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Meine Gnade genügt, denn die Kraft wird in der der Schwachheit vollendet. (2. Korintherbrief, Kap. 12, Vers 9) |
1 | "Das Karl-May-Problem ist das Menschheitsproblem" |
Als Jugendschriftsteller und Trivialliterat wurde Karl May meist verstanden. Nicht VÖLLIG zu Unrecht. Ein Abenteuerromantiker ist er vordergründig gewesen. Aber der 'eigentliche' May, der Mensch wie der Dichter, ist anders zu sehen.
Von außen betrachtet war dieses Leben ein Trauerspiel, eine Flucht, ein Traum, eine Täuschung. Tiefer gesehen war es ein Weg zur Erkenntnis, zur wirklichen Kunst. Und es war, darüber hinaus, ein religiöses Ereignis: ein Kampf mit dem Engel, ein Schrei nach Erlösung, ein Hungern nach Liebe, ein Dürsten nach Gott.
Trotz heiterer, ja schelmisch komischer Züge in seinem Wesen war Karl May eine geschundene Kreatur. Er war ein Gefangener seiner Angst. Er war es als Kind und auch noch als Greis. Er war es immer und stets, auch auf dem Höhepunkt seines Erfolges. Er suchte die Freiheit; er wollte dem Sklavenhause entfliehen, dem Land der Verheißung entgegen.
Ich will Gleichnisse und Märchen erzählen, in denen tief verborgen die Wahrheit liegt, die man auf andere Weise noch nicht zu erschauen vermag. Ich will Licht schöpfen aus dem Dunkel meines Gefängnislebens. Ich will die Strafe, die mich getroffen hat, in Freiheit für andere verwandeln. Ich will die Strenge des Gesetzes, unter der ich leide, in ein großes Mitleid mit all denen, die gefallen sind, verkehren, in eine Liebe und Barmherzigkeit,1
Mays Streben war ein Griff nach den Sternen. Die verlorene Seele wollte er finden, die Seele des Menschen. Er befaßte sich "nur mit ihr", hatte sich die "Aufgabe gestellt, der Monograph der 'Menschheitsseele' zu werden"!2
Ein pathologisches Ich? Ein krankhafter Anspruch? Karl May hatte etwas Schlichtes, Naives an sich. Und war doch ein Rätsel, voller Zwiespalt und Widerspruch. Was immer da gesagt wird, im nächsten Satz muß es korrigiert und differenziert werden.
Seltsam war dieses Leben, überspannt und (in mancher Hinsicht) singulär, eine Ausnahme. Und doch hat es Modellcharakter. "Das Karl-May-Problem ist das Menschheitsproblem", erklärt die Selbstbiographie.3 So absurd es auch klingen mag, dem Dichter ist zuzustimmen. Denn sein Leben ist ein Symbol, sein Werk eine Metapher: für höchstes Streben und tiefste Erniedrigung, für die Gefährdung, die Hinfälligkeit, die unendliche Sehnsucht und die Größe des menschlichen Seins.
In einem seiner letzten Romane schrieb May: "Die sich Sehnenden werden emporgehoben. Es liegt eine unermeßliche Macht in diesem Sehnen."4 WELCHE Sehnsucht bewegt diesen Autor? Sein Leben ist vieldeutig und sein Streben ist ambivalent. Er kam von 'unten' und wollte nach 'oben'. Ein typischer Kleinbürger? Ein süchtiger Aufsteiger? Was suchte er WIRKLICH? Vielleicht nur den eigenen Glanz, die eigene Macht, die eigene Renommage: vor der Menschheit und auch noch vor - Gott? Das ist das Karl-May-Problem und das ist das Menschheitsproblem. Denn mehrdeutig ist alles, selbst das Erhabene und selbst das Leben der Heiligen.
Karl May, der Mensch und der Schriftsteller, wird in diesem Buch gewürdigt. Was steht zur Verhandlung? Die Aufwertung, die Rehabilitierung eines verkannten Genies? Es geht noch um anderes, es geht noch um wesentlich mehr: Das 'Phänomen Karl May' kann als Exempel, als Paradigma des menschlichen Seins und der christlichen Existenz verstanden werden. Es geht hier, im 'Falle' Mays, um die Rechtfertigung5 des Menschen über-
haupt: des Menschen, der sündigt, der umkehrt von seinem Weg - nicht nur einmal, sondern oft, immer wieder - und der sich öffnet für Gottes Anspruch.
Das Thema ist Karl May, zugleich aber die Gnade Gottes, die größer ist als die 'Werke' des Menschen, die Gnade Gottes, die - nach Dietrich Bonhoeffer - keine "billige Gnade" (ohne Reue und ohne Sühne) ist, sondern "teure Gnade", die in die "Nachfolge" ruft.6
May hat diesen Ruf gehört, und er ist ihm - zögernd - gefolgt: Die Nachfolge, die 'imitatio Christi' wurde zum romantisch verkleideten, zum (mehr oder weniger) verfremdeten Inhalt seiner - zunehmend theologischer werdenden - Reiseerzählungen.
Karl May ist ein Inbild des Menschen und seiner Suche nach immer besseren Daseinsentwürfen. Er verkörpert den 'Adam', den Armen, der 'aus der Tiefe schreit' und zur Höhe strebt; er verkörpert den Menschen, der erlöst werden soll vom 'Gesetz' der Sünde: durch 'Christi Blut und Gerechtigkeit'.7
Was jetzt geschah, war für den sensiblen jungen Bernhart entsetzlich:
ganze Demaskierung Karl Mays in einem Tumult von Prozessen, kriminalen Enthüllungen und literarischen Femegerichten verfolgte, paßte mein Jugenderlebnis nicht übel ins ganze Bild des Abenteurers.
Um so bemerkenswerter die Äußerung Bernharts. Karl May wird in seiner Deutung zum Modellfall des Menschen, zum Bild der Gebrechlichkeit und der Fraglichkeit seines Daseins, aber auch seiner Fähigkeit, über sich selber hinauszuwachsen und seine Grenzen zu 'überfliegen':6 durch die "Bildekraft der geistigen Seele" (Bernhart).
Mays Phantasie gelang es, selbst schöpferisch zu werden, 'Reales' zu gestalten und Edles tatsächlich hervorzubringen. Den Menschen May und den Schriftsteller May sah Joseph Bernhart allerdings - um der Pointe willen - im schärfsten Kontrast:
Bernharts Essay streift nur EINEN, wenn auch wichtigen Aspekt des so vielschichtigen Phänomens May. Seine Zusammenfassung ist aber doch interessant:
Dung und häßliche Erde, das ist der Ausgangspunkt Karl Mays. In einem sehr leidvollen Weg nähert er sich - an den Seher in Dantes 'Commedia' und an den Wanderer in John Bunyans 'The pilgrim's progress' (1678)8 könnte man denken - der gereinigten Welt des Geistes und der gott-menschlichen Seele. Es ist, mit seinen Worten, der Weg von 'Ardistan' nach 'Dschinnistan', vom Haß zur Liebe, von der Lüge zur Wahrheit, von der Schein-Religion zum echten Christentum, vom modrigen Sumpf seiner Kindheit hinauf zum 'Mount Winnetou', zum 'Berg' der göttlichen Gegenwart. Es ist - zugleich - der Weg vom bewaffneten Krieger zum gewaltlosen 'Edelmenschen', zum 'Nachfolger' Christi, dessen Bild Karl May in der Bibel gefunden und in seinen eigenen Phantasiegestalten verkörpert hat.
May sah sich selbst, im Alter besonders, als Prediger des Evangeliums im Gewand eines Märchenerzählers. Seine Abenteuergeschichten sind SKIZZEN für eine spätere Dichtung, die sich im Jenseits-Band (1898/99), im Friede-Roman (1901/04), im Silberlöwen III/IV (1902/03), im Drama Babel und Bibel (1906), in Ardistan und Dschinnistan (1907/09) und in Winnetou IV (1909/10) schon deutlich herausschält, die Karl May aber nicht mehr vollenden konnte.
Das Land der Verheißung durfte er - wie Mose - wohl schauen; betreten hat er es nicht. Es sei denn im Tode!
Mays Popularität blieb ungebrochen. Aber die Literaturwissenschaft hat seine Dichtung lange Zeit ignoriert; die Bücher des 'meistgelesenen deutschen Schriftstellers' wurden als
billige Marktware betrachtet. Der Blick auf den wirklichen May, den Rang seiner Person und den Wert seines Werkes, wurde verstellt durch - im großen und ganzen - verfehlte Kritik.
Geschadet hat - vielleicht - die Einfalt der 'ewig jungen Freunde' des Autors, ihre gut gemeinte, aber naive Apologetik, "die es nicht verstand, die Anschuldigungen aus der in den letzten Lebensjahren gegen May inszenierten Pressehetze überzeugend und nachhaltig zu entkräften. "2
Eine tiefere Ursache für die Demontage seines Ansehens lag sicher in Karl May selber, in seinem gespaltenen Wesen. Zwei Welten lagen im Streit: eine niedrige, unwahre, und eine hohe, wahrhaftige. Der schlechteste Dienst an Karl May wäre das Vertuschen des 'anderen' May. Kehrseiten hatte er viele! Er wirkte belehrend, aber als Gelehrter war er ein - freilich genialer und vielseitiger - Dilettant. Seine Phantasie war reich, überreich, sie 'ging mit ihm durch', war seine Stärke und sein Verhängnis zugleich. Im Wert sehr Verschiedenes, Edles und Eitles, Hehres und Triviales, hat er geschrieben. Auch Visionäres, Prophetisches. Er war befähigt, war "einer der besten" Erzähler3 und "eine der interessantesten Persönlichkeiten der deutschen Literatur".4 Aber er hatte auch Schwächen, die ihm - teilweise - später bewußt wurden: Er war süchtig nach Anerkennung und Liebe, er neigte zur Selbstüberhebung und hatte zur Realität ein getrübtes Verhältnis.
Ein Münchhausen, ein Spaßvogel, ein Flunkerer im gewöhnlichen Sinn war er nicht. Aber der Kontrast von Wirklichkeit und Vision, von Leben und Wunschtraum, könnte größer nicht sein: Das zierliche Männchen trat, in den neunziger Jahren, auf als Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi, souveräner als ein Präsident oder König!
Wer ist Old Shatterhand/Kara Ben Nemsi in den Romanen? Ein Befreier schlechthin, ein Beglücker der Guten, ein Überwinder des Bösen, ein Bild der Vollkommenheit!5 Aber während sein Pseudo-Ich, der literarische Held, in fernen Ländern die edelsten Taten vollbringt, die schlimmsten Verbrecher besiegt und den Hassern die Liebe verkündet -Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre -, sitzt Karl May im Gefängnis: wegen Schwindels und Hochstapelei.
Zwanzig Jahre später, da seine Vergangenheit (fast) niemand mehr kennt, da der Sträfling als Schriftsteller zu "wüstem Erfolg"6 und zu Weltruhm gelangt, treibt er den Trug auf die Spitze und verliert jedes Maß.
Seine Bücher will er nicht nur erdacht und erträumt, sondern im wörtlichen Sinne erlebt haben. In Amerika, im Orient, in China, überall will er gewesen sein. Den akademischen Titel - 'Dr. Karl May' - und noch höhere wissenschaftliche Ehren will er erlangt haben, alle Sprachen will er beherrschen und alle Siege will er erkämpft haben. Er läßt sich fotografieren mit 'Bärentöter' und 'Silberbüchse', mit Lasso und Trappergewand. Er läßt sich empfangen von Fürsten und von der 'Großen Gesellschaft'. Er läßt sich huldigen von den Massen und feiern von den Deutschnationalen (die er später als Pazifist so verprellt hat): als größter Dichter, als tapferster Held, als Universalgelehrter, als Missionar des christlichen Abendlands.
Er stellt sich hin und behauptet: "Ich bin wirklich Old Shatterhand resp. Kara Ben Nemsi und habe erlebt, was ich erzähle."7 Wie unsinnig! Und dennoch - wie richtig!
Mays Verehrer hatten ihm alles geglaubt, wörtlich und buchstäblich. Aber verstanden hat man ihn nicht. Als Traumbilder des Unbewußten, als Märchen und Gleichnisse, als 'Reisen ins Innere' (Stolte), als 'Seelenprotokolle' des Autors (Roxin), als 'mystagogische' Predigten,8 als Bildungsromane (die die Welt und ihre Geheimnisse zu entschlüsseln versuchen)9 wurden seine Geschichten überhaupt nicht erkannt.
Er selbst, 'Dr. Karl May, genannt Old Shatterhand', hat die Spuren verwischt, hat seine Vergangenheit zugedeckt und die Fehldeutungen seines Werks mit verursacht. Die Mißverständnisse, die er - entrüstet - beklagte, hat er selbst provoziert. Seine Gegner dachten, ihn zu durchschauen. Doch sie verkannten ihn genauso wie die Bewunderer. Sie führten die 'Wende' herbei, machten ihn kaputt als 'Hanswursten', als "traurige Karikatur".10
Er hatte sich selber blamiert, in wahnhafter, in kranker Manier. Er fiel herunter vom Thron, wurde gestürzt von den Höhen des Ruhmes und 'hinausgepeitscht aus dem Tempel der Kunst'.11 Als er anfing, ein 'richtiger' Dichter zu werden! Als er, auch in den Ausdrucksmitteln, 'echte' Kunst und literarisch Bedeutendes zu schaffen begann. Als er 'Ardistan', dem Tiefland der Lüge, der eitlen Verblendung, des niederen Trachtens, schon so gut wie entflohen war. Als er 'Dschinnistan', das Hochland der 'Seele', des himmlischen Friedens, schon beinahe erreicht hatte.
Oder muß man den 'Feinden' am Ende noch dankbar sein? Hatten sie das EIGENTLICHE Werk dieses Schriftstellers - ungewollt - vorangetrieben? Hatte ihre Kritik seine Selbstbesinnung gefördert?
Die Gleichsetzung 'Karl May = Old Shatterhand' wurde, um die Jahrhundertwende, als 'Lüge' enttarnt. Die Maske wurde heruntergerissen. May selbst wurde bloßgestellt: als Zuchthäusler, als Schundproduzent oder - bestenfalls - 'Unterhaltungskarnickel' für unreife Schulbuben.
Old Shatterhand/Kara Ben Nemsi sei die "Menschheitsfrage",12 hat er - in einer Flucht nach vorne? - sich dann verteidigt. Das 'Ich' seiner Erzählstoffe sei ja gar nicht er selbst, der "Edelmensch" sei die künftige, erst noch zu erreichende Gestalt seines Ich und des Menschen überhaupt.
Nachgeschoben und ausredenhaft wirkt diese Erklärung, gewiß. Aber - muß sie denn falsch sein? So unscharf, so verlegen und so rätselhaft die Rede von der 'Menschheitsfrage' auch sein mag, an einen großen Traum, eine große Sehnsucht rührt das 'Ich' der Reiseerzählungen allemal. Es hat eine Kraft, die den Autor (vielleicht auch den Leser) über sein jetziges Ich hinausruft und zur HOFFNUNG befreit: auf das, was nicht ist, aber sein kann. Das Wunsch-Ich des Dichters fordert ein Ahnen, ein Sehnen heraus, das sich mit der Welt des Faktischen nicht mehr abspeisen läßt, das die Gegenwart mit ihren Grenzen, ihren Verengungen, ihrem 'Stückwerk' und ihrem Versagen als vorläufig und überwindbar durchschaut.
Karl May hat seine 'Reisen', unter dem Druck der Enthüllungen, neu interpretiert: als 'Symbolik', als Vorbereitung der späteren Allegorien. Diese 'Umdeutung' haben die Zeitgenossen nicht akzeptiert. Sie ist aber, im wesentlichen, doch richtig. May dürfte seine Werke (und sich selbst) im nachhinein besser verstanden haben als zu den Zeiten, da er diese Mythen geträumt hat.
Kara Ben Nemsi ist eine Erfindung, und der Edelmensch ist imaginär. Spricht das gegen den Träumer? Die Fiktion, die Befähigung des Menschen zur 'Einbildung', ist eine frag-würdige Sache. Sie verdient es, befragt zu werden. Könnte der 'Schein', das spielerische 'Als ob', nicht auch hinführen zum wirklichen SEIN? Ist die Phantasie nicht immer auch Übung? Kann sie nicht auch die Einübung, das kreative Vorwegnehmen einer künftigen besseren Wirklichkeit sein? Ist das nicht in der Tat eine 'Menschheitsfrage'? Und eine Kernfrage des religiösen Daseinsverständnisses?
Mays Kritiker sahen es nicht so. Sie ließen ihn, höchstens, als 'Ulknummer' gelten.13 Sie lachten ihn aus, machten ihn herunter wie einen Harlekin oder Affen (S. 229).14 Er fühlte sich an den 'Pranger' gestellt und "ans Kreuz geschlagen" (S. 169). Wie der, an
den er geglaubt und den er gesucht hat. Nur daß dieser frei war von Schuld. Karl May war es nicht. Äußere Verhängnisse, für die er nichts konnte, auch Ungeschick und neurotische Zwänge, natürlich auch Schuld, fremde Bosheit und eigenes Versagen, dies alles kommt da zusammen, schwer zu durchschauen und nicht leicht zu entwirren. Qualvolle Schuld und schuldlose Qual sind da nicht mehr zu trennen. Ecce homo! "Das Karl-May-Problem ist das Menschheitsproblem."
Als christlicher Schriftsteller wurde May, in den letzten Lebensjahren, kaum anerkannt. Als Symboldichter wurde er nur von wenigen ernstgenommen. Beirren ließ er sich aber nicht. Er glaubte an Gott und an die eigene Sendung. In der Selbstbiographie und in den -theologisch bedeutsamen - Altersromanen hat er (halb verdeckt und halb offen) gebeichtet, mit erschütternden Worten und bewegenden Bildern. Nicht ohne Projektion und Verdrängung, nicht ohne sich selbst zu bemitleiden, nicht ohne Verschönern und Weglassen. Aber immerhin: seine "vielen und großen Fehler" (S. 227) hat er, soweit er sie erkannte, bereut und gesühnt.
"Ich wollte Menschheitsfragen beantworten [...] ich habe es versucht und werde es weiter versuchen [...]. Es mag bei der Ausführung dann wohl mancher Fehler unterlaufen sein, denn ich bin ein irrender Mensch" (S. 142). Nicht nur Fehler und Irrtümer, auch Sünden hat er bekannt: an einigen Stellen, im Silberlöwen IV insbesondere,15 psychologisch so treffend und theologisch so radikal, wie nur selten gebeichtet wird.
Die Absolution, die Lösung der 'Fesseln' erhoffte er sich vom "großen Gläubiger", der weiß, ob ich ihm mehr als jene Andern schuldig bin, die sich besser dünken als May." (S.214)
Die Vergebung der Schuld, die erlöste Vergangenheit, das sind sehr wichtige Themen bei May: in den erzgebirgischen Dorfgeschichten, in den Kolportageromanen, in den Indianer- und Beduinengeschichten, im späten Symbolwerk. Mays Geschichten sind im Grunde Erlösungsgeschichten. Sein Schrifttum, sein ganzes Leben und Streben ist eine 'Predigt'. Ihre Botschaft heißt - GOTT, seine Allmacht und Liebe.16 Und ihre Botschaft heißt: MENSCH, seine Bestimmung zum 'Höchsten'.17
"Adam, wo bist du?" (S. 144) Wo steht der Mensch? Was soll er werden, was soll er sein? Nach May: Gottes 'Abbild' (Gen 1, 27)! In der Poesie des 'Ich', in Old Shatterhand/Kara Ben Nemsi (auch in Winnetou und, noch deutlicher, in den Hauptgestalten des Spätwerks) wird dieses Menschenbild transparent. Ein neurotischer Wahn? Überhöht noch ins Theologische? Oder - lauteres Streben, imitatio Christi?
Mays Botschaft heißt WEIHNACHT:18 Gott wird Mensch, und der Mensch kommt zu Gott. Leonardo Boff, der Befreiungstheologe, fragt an: "Haben wir genügend darüber nachgedacht, was es bedeutet, wenn Gott sich zum Menschen macht? [ ...] Wer ist der Mensch, daß Gott einer hat sein wollen? Welche Größe besitzt der Mensch, daß er den Höchsten fasziniert?"19
Elend und Größe, das ist der Mensch. Größe, die dem Elend entspringt: wie der Weizen dem Dung, wie die Rose dem Stumpf.20 Der Mensch wird zur offenen Frage: "Wer wird ihm antworten?"21 Des Menschen Traum ist, im Grunde, ein göttlicher Traum. Der Mensch träumt sich hinein ins Unendliche, ins Leben in Fülle. Was will er? Das Grenzenlose, die Erkenntnis, die Liebe schlechthin. Ist das utopisch? "Ist diese Utopie erfüllbar?"22 Das ist die 'Menschheitsfrage'.
"Sieg, großer Sieg - Rosen - rosenrot!" Nach Klara May waren es die letzten Worte des Dichters.23 Was hat er gesehen? Ein Trugbild? Das Antlitz der Liebe? Das Sterben als
Sieg, die Rose als Zeichen!24 Auch damit hat Karl May "der Nachwelt eine Frage hinterlassen, die beantwortet werden will."25
die heilt und befreit.
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Anmerkungen
1 Karl May: Mein Leben und Streben (1910), S. 137f.; zit. nach dem Reprint der Originalausgabe (hrsg. und mit Anmerkungen versehen von Hainer Plaul). Hildesheim, New York 21982. 2 Karl May: Meine Beichte. In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 34. Bamberg 361976, S. 15-20 (S. 18). - Dieser kurze Text entstand in der Erstfassung am 28.5.1908; die Zweitfassung vom 1.7.1908 ist - als Faksimile der Handschrift - a.a.O., S. 21ff. wiedergegeben. 3 May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 1, S. 12. 4 May: Im Reiche des silbernen Löwen III. Gesammelte Reiseerzählungen, Bd. XXVIII. Freiburg 1902, S. 634. 5 'Rechtfertigung' ist das paulinische Wort für 'Rehabilitierung'. 6 Dietrich Bonhoeffer: Nachfolge. München 91967, S. 13ff. 7 Vgl. Röm 3, 21ff. und Röm 5, 12ff. - Christi Blut und Gerechtigkeit ist der Titel einer Erzählung Mays (1882 erstmals gedruckt).
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Ein Streiflicht: Joseph Bernharts Begegnung mit Karl May
Der katholische Theologe und Schriftsteller Joseph Bernhart (1881-1969) beschrieb in seinen Kindheits- und Jugenderinnerungen1 eine Begegnung mit dem fünfundfünfzigjährigen Karl May in München:
Die Begeisterung für diesen Autor teilte ich mit Millionen seiner Leser, bis er mir sich selbst entthronte. Mein Vater hatte die Jubiläumsausgabe des großen Brockhaus bestellt. Beim Auspacken pochte mir das Herz, daß ich über unseren Abgott nun endlich das Genaueste erfahren sollte. Aber der Name war nicht enthalten und maßlos meine Enttäuschung. Noch im selben oder im folgenden Jahr kündigten die Blätter den Besuch Karl Mays in München an. Der genannte Nachmittag, an dem er im Hotel Trefler2 zu sprechen sei, war schulfrei. Erregt ging ich hin und war verwundert, nicht halb München versammelt zu sehen. Wir waren ein verlegenes Häufchen von einem Dutzend Buben, das auf dem Korridor seine große Stunde erwartete.
Als Karl May "uns ansprach, befremdete mich an Old Shatterhand das leichte Sächseln einer dünnen, für Kommandodonner nicht geeigneten Stimme. Was er sagte, ist mir wohl selben Tages noch entfallen, weil mir der weitere Verlauf des Empfangs den ganzen Heros zu Boden warf."
Es geschah das Peinliche, daß May sich den Oberkörper entblößte, um ein paar Narben als Beweis für die Kämpfe auszugeben, die er laut seiner Bücher siegreich bestanden hatte. Ich konnte nicht hinsehen und fühlte die Schmach des Augenblicks. Kann ein Held vor Buben so um ihren Glauben werben? So war es mit der Banngewalt dieses Zauberers für immer vorbei. Als ich später die
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Daß der 'Weltläufer' ein Schwindler war, eine jämmerliche Figur, die mit den Bücherhelden so gar nicht zusammenstimmte, war jahrzehntelang das gängige Bild Karl Mays. Doch Joseph Bernhart blieb nicht stehen bei diesem Klischee. Er entdeckte - wie Werner Bergengruen - den Schriftsteller neu, "von einem höheren Punkt aus".3 Die Banngewalt des Zauberers hat ihn doch noch, auf andere Weise, erfaßt:
Die Phantasie hat zum Glück oder Unglück des Menschen auch die Rolle, zu dem, was am wirklichen Dasein mangelt oder vermißt wird, die erwünschte Erfüllung hervorzubringen. Was nicht ist, aber nach unserer Einsicht, unseren Wünschen und Begehrungen sein sollte, wird aus den Bildekräften der geistigen Seele entworfen, genährt oder ins tatsächliche Leben hineingestellt. In diesem Drange nach Aufrundung des im Individuum immer beschränkten, nur stückhaft vorhandenen, niemals ungebrochenen Lebens gründet jede Entgegensetzung zu dem, was wir sind und haben.4
Die Phantasie, das menschliche Sehnen und das menschliche Träumen wurden in der Theologie noch zu wenig beachtet. Der wache Verstand, die 'objektive' Wahrheit dominierten. Und die Poesie des Lebens "entlang den großen Menschheitsträumen"5 wurde - nach Eugen Drewermann, dem bekannten Theologen und Psychotherapeuten - vernachlässigt.
Menschen von verbrecherischer Neigung spiegeln sich gerne eine Gegenwelt von Tugenden vor, in der sie niemals heimisch waren, aber auf der Selbstflucht sich zu bergen suchen. Natur als 'Schlag' lebt hart an ihrem erlösenden Gegenschlag, den sie, wenn er nicht Ereignis wird, in Entwürfen der Phantasie vor sich geschehen läßt. Ein Verbrecher, der sich zum idealischen Ordner der Welt umdichtet - dies der Fall May -, leistet eine Rechtfertigung des Guten, die eher an den Großen zu vermissen ist, die sich laut ihrer Bekenntnisse durch die Darstellung des Gemeinen vor seiner Ausübung bewahrt haben. Der verlogene Kleinbürger von Blasewitz und Radebeul schuf sich in seinem 'Winnetou' zugleich einen Anti-May, der Jugend und Volk zu humanitären und sittlichen Gedanken erzogen hat, die nicht auszuüben dem Karl May des gelebten Alltags zum Verhängnis hinter Schloß und Riegel geworden ist.
May hat das Gute verherrlicht; und er hat, was Bernhart wohl übersieht, das Gemeine und Böse oft dargestellt. Aber daß er selbst ein "Verbrecher" war, ist eine kühne Behauptung. Mays Straftaten sollte man nicht verharmlosen, aber - angesichts seiner psychischen Verfassung zur Zeit seiner Delikte7 - auch nicht überbewerten.
Dort das Werk und hier der Mann, dort die Wunschwelt des Dichtenden und hier der Täter in der Hand der Polizei - man muß sehr unreif oder sehr reif sein, um ruhig das eine mit dem andern hinzunehmen. Wäre ich damals so reif wie jung gewesen, so hätten Winnetou und Karl May einander so viel oder so wenig angegangen als der Weizenhalm und der Dung, aus dem er treibt.
Der Mensch Karl May und seine literarischen Werke sind zu unterscheiden. Aber der Mensch und sein Werk bleiben - trotz des Spannungsverhältnisses - aufeinander bezogen; sie sind nicht zu trennen.
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Anmerkungen 1 Joseph Bernhart: Erinnerungen. Köln 1972, S. 39-42; diesem Abschnitt sind die folgenden Zitate entnommen. 2 Zu den Großauftritten Mays in diesem Hotel (Bernhart erzählt davon nichts) vgl. unten, S. 325ff. 3 Werner Bergengruen (1892-1964), einer der wohl bedeutendsten christlichen Schriftsteller, meinte: "Karl May ist naiv zu genießen oder von einem höheren Punkte aus. Seine Gegner sind Leute, welche die Naivität verloren, jenen höheren Punkt aber nicht einzunehmen gewußt haben. In: Dichtung als Wunscherfüllung. Aussprüche über Karl May. Materialien zur Karl-May-Forschung, Bd. 13, Ubstadt 1992, S. 8. 4 Joseph Bernhart, wie Anm. 1. 5 Eugen Drewermann: Tiefenpsychologie und Exegese, Bd. 2. Die Wahrheit der Werke und der Worte. Olten 1985, S. 782. 6 Vgl. Dieter Sudhoff: Der beflügelte Mensch. Traumflug, Aviatik und Höhenflug bei Karl May. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (künftig JbKMG) 1986. Husum 1986, S. 110-154. 7 Dazu unten, S. 87ff. 8 Hinweis bei Arno Schmidt: Abu Kital. Vom neuen Großmystiker. In: Dya Na Sore. Gespräche in einer Bibliothek. Karlsruhe 1958, S. 150-193; hier und im folgenden zit. nach Helmut Schmiedt (Hrsg.): Karl May. Frankfurt/M. 1983 (suhrkamp taschenbuch materialien 2025), S. 45-74 (S. 48).
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Die 'Menschheitsfrage': Visionen und Träume - Trug oder Wahrheit?
In jedem Kaufhaus, in jedem Bahnhofskiosk sind sie zu haben: die grünen Bände mit den farbigen Deckelbildern, 'Karl Mays Gesammelte Werke' Bd. 1-75 (Bamberger Ausgabe).1 In jedem Buchladen sind sie zu sehen: in der Abteilung für Kinderbücher, wo zumindest das Spätwerk nun wirklich nicht hingehört.
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Anmerkungen
1 Diese Bände sind durchweg bearbeitet und weichen von den Originaltexten, mehr oder weniger, ab. 2 Gerhard Klußmeier - Hainer Plaul (Hrsg.): Karl May. Biographie in Dokumenten und Bildern. Hildesheim, New York 1978, S. 5. 3 Ernst Bloch: Traumbasar. In: Karl-May-Jahrbuch 1930, S. 60f. (Erstveröffentlichung am 31.3.1929 in der 'Frankfurter Zeitung'). 4 Klußmeier - Plaul (Hrsg.), wie Anm. 2, S. 5. 5 Vgl. unten, S. 314ff. 6 Hans Wollschläger: Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens. Zürich 1976 (Diogenes Taschenbuch Nr. 20253), S. 7. 7 Karl May in einem Brief vom 15.4.1897; mitgeteilt bei Ansgar Pöllmann: Ein Abenteurer und sein Werk. In: Über den Wassern. Münster 1910, S. 308. - Zum Ganzen vgl. Claus Roxin: "Dr. Karl May, genannt Old Shatterhand". Zum Bild Karl Mays in der Epoche seiner späten Reiseerzählungen. In: JbKMG 1974. Hamburg 1973, S. 15-73. 8 Dazu unten, S. 273ff. 9 Vgl. Gerhard Neumann: Karl Mays 'Winnetou'- ein Bildungsroman? In: JbKMG 1988, S. 10-37. 10 Karl May: Mein Leben und Streben, S. 212. 11 Vgl. May, wie Anm. 10, S. 257, mit Bezug auf ein böses Wort des Benediktiners Ansgar Pöllmann. 12 May, wie Anm. 10, S. 144: "Adam, d.i. Mensch, wo bist Du?" "Edelmensch, wo bist Du?" - Ähnlich in Briefen (an Prinzessin Wiltrud von Bayern z.B.) und Aphorismen; vgl. JbKMG 1983, S. 56ff. 13 Ernst Bloch: Die Silberbüchse Winnetous. Neufassung 1962 (Erstfassung in der 'Frankfurter Zeitung', wie Anm. 3). In: Helmut Schmiedt (Hrsg.): Karl May, S. 28-31. 14 Alle Seitenzahlen in () beziehen sich im folgenden auf Karl May: Mein Leben und Streben. 15 Dazu unten, S. 445ff. 16 Gottes Allmacht und Liebe sind bei May zentrale Motive. 17 Vgl. z.B. Karl May: Und Friede auf Erden! Gesammelte Reiseerzählungen, Bd. XXX. Freiburg 1904, S. 322. 18 'Weihnacht' ist ein Hauptmotiv in Mays Leben und Werk, ein Schlüssel auch zum Verständnis der THEOLOGIE des alten Karl May; vgl. unten, S. 100ff. 19 Leonardo Boff. Mensch geworden. Das Evangelium von Weihnachten. Freiburg, Basel, Wien 1986, S. 27f. 20 Vgl. Jesaia 11, 1; aus dem "Reis" wurde im Weihnachtslied die "Rose" ("Es ist ein Ros' entsprungen..."; Text um 1587/88). 21 Leonardo Boff, wie Anm. 19, S. 33. 22 Ebd. - Von der Theologie der Menschwerdung Gottes her begründet Boff seine Bejahung dieser Frage. 23 Zit. nach Euchar Albrecht Schmid: Karl Mays Tod und Nachlaß. In: Karl May's Gesammelte Werke, Bd. 34. Bamberg 36 1976, S. 319. 24 Vgl. Hartmut Vollmer: Ins Rosenrote. Zur Rosensymbolik bei Karl May. In: JbKMG 1987, S. 20-46. 25 Heinz Stolte: Der Volksschriftsteller Karl May. Beitrag zur literarischen Volkskunde. Bamberg 1976 (Reprint der Erstausgabe von 1936), S. 7.
Inhaltsverzeichnis
Sekundärliteratur
Titelseite KMG