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Der Mensch und sein Traum: Ein Schrei nach Erlösung


Das Leben dieses Märchenerzählers war selbst wie ein Märchen - so phantastisch und so bedeutungsschwer. Seltsam war auch die Wirkungsgeschichte: Millionen von Lesern hat der Schriftsteller gefallen, bedeutenden Geistern hat er imponiert und nicht wenige Dichter hat er beeinflußt. Ernst Bloch, der Bedenker der Hoffnung, hat ihn gerühmt; aber auch Hitler war fasziniert.1 Utopisten stimmten ihm zu, und Reaktionäre fanden sich bestätigt durch ihn. Christen (katholische wie evangelische) waren begeistert von ihm oder lehnten ihn ab - aus verschiedenen Gründen.

   Wie hat Karl May tatsächlich gelebt? Was hat er geschrieben? Wie verhalten sich Leben und Werk zueinander? Die folgende Darstellung will informieren und interpretieren. Die Wiedergabe der Fakten stützt sich auf die Erkenntnisse der Karl-May-Forschung, die das Bild des Abenteuerromantikers, des Volks- und des Jugendschriftstellers entscheidend korrigiert hat. Die DEUTUNG der Fakten ist vom theologischen Interesse geleitet, das in der Literatur über May (die vorwiegend anderen - germanistischen, psychologischen und gesellschaftlichen - Erkenntniszielen verpflichtet ist) in der Regel vernachlässigt wird.

   Mays Autobiographie Mein Leben und Streben kommt als Quelle für die Lebensbeschreibung nur bedingt in Betracht.2 Sie ist im Zusammenhang mit gerichtlichen Auseinandersetzungen des Jahres 1910 zu sehen. May wollte seine Prozesse gewinnen; diesem Zweck dienten auch Teile der Selbstbiographie.3 Die Ereignisse werden retrospektiv, aus der Sicht des fast Siebzigjährigen, betrachtet. Wie in allen Selbstbiographien ist die Darstellung subjektiv. Mit Gedächtnissperren, mit versagender Erinnerung, mit Kontrollmechanismen und Blickverengungen ist von vorneherein zu rechnen.4 Größere Lücken, zeitliche Verschiebungen und sachliche Unstimmigkeiten sind da kein Wunder.

   Als bloße Schutzbehauptungen - zum Zwecke der Rechtfertigung und der Selbstglorifizierung des Autors - können diese Bekenntnisse aber keinesfalls abgetan werden. Trotz des Fragmentarischen, trotz der Einseitigkeiten und trotz der Polemik (in den letzten Kapiteln) enthalten sie doch viel Wahres, der kritischen Selbsterkenntnis des Verfassers sehr Förderliches. Objektiv liefern sie brauchbares, von der Forschung im wesentlichen bestätigtes Material; subjektiv sind sie "unbedingt glaubwürdig": als "vom festen Willen zur Wahrhaftigkeit durchdrungene Bekenntnisse".5

   Mein Leben und Streben ist - so Wollschläger -


zu Recht in die literarische Dauer eingegangen [...] die 'Wahrheit' des Werks liegt gänzlich außerhalb der Dokumente [...] Dabei erreicht auch die faktische Wahrheit ein bei Selbstbiographien durchaus ungewöhnlich hohes Maß, und die subjektiven Verschiebungen erweisen sich als nur zusätzlich sprechend und aufschlußreich [...] eine bewußte Entstellung oder Retusche ad hoc ist nirgends nachweisbar.6


   Ästhetisch gesehen ist Mein Leben und Streben ein Kunstwerk von Rang. Literarische Vorlagen - Johann Peter Hebel,7 auch Goethe u.a. - hat der Autor gekannt und wahrscheinlich benutzt. Wie der May-Kommentator Helmut Schmiedt gezeigt hat,8 wäre ein Vergleich mit der Selbstbiographie Goethes interessant und ergiebig: Mays Buch kann als "streckenweise parallel angelegtes Gegenbild" zu Dichtung und Wahrheit gelesen werden.9


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   In der Autobiographie - und schon vorher in den Altersromanen - findet Karl May die Lösung des 'Rätsels', das sein Leben verdunkelt hatte. Mit Verweis auf den Titel eines psychiatrischen Lehrbuchs bringt er die Lösung auf den Begriff. "Die sogenannte Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung überhaupt." (S. 177)10 Dieses 'Buch' ist fiktiv; es hat wohl nie existiert. Doch die ERFAHRUNG, die hier verschlüsselt wird, brachte dem 'Gefangenen' - aus späterer Sicht zumindest - den Frieden, die innere Freiheit.

   Mit der 'sogenannten Spaltung des menschlichen Innern' beantwortet der Dichter die 'Karl-May-Frage': Seine persönliche Schuld, seine Reue, sein innerer Widerspruch, sein Kampf mit sich selbst spiegeln die 'Menschheitsklage', die scheinbare Heillosigkeit des Daseins überhaupt. Sein besonderer Fall wird zum Exempel des Allgemeinen: des Falls in den Abgrund, des Strebens nach oben, des Infernos der Prüfung und - der 'List' der göttlichen Gnade.

   Psychoanalytisch gesehen mag Mein Leben und Streben die Beichte eines Neurotikers sein.11 Und spirituell, theologisch gesehen? Ein Grenzfall von wahrer Erkenntnis und Schönfärberei? Eine Gratwanderung zwischen sündiger Selbstüberhebung und (dennoch) begnadeter Selbstübersteigerung? Oder - ein Glücksfall von erlöster Tragik und erlösender Sehnsucht?

   Mays Autobiographie liegt eine tiefe Religiosität zugrunde, deren Echtheit nicht zu bezweifeln ist. Ein festes Gottvertrauen kommt hier zum Ausdruck: mitten in einer Leiderfahrung, die ihresgleichen sucht. Der Hinweis Heinz Stoltes, eines bekannten May-Interpreten, ist angemessen und richtig: Wie Hiob ist dieser Mensch 'vom Herrn da droben' geprüft worden.12 Und hat den Glauben bewahrt.

   Seine Leidensgeschichte enthüllt sich, in der Selbstreflexion, als persönliche Heilsgeschichte. Das eigene Kreuz wird verbunden mit dem Kreuz dieser Welt und mit dem Schrei vieler Menschen: Die eigene Not wird hineingenommen in jene - umfassende -Liebe, die für alle "den Tod erlitt".13

   Das ist die Rettung! Wer sein Leben, wer sich selbst mitsamt seinen Krankheiten ANNEHMEN kann, der hat sich selbst - die Fixierung aufs eigene Ich - überwunden. Der Schrei nach Erlösung ist dann erlöst. Das Unheil ist "nicht mehr zu fürchten" (S. 177), und die Angst ist besiegt.

   Der alte Karl May war, so darf man wohl sagen, ein geistlicher Mensch. Aber hat er sich wirklich ganz 'losgelassen' in die Hand Gottes hinein?14 Oder war auch die Frömmigkeit noch ein Trug: die Maske der Eitelkeit, die sich selber genügt? Die Psychologie kann das nicht eindeutig fassen; über das Innerste kann sie nicht richten.15

   Das "Plädoyer für Karl Mays Christlichkeit" (Ernst Seybold)16 ist bestens begründet. Denn die letzte Gefahr - die Gefahr des Selbstbetrugs - hat May wohl erkannt, und die Hoffnung auf Gott war sein rettender Halt. In seinem Friede-Roman steht es geschrieben: "Zwei Geister streiten sich um Dich, ein guter und ein böser, der eine nur angeblich, der andre wirklich fromm [...] Gott gebe Dir und mir ein frohes Resultat!"17

   In Mein Leben und Streben ist dieses Resultat schon erkennbar. Mit dem "Herzblut des Autors"18 ist dieses Buch geschrieben, aufrüttelnd, mit hoher stilistischer Kunst und artistischer Formkraft. "Es ist das wichtigste und ernsteste Buch, welches ich jemals geschrieben habe."19 Es ist nach Stolte das "menschlichste" und "ergreifendste"20 seiner Bücher, ein - so der Schriftsteller Hans Wollschlüger - "in jeder Hinsicht 'bedeutendes'", ja für den Autor "lebensrettendes" Werk.21 Hätte Karl May nur dieses eine Buch verfaßt,


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"so verdiente er schon daraufhin den Namen eines unserer größten, unserer ehrlichsten Schriftsteller".22

   Mein Leben und Streben soll im folgenden zu Wort kommen, wenn auch kritisch begleitet: Als Ergänzung und Korrektiv dienen die Forschungsergebnisse, die durch die 1969 gegründete Karl-May-Gesellschaft - in ihren Jahrbüchern, Sonderheften und Mitteilungsblättern - erheblich bereichert wurden. Auf biographische und werkanalytische Detailuntersuchungen, auf amtliche Akten und Presseberichte, auch auf die früheren Karl-May-Jahrbücher (1918-1933)23 wird zurückgegriffen. Auch weitere Selbstzeugnisse Mays werden berücksichtigt: die autobiographischen Schriften im engeren Sinn (diverse Notizen, Streit- und Prozeßschriften), zahlreiche Briefe und das große Erzählwerk, das ja wichtiges - freilich behutsam zu wertendes - biographisches Material enthält.

   Das Letzte und Tiefste des menschlichen Seins bleibt immer Geheimnis, unsagbar und dem Zugriff der forschenden Neugier entzogen. Mit dieser Einschränkung ist aber zu sagen: Die Quellenlage der May-Forschung ist relativ gut. Auch was die Angaben Mays betrifft, sind Wahrheit und Irrtum "recht exakt"24 unterscheidbar. Die weitgehende Annäherung an Mays Biographie, an die Wahrheit seines Lebens und Strebens, ist also möglich.



Anmerkungen


1Vgl. Klaus Mann: Cowboy-Mentor des Führers (1940). In: Helmut Schmiedt (Hrsg.): Karl May. Frankfurt/M. 1983, S. 32-34; Günter Scholdt: Hitler, Karl May und die Emigranten. In: JbKMG 1984, S. 60-91; Gerhard Linkemeyer: Was hat Hitler mit Karl May zu tun? Versuch einer Klarstellung. Materialien zur Karl-May-Forschung, Bd. 11. Ubstadt 1987.
2Grundsätzliches zum Umgang mit Selbstbiographien und zum Quellenwert von Mein Leben und Streben bei Hainer Plaul (Hrsg.): Karl May. Mein Leben und Streben. Hildesheim, New York 21982 (Vorwort und Nachwort). - In 390 Fußnoten bestätigt, ergänzt oder korrigiert der May-Forscher Plaul die biographischen Angaben Mays.
3Am 14.11.1910 schrieb May an seinen Verleger Fehsenfeld: Die Autobiographie solle ihm "die Prozesse gewinnen" helfen; sie habe "nur diesen einen Zweck" (zit. nach: Karl-May-Handbuch. Hrsg. von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987, S. 566). - Zutreffen kann diese Bemerkung Mays freilich nur auf jene - literarisch wertlosen - Passagen, die sich unmittelbar auf die aktuellen Streitigkeiten beziehen.
4Arno Schmidt: Abu Kital. In: Helmut Schmiedt (Hrsg.), wie Anm. 1, S. 50, nennt Mays Selbstbiographie "eine reine oratio pro domo [...] voll verdächtigster, selbsthergestellter Lücken"; die heutige Forschung wertet da allerdings wesentlich positiver.
5Hainer Plaul, wie Anm. 2, S. 532.
6Hans Wollschläger: (Werkartikel zu) Mein Leben und Streben. In: Karl-May-Handbuch, wie Anm. 3, S. 568f.
7Dazu Martin Lowsky: Spuren Johann Peter Hebels in Karl Mays Autobiographie. In: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft (künftig: MKMG) 56 (1983), S. 3-6.
8Helmut Schmiedt: Karl Mays 'Mein Leben und Streben' als poetisches Werk. In: JbKMG 1985, S. 85-101.
9Hans Wollschläger, wie Anm. 6, S. 570.
10Seitenangaben in () beziehen sich hier und im folgenden auf Karl May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 2.
11Vgl. Ludwig Gurlitt: Spiegelbilder (1919). In: Karl May's Gesammelte Werke, Bd. 34. "Ich". Bamberg 361976, S. 539ff. (Gutachten von Richard Engel).
12Heinz Stolte: Hiob May. In: JbKMG 1985, S. 63-84.
13Karl May: Und Friede auf Erden! Gesammelte Reiseerzählungen, Bd. XXX. Freiburg 1904, S. 133 (aus Charleys Lehrgedicht).
14Vgl Günter Scholdt: Vom armen alten May. Bemerkungen zu 'Winnetou IV' und der psychischen Verfassung seines Autors. In: JbKMG 1985, S. 102-151.


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15Grundsätzliches zur hier nur angedeuteten Problematik bei Karl Rahner: Selbstverwirklichung und Annahme des Kreuzes. In: Ders.: Schriften zur Theologie VIII. Einsiedeln, Zürich, Köln 1967, S. 322-326.
16Vgl. Ernst Seybold: Plädoyer für Karl Mays Christlichkeit. In: MKMG 68 und 69 (1986), S. 11-17 bzw. 30-38 (Fortsetzung).
17Karl May: Und Friede auf Erden, wie Anm. 13, S. 130.
18Otto Forst-Battaglia: Karl May. Traum eines Lebens - Leben eines Träumers. Beiträge zur Karl-May-Forschung 1. Bamberg 1966, S. 79.
19Karl May am 8.5.1910 an Fehsenfeld (zit. nach: Karl-May-Handbuch, wie Anm. 3, S. 566).
20Heinz Stolte: Der Volksschriftsteller Karl May. Bamberg 1979, S. 50.
21Hans Wollschläger, wie Anm. 6, S. 569.
22Friedrich S. Krauss: Karl Mays Selbstbiographie. In: Ders.: Anthropophyteia. VIII. Leipzig 1911, S. 50 1; zit. nach Wollschläger, wie Anm. 6, S. 569f.
23Vgl. Bernhard Kosciuszko - Christoph F. Lorenz: Die alten Jahrbücher. Dokumente früher Karl-May-Forschung. Eine Bestandsaufnahme. Materialien zur Karl-May-Forschung, Bd. 8. Ubstadt 1984.
24Claus Roxin: Mays Leben. In: Karl-May-Handbuch, wie Anm. 3, S. 62-123 (S. 62).




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Sekundärliteratur


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