Erlebnis. SKMG Nr. 81 (1989).
32C.S. Lewis: Die große Scheidung oder Zwischen Himmel und Hölle. Einsiedeln 1978 (ins Deutsche übertragen von Helmut Kuhn).
33Vgl. Vollmer: Werkartikel, wie Anm. 10, S. 281.


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34Auf die Schau des 'Inferno' oder gar des 'Paradiso' verzichtet Mays Jenseits-Roman. - Vgl. unten, S. 601ff.
35Dantes 'lnferno'-Vision dürfte - über apokryphe (in den biblischen Kanon nicht aufgenommene) Apokalypsen - von orphisch-pythagoräischen Hades-Büchern beeinflußt sein. Die Zustände im Jenseits, die verschiedenen Sünderklassen und ihre Qualen werden dort breit und genüßlich ausgemalt. - Vgl. Albrecht Dieterich: Nekyia. Beiträge zur Erklärung der neuentdeckten Petrusapokalypse. Leipzig 1893.
36Vgl. Vollmer: Karl Mays 'Am Jenseits', wie Anm. 10, S. 60ff.
37Guardini hat Mays Bücher gekannt und offensichtlich geschätzt. Zu Guardinis Beziehung zu May finden sich bei Hanna-Barbara Gerl: Romano Guardini. 1885-1968. Mainz 1985, S. 25 u. 277, einige Angaben: Guardinis Freundschaft mit dem Mainzer Priester Adam Gottron habe sich u.a. dadurch entwickelt, daß die Brüder Guardini im Besitz sämtlicher May-Bände gewesen seien. Guardini selbst habe vorgeschlagen, in einer Leseecke im Vorraum der Bibliothek auf Burg Rothenfels auch die Werke Mays aufzustellen. - Ob Guardini speziell den Jenseits-Band kannte, wie er über Mays Bücher reflektierte und ob er für bestimmte Werke Mays eine besondere Neigung hatte, konnten weder Frau Gerl noch Bischof Ernst Tewes (einer der Freunde Guardinis) mitteilen. Nach Auskunft des Leiters der Katholischen Akademie Bayern, Dr. Franz Henrich, findet sich auch im ungedruckten Nachlaß Guardinis, soweit er heute zu überblicken ist, kein entsprechender Hinweis.
38Vgl. unten, S. 601ff.
39Seitenangaben in () beziehen sich auf May: Am Jenseits, wie Anm. 19.
40Zur Charakteristik Halefs vgl. Christoph F. Lorenz - Bernhard Kosciuszko: Hadschi Halef Omar. In: Großes Karl-May-Figurenlexikon. Hrsg. von Bernhard Kosciuszko. Paderborn 199 1, S. 201-211.
41Vollmer: Karl Mays 'Am Jenseits', wie Anm. 10, erwähnt merkwürdigerweise diesen Dialog überhaupt nicht, obwohl er, ansonsten, biographische Spiegelungen sehr wohl beachtet.
42Vgl. oben, S. 296f.
43Zur Deutung dieses Pseudonyms vgl. Vollmer: Karl Mays 'Am Jenseits', wie Anm. 10, S. 28f.
44Dasselbe Motiv - May gegen May - findet sich in verschiedenen Bildern im gesamten Spätwerk (zum Teil auch in früheren Schriften) Mays.
45Vgl. oben, S. 349f.
46Vgl. Gert Ueding: Die Rückkehr des Fremden. Spuren der anderen Welt in Karl Mays Werk. In: JbKMG 1982, S. 15-39.
47Wollschläger: Besitzer, wie Anm. 8, S. 157ff. - Ähnlich Gernot Grumbach: Das Alterswerk Karl Mays. Ausdruck einer persönlichen Krise. SKMG Nr. 32 (1981), S. 31; vgl. auch Vollmer: Karl Mays 'Am Jenseits', wie Anm. 10, S. 13 ff.
48Claus Roxin: Das vierte Jahrbuch. In: JbKMG 1974, S. 7-14 (S. 9).
49Vgl. unten, S. 391ff. (zu Mamroth und Cardauns) u. S. 444f. (zur Spiegelung im Silberlöwen III/IV).
50Claus Roxin in einem Brief vom 20.6.1987 an den Verfasser.
51Claus Roxin in einem Brief (dort auch das vorausgehende Zitat) vom 2.7.1987 an den Verfasser.
52Ebd.
53Vgl. oben, S. 351f.
54Vgl. oben, S. 350.
55Vgl. Wollschläger: Besitzer, wie Anm. 8, S. 156; ebenso Vollmer: Karl Mays 'Am Jenseits', wie Anm. 10, S. 13.
56Vollmer: Ebd., S. 59.
57Auch Karl May war in diesen Jahren ein starker Raucher!
58So meinte Britta Berg: Religiöses Gedankengut bei Karl May. SKMG Nr. 47 (1984), S. 13ff.
59Wollschläger: Besitzer, wie Anm. 8, S. 156; auch Grumbach, wie Anm. 47, S. 31.
60Euchar Albrecht Schmid: Gestalt und Idee. In: Karl May's Gesammelte Werke, Bd. 34 "Ich". Bamberg 361976, S. 353-408 (S. 396).
61Roxin: "Dr. Karl May ", wie Anm. 27, S. 61 (mit allgemeinem Bezug auf " überindividuelle Instanzen" in Mays späten Reiseerzählungen).
62Vgl. oben, S. 344.


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63In der biblischen Sicht ist der Engel ein Bote Gottes, manchmal auch - als 'Engel Jahwes' -Gott selbst. - Vgl. Bibel-Lexikon. Hrsg. von Herbert Haag. Einsiedeln, Zürich, Köln 21968, Sp. 389-395.
64Das Deckelbild der ersten Fehsenfeld-Ausgabe zeigte - von einem uns nicht bekannten Künstler - einen Engel, der sich dem knieenden Münedschi zuwendet. Das spätere Deckelbild Sascha Schneiders zeigte einen Engel, der den Münedschi führt.
65Dazu Romano Guardini: Der Engel in Dantes göttlicher Komödie. München 21951, S. 20ff.
66Zum Gedanken der göttlichen Inspiration in Mays Dichtung vgl. Ernst Seybold: Karl-May-Gratulationen. Geistliche und andere Texte zu und von Karl May. Ergersheim 1987, S. 90 unten.
67Vgl. Karl Rahner: Trost der Zeit. In: Ders.: Schriften zur Theologie III. Einsiedeln, Zürich, Köln 61964, S. 169-188 (S. 180).
68Vgl. unten, S. 606ff.




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