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GUSTAV FRANK


Trivialliteratur als ›Verlorener Sohn‹ des Realismus:
Zu  e i n e m  literarhistorischen Ort von Karl Mays früher Kolportage



Ulrich Schmid in Dankbarkeit zugeeignet



Verfolgt man die chronologische Linie der Impulse, die von der Karl-May-Forschung für die Beschäftigung mit dem Autor und die Wertschätzung seines Werkes ausgingen, so fällt eine deutliche Tendenz auf: Je aktueller die Untersuchungen, desto weiter versuchen sie, der Perlenkette des Œuvres in die Vergangenheit zu folgen. Hatte einer der ersten wichtigen Impulsgeber, Arno Schmidt, die ›Literarizität‹ vor allem des Spätwerks, auch gegenüber der vorangegangenen Produktion, zu erweisen gesucht, so zeichneten schon die Überlegungen Hans Wollschlägers auch die Reiseerzählungen als ›Literatur‹ in einem emphatisch-werthaften Sinne aus. Das Bemühen, mit Hilfe einer über verschiedenen Kriterienmengen errichteten ›Literarizität‹ immer weitere Teile des Werks einer philologischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung zu erschließen, hat in der Gegenwart auch die frühen Texte der 1880er und 1870er Jahre erreicht. Diese Rückführung von Werken in die Diskussion erfolgt über ihre Freistellung von der - entlastend gemeinten - Zuschreibung, Fron für geschäftstüchtige Verleger um des nackten Broterwerbs willen gewesen zu sein. Arno Schmidt hatte, aus dem Blickwinkel seines bekannten Konzepts der professionellen Autorschaft, diese Fron noch euphemistisch als unabdingbare Fingerübung für Späteres, Bedeutenderes verstehen wollen.

   Das Ansetzen der Diskussion und die Instrumentarien des Zugreifens haben sich in dem angedeuteten Krebsgang der Forschung verändert. Zumindest für den jeweiligen, als noch nicht literarisch angesehenen Rest der Produktion war vordem noch unangefochten von Jugendliteratur und Massenunterhaltung, Trivialschema und Musterliteratur die Rede. Und die Aufmerksamkeit galt der Rezeptionsseite, den Lesern, ihrer sozialen Schichtung, ihren Lesegewohnheiten, ihrer kollektiven Mentalität, insbesondere ihrem Versuch, einer mit Mängeln behafteten Lebenswelt zu entfliehen, und ihren Wünschen, durch literarischen Realitätsersatz für ein neues Gleichgewicht in ihrem Gefühlshaushalt zu sorgen.1 Dagegen führte das neue Interesse am Autor und der Produktionsseite dazu, daß zunehmend ästhetische Kriterien angelegt wurden und werden und entsprechende Lektüreverfahren zur Anwendung kommen. Die Editionsphilologie


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nimmt sich Karl Mays an, wie sie es sonst nur den ganz Großen angedeihen läßt,2 und zumindest die klassischen Versuche zur Theorie des Erzählens werden anhand von Mays gesamtem Œuvre illustriert. Wer hätte sich vor noch nicht allzu vielen Jahren Karl May in Stanzels Typenkreis der Erzählsituationen3 sortiert vorzustellen vermocht? Wenn Helmut Schmiedt beobachtet, »daß neuere Konzepte und Reflexionen der Literaturwissenschaft in der Karl-May-Forschung derzeit keine nennenswerte Rolle spielen«,4 dann ist das schon ein Indiz für den fortgeschrittenen Stand der Dinge und Erwartungen.5

   Tritt zu diesen grundlegenden Veränderungen eine neue Orientierung der Quellenforschung hinzu, die ihr Schwergewicht nicht mehr so sehr auf den Einfluß der Quelle, sondern auf die Verfahrensweisen bei ihrer Auffindung, ihrer Ver- und Bearbeitung legt, so kann sogar »die Frage nach der ›Modernität‹ Karl Mays«6 aufscheinen. Die Formulierung dieser weitreichenden Hypothese läßt noch offen, ob damit der Anschluß an die Literatur der (Frühen) Moderne der 1890er Jahre und danach gemeint ist oder ob May sich mit seinen Schreibverfahren auf derselben Höhe des Modernisierungsprozesses von Literatursystem und Schriftsteller-Funktion in ihm befunden habe wie die Zeitgenossen des späten Realismus. Deshalb macht diese Schlußfolgerung aus den so ambitionierten wie erfolgreichen Quellenforschungen deutlich, daß ein zentrales Problem der Erforschung von Mays Œuvre, auch wo sie zu den Quellen vorstößt, die Isolation von den zeitgenössischen Kontexten sein dürfte. Im folgenden soll versucht werden, zumindest einige dieser Kontexte anzudeuten.

   Den im Verlauf der Forschungsgeschichte immer kleiner werdenden Bereich - immer noch viele tausend Druckseiten umfassend -, der nur in geringen Teilen oder wenigen Spuren dem Anspruch genügte, ›Literatur‹ zu sein, nimmt gegenwärtig fast nur mehr die Kolportage der Münchmeyer-Zeit (1883-1887) Mays ein - sieht man von den frühen Erzählungen der 1870er Jahre ab. Nicht zuletzt die Auseinandersetzungen um die Verwertung der Münchmeyer-Rechte durch ihren Käufer, die Distanzierung Mays von diesem Teil seiner Produktion, von deren literarischem und vor allem ›sittlichen‹ Niveau er sich zum Zeitpunkt des Streits längst entfernt zu haben behauptete, stützt für viele Interpreten die Ausgrenzung der Kolportage aus der Diskussion um die ›Literarizität‹ Mayscher Werke. Diese Diskussion scheint mir vor allem deshalb so rege und Karl May ihr bevorzugter Held, weil sie sich um einen Hoffnungsträger in mehrfacher Hinsicht rankt. Im Kern geht es dabei um ein Muster für sozialen Aufstieg, soziale Emanzipation, ja nicht zuletzt um Emanzipation vom Sozialen - und die nicht gering wiegenden Selbstwidersprüche in den Entwürfen solcher Bilder von Autorschaft. Hier soll vor allem die literarische und die literaturgeschichtliche Dimension dieses besonderen Interesses an Karl May berücksichtigt werden. Diese Dimension ist, wie sich zeigen wird, mit der biographischen Dimension verflochten; jedoch auf bedenkenswert andere Weise als beim


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umgekehrten Zugang über die genuin biographische Perspektive auf das Werk.

   War Karl May lange Zeit von den Konstruktionen einer Literaturgeschichte ausgeschlossen, der seine Produktion allenfalls als trivialer Nachtrab wegweisender Entwicklungen galt und nicht als ›Literatur‹, so beläßt es seine neuere Wertschätzung unter veränderten Vorzeichen bei dieser Isolation: Sie erzählt von der Autonomwerdung, der Befreiung von den besonders offensichtlichen sozialen Determinanten eines marktförmig produzierenden Berufsschriftstellers, von einer Autonomwerdung, die gerade auf dem ökonomischen Erfolg beruhte. Ein besseres Talent, so diese Geschichte, mußte sich aus sozialen und biographischen Ursachen ›verkaufen‹, und der Markt honorierte die gelingende Unterwerfung unter seine Mechanismen. So im Markt ökonomisch von dessen Zwängen freigestellt, konnte sich das Talent dann eigenständig entfalten und sogar gegen den Markt produzieren. Der Neueinsatz Mays gegen den eigenen Erfolg wird zurückgeführt auf die Erfahrungen der Orientreise. Sie setzen - folgt man dieser Sichtweise7 - die Verschiebung des Werks ins ›Literarische‹ in Gang. Der Vielschreiber wandelt sich unter dem Druck der Realität zum Autor. Die so gesetzte Bruchstelle kann jedoch aufgrund der zugleich bevorzugten Annahmen zur Literaturproduktion von Autoren nur eine relative sein: Das ›Literarizität‹ verbürgende Talent habe sich mehr oder minder in früheren Proben bereits verraten, und diese Proben gelte es im vorangehenden Werk aufzusuchen. Eine solche Emanzipationsgeschichte bedarf jedoch eines Reiches der Unfreiheit, und da hat die Münchmeyer-Serie ihren festen Platz.

   Der, soweit ich sehe, mit besonders großer Aufmerksamkeit bedachte Roman Mays aus dieser Serie von fünf Texten ist ›Der verlorne Sohn‹.8 Diese Aufmerksamkeit verdankte er mehr wohl den Verbindungslinien zur Biographie (z. B. der Uhrendiebstahl-Episode), ja zum Lebens- und Werkgesetz,9 die sich zwanglos ziehen ließen, als anderen literarischen Qualitäten, die ihm zugeschrieben worden wären. Wer eine andere Geschichte erzählen will, wird an diesem Ort einsetzen und seine Konstruktion bewähren müssen. Diese andere Geschichte, diese anderen Aspekte der Geschichte, die ich vorschlagen will, sollen die Maysche Kolportage sowohl als funktionalen Teil der umgebenden zeitgenössischen Literatur profilieren als auch als wesentlichen Teil der Œuvreentwicklung des Autors kennzeichnen. Ob und wieweit sich Ergebnisse aus der Analyse des ›Verlornen Sohnes‹ bestätigen lassen, wäre dann durch Analysen von ›Das Waldröschen‹, ›Die Liebe des Ulanen‹, ›Deutsche Herzen, deutsche Helden‹ und ›Der Weg zum Glück‹10 und im Vergleich mit gleichzeitig entstehenden Werken, auch anderer Verfasser, zu prüfen.

   Beide Diskussionsstränge, sowohl derjenige, der Mays Werk als Trivialliteratur versteht, als auch derjenige, der wachsende Teile daraus als Voraussetzung und Durchsetzung einer Emanzipation aus den Zwängen marktför-


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miger Massenliteratur deutet, isolieren May aus seiner literarischen Zeitgenossenschaft. Sie bestreiten seine Teilhabe an der Kultur und ihren Wissensbeständen, insbesondere an der Herstellung und Verbreitung dieser Bestände, die nicht zuletzt zur Vermittlung von Werten und zur Einübung von Normen geschehen. Gerade bei einem Schriftsteller, bei dem viel Fleiß auf den Nachweis seines Schöpfens aus zeitgenössischen Quellen und Materialien, vor allem auch aus Lexika, Wörterbüchern und Sachliteratur, verwendet wurde, überrascht diese Ansicht. Diese Isolation kann denn auch nur mit dem Argument aufrechterhalten werden, May betreibe ›Montage‹ im Sinne der späteren Modernen, bevor dieser Begriff und das Verfahren überhaupt geläufig waren. Vielleicht gelingt es im folgenden, May in den Zusammenhang des Sozial- und Symbolsystems Literatur zurückzuholen, ohne seine auffällige Sonderrolle damit zu bestreiten, ihr vielmehr eine bestimmte Funktion zuzuordnen. Mein Beitrag wendet sich nur  e i n e m  literarhistorischen Ort zu, mit dem Mays Œuvreentwicklung verflochten ist: der Geschichte des Realismus; die Nachzeichnung eines zweiten Ortes, seiner Stellung in der Entstehungsphase der Frühen Moderne - von ›modernism‹ spricht man dann im europäischen Einvernehmen etwa für die Zeit zwischen 1890 und 1930 -, bliebe dagegen noch zu leisten.



Referenzebene 1: Die illustrierten Familienzeitschriften


Wollte man Hans-Jörg Neuschäfers instruktiver Analyse von Karl Mays ›Der verlorne Sohn‹ folgen, dann hätte man den May der 1880er Jahre gleichsam als Zeitgenossen, allenfalls als epigonalen Nachahmer der Klassiker des französischen Feuilletonromans der 1840er Jahre zu sehen. May hätte demnach in den 80ern aus Bauelementen der beiden Entwicklungslinien des französischen Feuilletonismus - Eugène Sues ›Les Mystères de Paris‹ und Alexandre Dumas' ›Le Comte de Monte-Cristo‹ - ein »feuilletoneske(s) Gesamtkunstwerk«11 geschaffen, an dem allerdings zwei Dinge auffällig blieben: Nicht der zeitgenössische, sondern der vierzig Jahre alte Fortsetzungsroman lieferte das Vorbild für einen Text, der zudem »die Länge der französischen Originale noch um ein Vielfaches übertrifft«.12 Die Gründe für das Zustandekommen dieser Auffälligkeiten sind im Laufe der Untersuchung neu zu überdenken, doch gilt es zunächst die wichtigen Ergebnisse von Neuschäfers deutsch-französischem Vergleich festzuhalten.

   Mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der Neuschäfer die Isolation seiner Textgruppe ›Feuilletonroman‹ im Literatursystem aufhebt, sollte dies auch für Karl Mays Texte möglich sein. Bei den Romanen aus dem Feuilleton handelt es sich zum einen um ein Korpus von vielen tausend Texten, das eine eigene differenzierte Geschichte ausbildet. Zum anderen handelt es sich um eine nicht nur quantitativ bedeutsame Textgruppe, sondern


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auch um eine qualitativ nicht zu isolierende: Die spezifischen Stilelemente der Feuilletonromane durchdringen die gesamte Literaturproduktion des Zeitraums und sind zudem nicht nur einer bestimmten Autorengruppe zuzurechnen; denn auch renommierte Autoren produzierten Feuilletonromane oder zumindest Romane in ihrem Stil. Neuschäfer belegt dies mit den Namen Balzac, Hugo, George Sand und Zola. Neben den Schlußfolgerungen, die Neuschäfer daraus für die Mentalität der Leserschichten zieht, ergibt sich aus seinen Untersuchungen auch die Frage, welche Bedeutung dieser Textgruppe für die Literatur als Symbolsystem zukommt. Und akzeptiert man diese Fragestellung für die französischen Romane, sollte dasselbe auch für ihr deutsches Gegenüber erwogen werden.

   Fraglich ist allerdings, ob es sich bei Mays ›Verlornem Sohn‹ in der Tat unmittelbar um einen epigonalen Anachronismus in Anlehnung an Sue, Dumas oder auch Gabriel Ferry handelte. Freilich ist die deutsche Rezeption fremdsprachiger Erfolgsliteratur vor und seit den 1840er Jahren rege; die Aufmerksamkeit der Literaturkritik, die oft mehrfachen Übersetzungen, die Leihbibliotheken taten ihre Wirkung.

   Als May sich im Reich der Literatur einzurichten begann - man kann an die 50er und 60er Jahre denken -, waren einerseits die Sue und Dumas ebenso wie die von ihnen inspirierten Erzählverfahren noch hinlänglich präsent, daß sie in die literarische Grundausstattung des Erzählers Karl May Aufnahme finden konnten. Andererseits hatte sich auch in Deutschland im Laufe der 50er Jahre ein in sich zusammenhängendes und geschlossenes Literatursystem herausgebildet.

   Darin spielte zum einen die illustrierte Familienzeitschrift vom Typ der ›Gartenlaube‹ eine neue dominante Rolle, mithin die visuelle Komponente eines neuen Erfolgsmediums.13 Zum anderen hatte sich gerade das Symbolsystem des ›literarischen Realismus‹ konsolidiert, nach dessen Maßgabe die Literaturproduktion der 60er und 70er Jahre weitgehend erfolgte. Entsprechend der französischen Entwicklung war auch für den deutschen Realismus der Zeitschriftenabdruck zur Erstveröffentlichung der Werke durch alle damaligen Rangklassen der Autoren verbreitete Praxis. Und über diese wirtschaftliche Gemeinsamkeit fast aller Autoren bei der Verbreitungsform hinaus galt auch umgekehrt, daß es eine gemeinsame Teilhabe an der Basisausstattung der realistischen Prosa gab; Grundfertigkeiten des Erzählens, ein Reservoir narrativer Versatzstücke, aber vor allem auch gemeinsame Werte und Normen, die die Texte von der Anlage ihrer Figurencharaktere über die Zusammenstellung von Figurenensembles bis hin zur Handlungsführung steuerten. Friedrich Wilhelm Hackländer und Friedrich Gerstäcker spielten für die Einführung und Durchsetzung von Standards dieses Erzählens durch ihre enorme Verbreitung, die sie nicht zuletzt durch die große Anzahl ihrer Texte erreichten, eine mindestens so bedeutende Rolle wie die Realisten, die in den Kanon der Literaturwissenschaft aufgenommen wurden, also etwa Gottfried Keller und Theodor Storm.


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   Faßt man ›Realismus‹ als die massenhaft und insbesondere in den illustrierten Familienzeitschriften verbreitete Literatur einer Vielzahl von Schriftstellern, dann vollzog sich Mays literarische Initiation in genau dieses Sozial- und Symbolsystem ›Realismus‹. Bislang wird die Prägung des Autors May durch diesen Faktor gegenüber dem Einfluß ausschließlich für die Leihbibliotheken geschriebener Trivialromane der Zeit vor 1850 sowie verschiedenem populären Bildungsgut zu gering veranschlagt.

   Zu den Merkmalen des ›Realismus‹ gehörten sicher auch, aber nicht vorwiegend, spezifisch geregelte Beziehungen zu den fremdsprachigen Literaturen. Bezugsgröße für May waren die Entwicklung und der Stand des ›Realismus‹ seiner Zeitgenossen. Die Quellenforschung bestätigt das: »Karl May hat am Anfang seiner schriftstellerischen Laufbahn offenbar  s y s t e m a t i s c h  vor allem die (illustrierten) Familienzeitschriften seiner Zeit durchforstet, einerseits um zu sehen, welche Genres beim Publikum besonders gefragt waren, andererseits auf der Suche nach konkreten Motiven, von denen er sich inspirieren lassen konnte.«14 Gerade auch Mays Kolportage-Roman ›Der Verlorne Sohn‹ steht mit bis in die Titelei reichenden Elementen - ›Roman aus der Criminal-Geschichte. Mit bunten Bilderbeilagen‹ - genau in diesem visuell-medialen Verwertungszusammenhang von literarischen Texten. Jede der 101 Lieferungen enthält eine großformatige, handlungsbezogene, jedoch - etwa vom dargestellten Milieu her - häufig nicht textadäquate Abbildung; das visuelle Zeichensystem behauptet hier einen selbständigen Platz.

   Im Rahmen seiner Ausführungen zu Karl Mays Weisen der Arbeitsvorbereitung liefert Andreas Graf auch statistische Hinweise auf die »beispiellose Medienpräsenz eines realistischen (Reise-)Erzählers« wie Friedrich Gerstäcker, der dadurch »zweifellos einen bedeutenden Einfluß auf die allgemeine Durchsetzung realistischer Erzählformen gehabt hat«.15 Während die Quellenforschung diese Vielfalt und Vielverbundenheit aufzulösen trachtet, um exakt die Wege der Intertextualität, etwa zwischen Texten Gerstäckers, Hackländers, Möllhausens und Mays, freizulegen, schlage ich eine ergänzende, doch umgekehrte Interpretationsrichtung vor. Jeder Nachweis eines einzelnen, von May wahrgenommenen Textes belegt, welche Zeitschriften-Nummern, wo nicht -Jahrgänge, May zur Kenntnis genommen hat. Neben Spuren der direkten Kenntnis und Verarbeitung von Einzeltexten in Mays Textproduktion decken die Quellenforschungen somit Spuren der Systemreferenz16 auf, einer Kenntnis des epochalen Gesamtzusammenhangs eines spezifischen Texttyps über seine aktuelle Verwirklichung in dem konkreten einzelnen Text hinaus. Diese Spuren weisen wiederum hin auf eine umfassende literarische Initiation Mays, die Wissen um Teilbereiche des Sozialsystems ›Literatur‹, etwa um die Stellung und Wertigkeit von Autoren und Genres, Verlegern und Zeitschriften ebenso umfaßte wie um große Bereiche des Symbolsystems ›Realismus‹. Als ein Schatzhaus an Mustern, als Referenzgröße auch und gerade der Kolporta-


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geromane Mays sind deshalb nicht einige wenige Klassiker des Feuilletonismus wie Dumas und Sue zu veranschlagen, sondern der von May empfindlich registrierte Stand des gesamten zeitgenössischen Literatursystems. Auf diesen hin entwirft und fantasiert er wohl auch seine Rolle. Und diesen repräsentieren nicht zuletzt die illustrierten Familienzeitschriften, wo nicht nur Texte abgedruckt,17 sondern auch alles Wissenswerte über diese und andere Texte, ihre Autoren und deren Stellenwert am Literaturmarkt zu entnehmen war. Letzteres ist ein nicht zu unterschätzendes Surplus aus der Kenntnis der gesamten Zeitschrift gegenüber der Kenntnis ›nur‹ der Texte selbst; denn die in der Zeitschrift erreichte Informationsdichte übertrifft selbst die einer so umfassenden Lektüre ausschließlich literarischer Texte, wie man sie May zutrauen darf.

   Der große Anteil rezipierender Momente in Mays Arbeit könnte zu dem Schluß verleiten, ihn zwar als agil und begabt Vorgefundenes variierenden und seinen Bedürfnissen anpassenden, aber dennoch epigonalen Nachahmer und Verwerter zu verstehen. Mays Arbeitsweise bewegt sich jedoch im Rahmen der allgemeinen Professionalisierung der Berufe im Umfeld der Literaturproduktion, wie sie im 19. Jahrhundert zu beobachten ist. ›Autoren‹ im goethezeitlichen Verständnis werden zu Schriftstellern, Redakteuren und Journalisten in Professionalisierungsprozessen, die seit den 1820/30er Jahren anlaufen. Die tatsächlich ablaufenden sozialen Prozesse wiederum werden nicht unmittelbar von den betroffenen Autoren in den von ihnen selbst entworfenen Fremd- und Selbstbildern gespiegelt. Das Selbstverständnis befindet sich vielmehr in oft labilen Verhältnissen der Wechselwirkung mit den tatsächlichen Vorgängen. Gerade das programmatische Abstandhalten von der Rolle eines professionellen Schriftstellers, der am gesamtdeutschen Markt ausgerichtet ist, und das Kultivieren eines Regionalismus begründen etwa Storms Bedeutung.

   Im Zusammenhang dieser Professionalisierung kann man durch die Betrachtung einer hinlänglich großen Menge von Text aus der gesamten Literaturproduktion der Zeit einiges lernen. Es zeigt sich dann etwa, daß die Erzählideen - selbständige Bausteine erzählter Geschichten sowie erzähltechnische Verfahren - nicht notwendig von einer innovativen und hochgewerteten Literatur ausgehen, um schließlich in die mindergewerteten, massenhaft produzierten und verbreiteten Texte abzusinken. Gerade die Realisten der 50er Jahre lebten zu einem Gutteil nicht nur vom erzählerischen Kapital des französischen Feuilletonismus, sondern zu ihren Quellen gehörten auch die qualitativ - musterbildenden - und quantitativ - der Anzahl geschriebener Texte und der Auflagenhöhe nach - erfolgreichen Autoren von Willibald Alexis und Jeremias Gotthelf über Wilhelm Hauff und Karl Immermann bis hin zu Karl Spindler, Ludwig Tieck und Heinrich Zschokke.


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Referenzebene 2: Der ›Realismus‹18


Der ›Realismus‹, wie er um 1850 entstand und sich bis etwa 1860 durchsetzte, war vorderhand eine Reaktion auf die Literaturentwicklung im Vormärz/Biedermeier. Dort war ›Literatur‹ in mehrere heterogene Teilströmungen auseinandergefallen, die sich durch ihre ideologischen und ästhetischen Orientierungen unterschieden. Obwohl in heftige Auseinandersetzungen verwickelt, gelang es keiner dieser Teilströmungen, sich als verbindliche Norm der Literaturproduktion gegen die Mitbewerber durchzusetzen, ja auch nur sich selbst zu stabilisieren. Unablässiges Verändern und Experimente inhaltlicher und formaler Natur kennzeichneten die Szene in der Vormärz-Zeit. Diese Situation wurde schon bald als unbefriedigend empfunden und das Ende einer ›Übergangsperiode‹ der ideologischen und psychischen ›Zerrissenheit‹ allenthalben gefordert und vorhergesagt. Diese Forderungen verstärken sich, als im Gefolge der Revolution von 1848/49 vielen bewußt wurde, wieweit die Ausdifferenzierung des Denkens und Schreibens zugleich eine Bereitschaft zum Bürgerkrieg grundgelegt hatte. So bildete sich das realistische Paradigma, indem die Schreibverfahren und literarischen Themen der Vormärzzeit einer strengen Prüfung und Auswahl unterworfen wurden. Dieser entstehende Realismus griff zwar auf Elemente der Vormärzliteratur zurück und ordnete sie in neuen Kombinationen an, schloß aber gleichzeitig wesentliche Probleme der Zeit aus und polemisierte heftig gegen jegliche Annäherung an die operative und journalistisch gefärbte Literatur des Vormärz. Ausgeschlossen wurde vor allem alles das, was in den 1830er und 40er Jahren zwar als Problem erkannt und benannt worden war, wofür jedoch keine überzeugenden oder über die gegensätzlichen Interessen hinweg allgemein verbindlichen Lösungen gefunden werden konnten. Der Realismus verhängte gleichsam ein Moratorium über diese unerledigten ideologischen und sozialen Streitpunkte und Konfliktfelder; das heißt, die weitere Arbeit - zumindest - an literarisch fingierten Modellvorstellungen zur Lösung dieser Probleme wurde eingestellt, daran weiterhin zu rühren war verpönt und wurde von der Kritik zumeist geahndet. Es ging dabei insbesondere um die Probleme, angemessene Modelle für den sozialen, wirtschaftlichen sowie historischen Wandel bereitzustellen und für die von diesem erschütterte Vorstellung einer Identität der moralischen ›Person‹ einen glaubwürdigen Entwurf auszubilden.

   Insbesondere die ständig erneuerten Versuche, zu einer so überzeugenden wie umfassenden Gesellschaftsdarstellung zu gelangen, hatten die Grenzen der literarischen Schreibverfahren aufgezeigt und wurden jetzt als erste ausgeschlossen, fielen unter das realistische Moratorium; das galt vor allem für die Texte einer ausufernden ›Geheimnisliteratur‹ in der Sue-Nachfolge.

   Der ›Realismus‹ schnitt also die literarische Wahrnehmung einer gesellschaftlichen Problemgeschichte ab. Das Bedürfnis nach Unterscheidung


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führte dazu, daß sich die Programmatiker des Realismus polemisch von der vorangegangenen Literaturepoche abgrenzten: dabei verdeckten sie, daß die Auswahl aus dem Fundus vormärzlicher Formen und Stoffe, Werte und Normen nicht nach vermeintlich vernünftigen Kriterien, sondern als so gewaltsame wie willkürliche Entscheidung erfolgte. Ziel dieser Entscheidung war die Vorherrschaft einer Sicht der Welt, über die sich ein möglichst weitgehendes gesellschaftliches Einvernehmen herstellen ließ. Diese Sicht sollte soziale Integrationskraft entwickeln und die Festigkeit von Ordnungsmustern zeigen, die angesichts der Erfahrung von zerstörerischen sozialen Veränderungen unverzichtbar schienen. Während der einzelne in dieser Zeit mehr und mehr der Einflußnahme auf sein soziales wie privates Schicksal beraubt wurde, sollte das durch die realistische erzählende Literatur entworfene und durch Wiederholung eingeschärfte Bild des ›Mannes‹ zeigen, daß soziale, moralische und psychische Unwandelbarkeit möglich blieben. Dieses Leitbild des ›Mannes‹ bürdete dem einzelnen die Verantwortung für Beständigkeit und Verläßlichkeit auf, während um ihn herum alles von einem Strudel der Veränderung, der Entwertung des Überkommenen ergriffen schien. Als nationales Erziehungsprogramm des ›Mannes‹ fungierte dabei der ›redliche Erwerb von Eigentum‹ durch ›Arbeit‹. Als Kompensation, als Ventil - um in der Bildlichkeit einer auf Dampfmaschinen und Lokomotiven gebannt blickenden Zeit zu bleiben - einer aus innergesellschaftlichen Konflikten bezogenen latenten Aggressivität dieses ›Mannes‹ fungierte der ›Krieg‹ gegen eine Umwelt feindlicher Völker und Nationen.

   Damit wurde die Wirklichkeit der Epoche nur bruchstückhaft und aus der Entfernung erfaßt. Überdies wurden einzelne Ausschnitte der Wirklichkeit auf bestimmte Genres festgelegt und eingeschränkt. Es schien, als könnte der in einem Genre ausgesparte Bereich der Wirklichkeit in einem der anderen aufgefunden werden, doch diese vermeintliche Arbeitsteilung beließ erhebliche Lücken. Diese Aufsplitterung in die Genres historisches und ethnologisches Erzählen, in Dorfgeschichte und Kriminalerzählung trat ganz an die Stelle des Bestrebens der Vormärzzeit, in einzelnen Texten umfassende und oftmals mehrdimensionale Darstellungen der Wirklichkeit zu liefern. (Nicht daß im Vormärz damit realistischer im Sinne einer treffenderen Realitätsabbildung geschrieben worden wäre, viele Standpunkte waren parteilich und an Interessen gebunden gewesen, doch der Realitätseffekt des Schreibens war ein anderer, vielschichtiger.) Programmatisch wie faktisch ausgeschlossen wurden durch diesen Kunstgriff der Verteilung vor allem Aspekte der eigenen sozialen, wirtschaftlichen und (natur)wissenschaftlich-technisch geprägten Gegenwart, die sich nicht ästhetisch ›verklären‹ und innerhalb des bevorzugten, am Leitbild des autonom handelnden ›Mannes‹ orientierten Gesellschaftsmodells darstellen ließen. Favorisiert wurde die Darstellung von Welten vollständiger Kernfamilien mit überschaubaren Sozial- und Wirtschaftsbeziehungen, man denke nur an Gustav Freytags Bestseller ›Soll und Haben‹. Ebenfalls geschätzt


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wurde die Perspektive des gealterten Mannes, der auf ein Leben erfolgreicher Unterwerfung unter ein vorgegebenes Werte- und Normentableau zurückschaut in einer alle unmittelbare Emotionalität und Erlebnisqualität distanzierenden Rückblickserzählung, wie sie früh schon Theodor Storms ›Immensee‹ liefert und wenig später auch Otto Ludwigs ›Zwischen Himmel und Erde‹. ›Jugend‹ als gesellschaftliches Erneuerungsprogramm, wie es die Goethezeit in selbstgesetzten Grenzen entworfen und noch zugelassen hatte, ist in diesem Erzählmuster nur mehr individuelle und zugleich kollektive historische Erinnerung. Eine unvollständige, vaterlose Herkunftsfamilie und der Versuch, jugendliche Autonomie bis zum selbst gewählten beruflichen und erotischen Sich-wieder-Einfügen in die Gesellschaft zu leben, solches führt zu Zeiten einer vom Realismus geprägten Literatur wie in Gottfried Kellers ›Der grüne Heinrich‹ unausweichlich in den Selbstmord.



Referenzebene 3: Der »Roman des Nebeneinander«19


Texte, die durch die Mehrdimensionalität der von ihnen dargestellten Welten gegen dieses Gebot verstießen, verschiedene Wirklichkeitsebenen auf unterschiedliche Genres zu verteilen, konnten dadurch die weißen Flecken des realistischen Weltentwurfs aufdecken und wurden ausgegrenzt, indem ihnen die Anerkennung als gelungene Literatur versagt blieb. Die Kritik, die aus dem Kernbereich des Realismus an solchen Texten geübt wurde, sprach eine unmißverständliche Sprache - der Titel der führenden Programmzeitschrift dieses Realismus, ›Die Grenzboten‹, bildet die Bedeutung von Grenzziehung, Grenzwahrung, ja Grenzkrieg aus heutiger Sicht treffend ab.20 Doch gerade der einschlägige Erfolgsroman nach diesem realistischen Programm, Gustav Freytags ›Soll und Haben‹, war mit Blick auf die Konkurrenz des Texttyps »Roman des Nebeneinanders« entworfen. Trotz der ablehnenden Haltung von dieser Seite spielten die komplex gebauten Romane in der Geschichte des Realismus eine nicht unerhebliche Rolle. Anders auch als die polemischen Absetzungsversuche seiner programmatischen Vertreter suggerierten, war die Entstehung des ›Realismus‹ unmittelbar aus Erfahrungen der vorhergehenden literarischen Formen und aus Schwierigkeiten der Wirklichkeitswahrnehmung wie -darstellung erwachsen. Um 1850 entstanden vor diesem Hintergrund nicht nur neuartige, rückblickend als genuin ›realistisch‹ anzusprechende Texte einer neuen Autorengeneration, sondern auch einige auffällig dickleibige Romane, die man nach Karl Ferdinand Gutzkows zeitgenössischer Prägung als ›Romane des Nebeneinander‹ ansprechen kann. Sie zeichneten sich vor allem dadurch aus, daß sie mit relativ großem erzähltechnischen Aufwand merkmalsreiche fiktionale Welten entwarfen und darin aufwendig strukturierte Geschichten erzählten. Ein umfangreiches, auf den ersten Blick kaum überschaubares Ensemble von Figuren ist darin um eine komplexe Ereignis-


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struktur gruppiert. Diese Texte waren an verschiedenen Stadien eines literarhistorischen Prozesses beteiligt, den ich ›Realismus als work in progress‹ nennen möchte.

   Diese Gruppe von Erzähltexten forderte programmatisch und begleitete konzeptionell die Entwicklung hin zu einer ›realistischen‹ Literatur und favorisierte und modellierte bereits Schreibverfahren des ›Realismus‹. Leistung und Schwierigkeit dieser Romane war es, daß sie den Wandel, den sie fordern und dessen Richtung sie vorformulieren, begründeten, indem sie seine Voraussetzungen zur Sprache brachten und darstellten. Die ersten Texte der Serie entwarfen somit noch das den Zeitgenossen vertraute und - nach dem Scheitern der Revolution von 1848/49 - wenig angenehme Bild einer politisch und ideologisch heterogenen Welt des Vormärz, die in dynamischen Wandlungsvorgängen begriffen ist, die einer Entwertung und Zerstörung vertrauter sozialer Ordnungen gleichkommen. Historische Umbruchssituationen standen dabei im Zentrum; sie haben ihren Ort in der durch Ausdifferenzierung neuer sozialer Formen und durch Auflösung eingeübter sozialer Unterscheidungen gleichermaßen geprägten Welt der ›großen Stadt‹.

   Diese Texte bildeten zudem eine literarhistorische Entwicklung ab, indem sie das Scheitern am repräsentativen Zeit- und Gesellschaftsromanprojekt zum Ausgangspunkt nahmen. Als darstellbar lassen sie ihre fingierten Welten nur erscheinen, wenn die Darstellung aus der Perspektive einer gewählten neuen Ordnung erfolgt, wenn sie ›extern‹ vorgenommen wird. Und das heißt in den Texten immer auch, daß Darstellbarkeit nur historisierend, rückblickend zu erzielen ist. Diese Texte räumten damit immer auch ein Scheitern ein und trugen, wie mittelbar auch immer, die Erinnerung an ihre problematischen, kaum Vergangenheit zu nennenden Voraussetzungen mit sich.

   In Karl Gutzkows umfangreichem Roman ›Die Ritter vom Geiste‹21 wird erstmals eine solche problematische Welt mit Hilfe der neuen, speziell zu diesem Zweck entwickelten ›Technik des Nebeneinander‹ entworfen; doch ist der Text getragen von einem Ordnungsoptimismus, der sich in der vollständigen Verwandlung dieser vormärzlich-biedermeierlichen Zustände in eine einfach gegliederte, patriarchalisch geordnete Gesellschaft außerhalb der ›großen Stadt‹ verwirklicht. Alle Figuren, die nicht soziale wie ideologische Gleichförmigkeit zu verkörpern vermögen und statt dessen moralische wie ideologische Abweichung leben, sind am Ende entmachtet oder eliminiert; ihnen droht das Exil, und der Tod hält reiche Ernte. Im Mittelpunkt stehen dann wenige ›ideale Paare‹ unter der ideologischen Leitfigur des gealterten und ›geläuterten‹ Mannes. ›Läuterungen‹, wie ein Entwurfsstadium des Romans von 1849 noch hieß, wurden schließlich zu einem Leitbegriff auch der realistischen Programmatik.

   Weit weniger vom Ordnungsoptimismus getragen erweist sich Alexis' unvollendete Romantrilogie aus ›Ruhe ist die erste Bürgerpflicht‹22 und


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›Isegrimm‹.23 Hatte Gutzkow einen Wandlungsprozeß  i n  a c t u  vorgeführt, so legte Alexis die beiden Entwicklungsstadien seiner dargestellten Welt in zwei Texte auseinander. Der tatsächlichen Gesellschaftsentwicklung um 1850 stellte er sie zudem als denkbare, abschreckende Möglichkeit warnend entgegen: Einer zerfallenden Ordnung der Berliner Gesellschaft der Jahre 1804/06 im ersten Roman kontrastierte er im zweiten Roman als Organisationszentrum der so metaphorisch wie real gemeinten Befreiungskriege seinen gealterten, den Zerfall der historischen Werte und der Normen seiner Familie mit stoischer Unveränderlichkeit beantwortenden Titelhelden Isegrimm.

   Im selben Jahr wie ›Isegrimm‹ erschien Hackländers Roman ›Europäisches Sclavenleben‹.24 Hier war die Darstellung einer vormärzlichen Welt bereits auf wenige erkennbare Spuren reduziert. Der Text arbeitete jedoch an der Besetzung vormärzlichen semantischen Terrains. Den im sozialen Roman und in der sozialen Reportage geläufigen Begriff der ›weißen Sclaverei‹ für die sozioökonomische Klassenlage des Industrieproletariats konterte Hackländers Text, indem er ihn in die Bedeutungslosigkeit überführte: ausgedehnt auf alle mißlichen gesellschaftlichen Lagen, ja prekären alltäglichen Situationen, unterschied der Begriff bei ihm nichts mehr. ›Sclaverei‹ konnte dann als allgemeinmenschliche Kondition erscheinen.25 Und Hackländers Roman ging es auch bereits um Kompensationen für eine so durchgehend nach dem ›realistischen‹ Gebot der Unterwerfung des Subjekts unter die herrschenden Werte und Normen geformte Welt. Diese Unterwerfung bedeutete vor allem den Verlust der lebensgeschichtlichen Spanne der ›Jugend‹, wie sie die Goethezeit noch als Zeit der erlaubten sozialen und erotischen Grenzüberschreitungen in ihren Bildungsromanen dargestellt hatte. In sonst kaum anzutreffender Deutlichkeit gibt Hackländers Roman die - vor allem unterbürgerlichen - Frauen als Kompensation für diesen Verlust den Übergriffen sozial höher gestellter junger Männer preis. Doppelmoral erscheint hier somit nicht als späte Verfallserscheinung der bürgerlichen Gesellschaft, sondern als notwendig zu ihrer Begründung und Festigung, geschuldet dem Rollenfach ›Mann‹, das der Realismus erfindet, propagiert und auch durchsetzt.

   Spätere Texte der Serie, die im Umfeld einer bereits konsolidierten realistischen Literatur entstanden, nutzten die reichhaltigen Möglichkeiten, die von diesen Romanen vorgeführt wurden und darüber hinaus in ihnen angelegt scheinen konnten. Sie verwandelten mittels ihrer Darstellungstechnik weitere problematische Realitätsbereiche, um sie in das ›realistische‹ Weltmodell konsensfähiger Realität einzufügen. Gutzkows ›Der Zauberer von Rom‹26 etwa stellte den ultramontanen Katholizismus dar, um zur Integration der Katholiken in die ›Nation‹ beizutragen, keineswegs, um sie, wie Bismarck später im ›Kulturkampf‹ der 1870er und 80er Jahre, aus dem Staat auszugrenzen.


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   Der reiche Text beutete zudem das vor allem vom Historismus neu erschlossene Wissen (von der frühchristlichen Archäologie bis zur Geschichte Roms und der Päpste in der Frühen Neuzeit, wie sie etwa Leopold von Ranke in seinen ›Römischen Päpsten‹ gegeben hatte) aus, um es zur Absicherung seiner realistischen Konzepte der ›Person‹, der Gesellschaft und Geschichte zu benutzen.

   Heinrich Albert Oppermanns bislang wenig beachteter Roman ›Hundert Jahre‹27 versuchte sich mit derselben Absicht an der Eingliederung der nicht wenigen problematischen Abschnitte zwischen 1770 und 1870 in den Entwurf eines durchgängigen linearen Geschichtsmodells. Sein Anliegen führte diesen Text zur Entwicklung von Modellvorstellungen, die danach in der Evolutions- und Vererbungsbiologie erste Entsprechungen fanden. Damit hatte der Roman den Konsensbereich der realistischen Basismodelle bereits soweit verlassen, daß er zeitgenössisch nicht mehr diskutabel war und beim Publikum scheiterte.



Referenzebene 4: Das Literatursystem der 1880er Jahre


Diese komplexen und experimentellen Schreibweisen, die als literarische Versuchsanordnungen zur Lösung von Problemen des ›Realismus‹ mit der Wahrnehmung und Darstellung erdacht worden waren, wurden nach 1870 nicht mehr bemüht. Das Ausscheiden dieses Genres darf auch als Zeichen der Stagnation des ›Realismus‹ interpretiert werden, sowohl bei der Lösung seiner internen inhaltlichen wie formalen Schwierigkeiten als auch in seinem Wahrnehmungsvermögen sozialer Realität, die er in seinen Texten zu fingieren beansprucht. Diese These findet ihre Bestätigung, wenn in den späten 1870er Jahren dann auch im Kernbereich realistischen Erzählens vermehrt Texte auftreten, die auf eine Krise des realistischen Literaturprogramms der 50er Jahre hindeuten. Bis dahin gab es in diesem stabilen und geschlossenen literarischen Kosmos fast nur Verschiebungen im quantitativen Bereich, etwa ein Überhandnehmen von negativen Verläufen der erzählten individuellen wie kollektiven Geschichten - diese allerdings Indiz für einen versiegenden Gestaltungsoptimismus. Nun traten auch die psychischen Kosten des realistischen Modells des stoisch ertragenden ›Mannes‹ immer deutlicher zutage. Und die drängenden Fragen der Gegenwart - die Probleme mit der transnationalen Orientierung gesellschaftlicher Gruppen wie des ultramontanen Katholizismus und der Arbeiterinternationalen - bedrohten ebenfalls das realistische Moratorium und provozierten ausdrückliche Rechtfertigungsversuche bislang unbefragt akzeptierter Konzepte in den Bereichen der Gesellschafts- so wie der Personendarstellung. Themen wie Psyche und Psychopathologie, Entwürfe fantastischer Realität, abweichender Umgang mit Liebe, Familie und Eigentum, Verletzung von Rederegeln und Verhaltenskonventionen, Um-


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kehrungen der gewöhnlichen Rangordnung erzählter Ereignisse, die Entwertung von Geschichte als Ort der Sinnstiftung faszinierten nun auch die Autoren des realistischen Kanons, nicht zuletzt Theodor Storm und Wilhelm Raabe.

   Karl May griff dergleichen im Rahmen seiner oben geschilderten Rezeptionspraxis auf. Es muß dabei nicht auf Mays unmittelbare Textkenntnis abgehoben werden, es kann schon die Erwähnung und Besprechung von Neuerscheinungen in seinen bevorzugt konsultierten Medien genügen. Zunächst einige Hypothesen dazu, was diese Art Erfahrungshorizont in den 1880er Jahren gekennzeichnet haben mag:

   1. Auch bei den angesehensten Vertretern des Realismus wurde nun die Krise deutlich: die Darstellung von umstrittenen Inhalten wurde zulässig und die grundlegende Problematik realistischer Schreibverfahren, nämlich wie sie Realitätseffekte erzeugen, offenbar.

   2. Daneben kam es zur Ausbildung einer konkurrierenden, sich als radikal realistisch verstehenden Literatur des Naturalismus (die zeitgenössische französische Entwicklung, die Neuschäfer bei May noch ignoriert sieht, wurde als Voraussetzung der deutschen Entwicklung wirksam, nicht als unmittelbarer Einflußfaktor). Dieser Naturalismus schloß an Darstellungsmöglichkeiten der 1840er Jahre an. Man denke an einen Spitzentext wie Gerhart Hauptmanns ›Die Weber‹, der noch 1892 thematisch und sprachlich Elemente der Weber-Literatur aus den Jahren nach 1844, der Zeit der Weberaufstände, benutzte. In dieser naturalistischen Literatur wurde das oben beschriebene realistische Moratorium zwar aufgehoben und die sozialen wie ideologischen Konfliktfelder erstmals seit den frühen 1850er Jahren wieder in der Literatur darstellbar. Doch geschah diese Darstellung zunächst noch in den Formen, in denen die Probleme schon in den 40er Jahren wahrgenommen worden waren. Neuartige Textformen entstanden erst allmählich und paßten sich der längst weiter fortgeschrittenen sozialen und ideologischen Entwicklung der 80er und 90er Jahre an. Der Naturalismus war also in dieser Hinsicht eine Übergangserscheinung, die auch mit Elementen vorrealistischer Literatur arbeitete, um die realistische zu kritisieren und zu überbieten. Erst der Roman der Moderne wird dann erklärt ›nachrealistisch‹ sein.28

   3. Aufgrund dieser Veränderungen geriet das Moratorium der 1850er Jahre, verhängt über eine Vielzahl sozialer und ideologischer Streitfragen, nun in eine Rechtfertigungskrise. Realistische Weltmodelle wurden in Frage gestellt, und die Gründe ihrer Aufrechterhaltung mußten deshalb offengelegt werden. Dabei zeigte sich, daß ihre Integrationskraft angesichts sozialen Dissenses abnahm. Dieser Dissens erschien behebbar nur mit Ansätzen, die nicht mehr mit dem Realismus verträglich waren, etwa biologisch-erbgenetischen Ansätzen, wie sie Oppermanns Roman zu entwickeln begann.


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   4. Die mindergewertete Literatur gehorcht anderen Reglements als die hochgewertete Literatur. Vor allem was als ›häßlich‹ in Inhalt und Art der Darstellung gilt, rückt, neben anderem, an diesen minderen Platz im Literatursystem. Da der ›Roman des Nebeneinander‹ Themen verhandelte und Schreibverfahren verwendete, die von der realistischen Norm zunehmend weniger anerkannt und erfolgreich ausgegrenzt wurden, sanken seine tabuisierten Inhalte ebenso wie seine literarischen Kompositionsprinzipien, das Erzählte ebenso wie die Formen des Erzählens, auch auf diesen minderen Platz ab. Mit dem darauf folgenden Auslaufen dieses Texttyps um 1870 - kein Autor, der um Anerkennung rang, wollte so schreiben - konnte es deshalb zum Übergang von Strukturmerkmalen dieser Form des Romans in die Kolportage kommen. Das bedeutet nicht, daß ein verfehltes, zu anspruchsvolles Projekt nun zu seinen Ursprüngen bei Sue und Dumas heimkehrt. Die Kolportage greift hier vielmehr auf ansehnliche Erzählmodelle zurück, die an anderen Orten im literarischen Gefüge unproduktiv und unfunktional geworden sind und als untunlich ausgeschlossen wurden. Es kam also zu Verschiebungen, die für einen lebhaften Austausch der funktionalen Teilbereiche des Literatursystems sprechen, weniger für eine strikte Trennung. Welche, womöglich neuen, Funktionen wiederum der Kolportage dadurch zuwachsen, muß die Textanalyse klären.

   Zunächst kann aufgrund dieser Beobachtungen ein Erklärungsversuch für die oben referierten, auffälligen Befunde an Mays Kolportageroman unternommen werden. Die beachtliche Textlänge - »(b)edenkt man die Produktionsumstände und den schieren Umfang des Romans, dann liegt hier doch ein über weite Strecken sinnvoll gegliederter und immanent durchaus einleuchtender Text vor«29 - deutet weniger auf die Syntheseleistung eines »feuilletoneske(n) Gesamtkunstwerk(s)«30 als vielmehr auf erzählerische Erfordernisse, die sich vorher bereits in Texten stellten, in denen komplexe Welten fingiert werden sollten. Zu denken ist nicht vorrangig an den historisch-politischen Sensationsroman des Sir John Retcliffe alias H. O. F. Goedsche, der bereits dem ›Waldröschen‹ Mays nur mehr eine zu negierende Folie lieferte, sondern vor allem an die ›Romane des Nebeneinander‹. Der Blick zurück auf Probleme, die die soziale Literatur der 1840er Jahre prägten, ist ebenso wie die Textlänge ein Indiz dafür, daß die Normen des Realismus hier an Geltung bereits erheblich eingebüßt haben. Die Versuche, zu einer angemessenen literarischen Wahrnehmung der Gründerkrachs zu kommen, trugen das ihrige zur Wiederbelebung dieser älteren Modelle bei.

   Hinzuzufügen ist, daß das kulturelle Wissen im allgemeinen und nicht nur die literarischen Entwürfe mit seit den 40er Jahren kaum veränderten Vorstellungen arbeitete; Marx' Theorien etwa hatten keinen hohen Bekanntheitsgrad. Mays ›Verlorner Sohn‹ verfährt deshalb nicht etwa besonders rückständig, wenn er sich an der Abbildung von Wirtschaftsprozessen versucht. Richard Sennett bemerkt dazu etwa: Die


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Geschäftsleute und Bürokraten des letzten Jahrhunderts hatten kaum das Gefühl, an einem geordneten System teilzuhaben. Da sie dieses System leiteten, neigen wir heute zu der Annahme, daß sie zumindest ihre eigene Funktion darin verstanden. Das stimmt keineswegs. Die neuen Prinzipien, nach denen man Geld verdiente und große Unternehmungen leitete, waren selbst für die dabei Erfolgreichen von Geheimnis umhüllt. Jene, die in den sechziger und siebziger Jahren (...) in den großen Firmen von London oder Paris tätig waren, begriffen ihre Arbeit gewissermaßen als Spiel, als Glücksspiel nämlich - und der Ort des Glücksspiels war die Börse.31



›Der verlorne Sohn oder Der Fürst des Elends. Roman aus der Criminal-Geschichte. Mit bunten Bilderbeilagen ‹32


Die Lektüre des Romans kann sich auf die Ergebnisse der Studien aus den letzten zwanzig Jahren stützen und sich hauptsächlich auf ergänzende Hinweise beschränken.33 Die Geschichte, die der mit 2412 Seiten durchaus nicht umfangreichste Text im Umfeld der ›Romane des Nebeneinander‹ erzählt, ist aus diesen Arbeiten bekannt. Obwohl der Roman nicht auf Gutzkows komplexe ›Technik des Nebeneinander‹ mit ihrer Parallelführung von mehreren synchronen Handlungssträngen zurückgreift und weitgehend linear und auf seinen Helden Gustav Brandt zentriert erzählt, scheint er mir dennoch produktiv im Zusammenhang desselben Texttyps lesbar zu sein. Auch ›Der verlorne Sohn‹ ist auf der grundlegenden Operation dieser Romanform aufgebaut: dem zentralen Ereignis der Ablösung einer negativ bewerteten Verfassung der dargestellten Welt durch eine positive Grundordnung. Doch während die frühen Romane der Serie einen komplexen, mehrgliedrigen, bedeutungsreichen und erzähltechnisch aufwendigen Wandlungsprozeß der zeitgenössischen Kultur als Modell vorzuzeichnen suchten, ist Mays Text durch systematische Umformungen dieses Schreibverfahrens gekennzeichnet, deren semantische Konsequenzen hier vor allem aufzuzeigen sind.

   Entscheidender Aspekt ist dabei, daß das komplexe Wandlungsmodell des ›Romans des Nebeneinander‹ durch eine Struktur beständiger Wiederholung ersetzt wurde. Nicht die Summe verschiedenartiger Ereignisse, sondern das Aufsummieren von Einzelfällen immer desselben Ereignistyps prägt den Text. Diese Aneinanderreihung begeht gleichsam feierlich die überdeutliche Wiedereinsetzung der zerstörten Ordnung. Erwies der komplexe Wandlungsprozeß die Leistungsfähigkeit des Weltentwurfs in den ›Romanen des Nebeneinander‹ durch die erreichte Neuordnung, so gemahnt diese Wiederholungsstruktur hier an eine auffällige Schwäche der wiederhergestellten Ordnung: Sie zeigt überall Bruchstellen derselben Art. Die Ordnungsstörung erscheint so letztlich als die ausführlich, detailliert, ja lustvoll geschilderte soziale Regel, die Wiedereinsetzung der Ordnung dagegen monoton und an die metaphysisch wie fantastisch überhöhte, damit


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aber auch hochgradig unwahrscheinliche Figur des Helden Gustav Brandt gebunden.

   Die bevorzugte und wiedereingesetzte Ordnung trägt dabei Merkmale realistischer Herkunft. Sie wird reguliert durch Arbeit, durch die sexuelle Tugendhaftigkeit der Frau, durch die Ehre des Mannes, nicht des Standes, und durch die Ablehnung des Geldes als Medium sozialer Beziehungen. Geld als verzinsliches Kapital und Arbeit erscheinen zusammenhanglos. Mit Arbeit dagegen kann keine Wertschöpfung erzielt werden. Keiner der Kapitalisten des Textes kommt nur durch ›Ausbeutung‹ im Wirtschaftsprozeß zu Vermögen, sondern erst durch kriminelle Machenschaften; alle Warenkörbe in der dargestellten Welt sind wirtschaftsfremden, ja außerhalb gelegenen, exotischen Ursprungs wie das sagenhafte Vermögen Brandts. Im übrigen deutet alles darauf hin, daß ›Wertschöpfung‹ auch im metaphorischen Verständnis in dieser Gesellschaft nicht möglich ist. ›Arbeit‹ gehört somit nicht dem ökonomischen Sektor an; wer das Volk im Sinne der Realisten bei der Arbeit aufsucht, sucht es nicht im Wirtschaftssystem, sondern in einem moralisch-pädagogischen Reich auf. Dort steht ›Arbeit‹ für Programme der Selbstunterwerfung und -ausbeutung der Person, der Selbstbescheidung unterbürgerlicher Schichten in der Sozialhierarchie, der Entdynamisierung jeglicher Neigung zur Überschreitung von Grenzen.

   Doch auch hier führt die Erzählstruktur der Aneinanderreihung von Ereignissen desselben Typs dazu, daß die realistischen Modelle ein verändertes Gesicht zeigen. Das reihende Grundmuster läßt ›Arbeit‹ jetzt nicht mehr als nachmärzliches Beschäftigungsprogramm politisch abstinenter Bürger erscheinen, es enthüllt sie vielmehr als Mechanismus völliger Unfreiheit, Ruhigstellung, ja psychischer und physischer Zerstörung der Menschen nicht nur unterbürgerlicher Schichtzugehörigkeit. Die so entstehende Endlosschleife zur Anpassung des einzelnen deckt die person-zerstörende Grundtendenz des realistischen Wertekanons auf. Die kriminelle und sexuelle Abweichung, die ausführlich zur Darstellung kommt, kann dagegen als letzter Rückzugsort von Selbstbestimmung erscheinen. Nur dann ist es logisch konsequent, daß auch die Titel, die May den einzelnen Abteilungen seines Textes gibt, unterschwellig diesen Wertekanon wieder zurücknehmen. Dies geschieht durch den zum Vergleich herausfordernden Satzbau der Titel und ihre Gleichordnung von entgegengesetzten Begriffen: ›Die Sklaven der Arbeit/der Schande/des Goldes/der Ehre‹. Die so entstehende Folge gegeneinander austauschbarer Begriffe zeigt zum einen, daß die vorhandenen Konzepte der ›Arbeit‹ und ›Ehre‹ die Gesellschaft nicht zu regeln vermögen, und zum anderen, daß es dieser Gesellschaft an positiven Alternativen zu ›Schande‹ - also an einer gelingenden sexuellen Praxis - und zu ›Geld‹ - also an einer ›rückversichernden‹ Ökonomie jenseits des Glücksspiels - gebricht. Diese Zusammenschau der Sklavereien verletzt das realistische Gebot der Verteilung von Sektoren der Wirklichkeit auf unterschiedliche Genres und das Gebot des gänzlichen Ausschlusses mancher


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Sektoren. Damit ist etwa Hackländers oben erläuterte, ausdrückliche Umdeutung von ›Sklaverei‹ wieder zurückgenommen. Der Roman legt damit die logischen Folgen und die Zwänge realismuskonformer Weltentwürfe offen.

   Dennoch vollzieht sich an der Textoberfläche die Wiederherstellung der durch Kriminalität verletzten Ordnung wie in realistischen Vergleichstexten. Realität ist allemal eine herzustellende, keine vorgefundene Größe. Hinter einer Oberfläche des Scheins verbirgt sich eine Tiefe entweder der Wahrheit oder der Gefahr. Die Herstellung von angemessenem Wissen um die Realität erfolgt durch detektorisches Vorgehen. Das unbeobachtete Beobachten, eine ›panoptische‹ Konstellation im Sinne Foucaults,34 ist das dabei verbreitete Verfahren der sozialen Kontrolle über alle Bereiche der Wirklichkeit. Auch hier fällt der Wiederholungsstruktur in Mays Roman jedoch eine enthüllende Funktion zu: Sie offenbart einen nur geringen Unterschied der Praxis des ›Hauptmanns‹ und des ›Fürsten des Elends‹. Beide führen ein Doppelleben und greifen gern zu den Mitteln der Täuschung, der Verkleidung, des Belauschens und Beschattens. Trotz dieser Gleichartigkeit wird freilich ein größtmöglicher Unterschied der Zwecke und damit der Moralität behauptet. Zwischen den scheinbar so gegensätzlichen Welten besteht ein auffällig geringer Unterschied.

   Dem übersteigerten Wiederholen bestimmter gleichförmiger Handlungsabläufe entspricht der unwahrscheinliche metaphysische Status des Einzelhelden, der gleichsam religiös gerechtfertigt wird. Die positiven Akteure in den frühen ›Romanen des Nebeneinander‹ bildeten ein abgestuftes Heldenkollektiv. Ihnen standen die »gemischten Charaktere«35 als Stellvertreter der problematischen Übergangsphase zwischen dem jeweils positiven Ausgangs- und Endzustand entgegen. Hier dagegen zerfällt der Held in ein Kontinuum von Alias-Identitäten und auf ihn hingeordneten Figuren. Entsprechend der reihenden Ereignisstruktur ist die Welt zweipolig und eindeutig geteilt in den Helden und seinen ›schwarzen‹, negativen Gegenspieler, der entsprechend als Satan ausgeführt ist. Der Held organisiert seine ›Hälfte‹ der Welt dabei vollständig, insofern alle positiven Figuren auf ihn bezogen sind, während der ›Hauptmann‹ nicht alle abweichenden und kriminellen Ereignisse in seiner Person bündelt. Um so mehr Aufmerksamkeit ziehen diejenigen Handlungsstränge auf sich, die nicht glücklich gewendet werden können, obwohl der Held eingreift; und mehr noch diejenigen, die sich dem allgegenwärtigen und allwissenden Helden überhaupt entziehen. Zu ersteren gehört der Kindsmord der Auguste Beyer; unter die zweiten fällt die Geschichte des Buchbinders Heilmann, der immer wieder für gute Taten unschuldig im Gefängnis von Rollenburg einsitzen muß. Beide Figuren verbindet ihre Elternlosigkeit, die dem Kult des Fürsten um seine Eltern und Ersatzeltern korrespondiert. Zum einen machen diese beiden Erzählstränge die Anstrengungen des Fürsten wie des Textes und ihr religiöses Vertrauen auf eine Wiederher-stellung intakter Verhältnisse zunichte. Zum anderen


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verweisen sie die negative Gegenwart im 22. und 23. Jahr des im Roman erzählten Handlungszeitraumes zurück auf eine mythische Urgeschichte, die von einfachen Familienverhältnissen ihren Ausgang nahm.

   Obwohl der Text fast zwanghaft Ordnung wiederherstellt, weist er dennoch selbst bedeutende Brüche, Ordnungsstörungen und Lücken auf. Zwei in seiner zeitlichen Ordnung seien zunächst betrachtet.

   Die erste Lücke hat bislang als dem ›Comte de Monte-Cristo‹ nachgebildete »Erzählkerbe«36 Beachtung gefunden: sie trennt den Beginn der Handlung im Herbst eines ersten und Frühjahr eines zweiten dargestellten Jahres von ihrer Fortsetzung im 22. Jahr. Sie wird gleich noch zu diskutieren sein.

   Ein zweiter Einschnitt trennt die akribisch genaue Datierung, die der Text bis zur Wiederherstellung gerechter Verhältnisse vornimmt, von einer längeren Phase, die bis zum endgültigen Abschluß des Romans verstreicht.37 Diese beiden verschiedenen Weisen, die erzählte Zeit darzustellen, entsprechen dem typischen Verfahren beim Wechsel vom ›Nebeneinander‹ einer modernen Welt der großen Städte mit ihrer Beschleunigung der Kommunikations- und Beförderungsmittel hin zum gleichsam naturzyklischen ›Nacheinander‹. Mehr noch: bekanntlich lassen die mit seiner Rückkehr beginnende, vollständige Wiederherstellung und die Übersteigerung der alten Ordnung die Verurteilung des Helden als Ursünde, seine Heimkehr als Erlösung erscheinen. Der Text selbst bevorzugt in der Erzähler- und Figurenrede religiös-christliche Weltdeutungen, und seine Zeitordnung ist unterschwellig auf die des Kirchenjahres bezogen.

   Erzählt wird, das 22. und 23. Jahr übergreifend, vom Advent (30. November bis 6. Dezember,38 24. bis 26. Dezember39) über den Karneval (Abteilung 2 des Romans40) bis zum 12. Juni,41 Ostern42 als Höhepunkt und Pfingsten43 als Endpunkt setzend. Der Advent ist derart Ankunftszeit der Erlöserfigur, ihre weihnachtlichen Aktionen entsprechen einer (Wieder-)Geburt. Dagegen steht der Karneval zunächst im Zeichen eines Triumphes des Fleischlichen, bis der Aschermittwoch die Wende einleitet: Prinz Karneval alias Fritz Seidelmann ist am Ende der erzählten Woche tot. Die Karwoche prägt das dreitägige Ultimatum, das der Fürst des Elends dem Verbrecherhauptmann stellt. Der dem Fürsten zugedachte Tod am ersten der drei Tage bildet die Karfreitagsszenerie ab, während der dritte Tag die Auferstehung des Fürsten, der sich jetzt zu erkennen gibt, bringt. Danach verliert der Fürst auffällig an Aktivität, dagegen beginnen jetzt seine ›Schüler‹ in seinem Geist aktiv zu werden. In diesem Geist pfingstlichen Zungenredens bringen sie gemeinsam den Hauptmann und seine Neben- und Nachfolgefiguren zur Strecke.

   Naturzyklische und heilsgeschichtliche Zeit fallen am Textende vermeintlich zusammen, als die Wiederherstellung von Brandtenstein als utopische Kolonie vollendet ist.

   Für die »Erzählkerbe« entsteht erhöhter Erklärungsbedarf. Das hat mehrere Ursachen. Zunächst trennt sie die ersten beiden und das 22. und 23.


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Jahr nicht als Vorgeschichte und Gegenwartshandlung voneinander; vielmehr schafft sie eine Lücke in einer durchgehenden Gegenwartshandlung. Die deswegen fehlende Geschlossenheit lenkt die Aufmerksamkeit auf diese Stelle und provoziert den ausdrücklichen Erzählerkommentar, der in den meisten Arbeiten auch zitiert wird:


Der gewaltigste Dichter und Schriftsteller ist - - das Leben ... Das Leben schreibt mit diamantenem Griffel; seine Schrift ist unvergänglich, seine Logik unbestechlich, seine Charakteristik von unveränderbarer Treue, seine Schilderung hinreißend und von herzergreifender Wahrheit. Was es darstellt, ist wirklich geschehen ... Es giebt keinen Redacteur, keinen Kritiker, keine Censur, überhaupt keine irdische Feder, welcher es erlaubt wäre, von dem Manuscripte der wirklichen Thatsachen auch nur einen Buchstaben zu streichen.44


Was die Erzählinstanz dort in scheinbar konventionelle Floskeln kleidet, ist nichts Geringeres als eine Fiktionalisierung der Realität einerseits, eine vollständige Immunisierung des ›Textes‹, den diese Realität hervorbringt, andererseits. Die Fiktionalisierung verdankt sich einer Verdoppelung von Realität: sie besteht aus realen Figuren und ihren Handlungen und ist zugleich ›geschriebener Text‹ der Erzählinstanz ›Leben‹. Die Relation dieses ›Textes‹ und ihrer Erzählinstanz zum vorliegenden Text und seiner Erzählinstanz wird hier nicht bestimmt. So kann die beredt aufgerissene und nun klaffende Lücke auch keinesfalls geschlossen werden. Vielmehr werden derart Zweifel an der Stimmigkeit und wörtlichen Gültigkeit des gesamten Textes über den Bereich seines zeitlichen Aufbaus hinaus genährt. Und auch wo an dieser Stelle eine Zeitlücke mit dem partikularen, dem nicht repräsentativen Standpunkt eines wahrnehmenden Subjekts erklärt wird, hebt der Text diese Erklärung selbst sofort wieder auf:


Das Leben arbeitet in unendlicher Rastlosigkeit, und nur, wenn der Blick des Sterblichen, von der Colossalität des Allgemeinen überwältigt, sich auf das Besondere und Einzelne richtet, kann es zuweilen scheinen, als ob die Geschichtsschreiberin der Welt- und Erdenentwickelung einmal die Feder ermüdet aus der Hand gelegt habe. Pausen scheinen eingetreten und Gedankenstriche gemacht worden zu sein. Personen sind verschwunden und Ereignisse in Stillstand versunken -

   Dem ist aber nicht so! Ueber eine kleine Weile - und solche kurze Pausen können im Zeitengange Jahrzehnte und Jahrhunderte bedeuten - entwickeln sich aus den scheinbaren Gedankenstrichen Buchstaben und Worten [!], welche in deutlicher Lesbarkeit beweisen, daß im Uebergange des Geschehenen zum Gegenwärtigen und Zukünftigen unmöglich eine auch nur sekundenlange Pause eintreten kann.45


Was dem hier eingeführten subjektiven Betrachter ereignislos scheinen mag, enthielte immerhin die Mitteilungen darüber, wie Brandt seinen unermeßlichen Reichtum erwarb und wie sein Gegenspieler sich zum ›Haupt(!)mann(!)‹ - ›Mann‹sein ist im Realismus hervorstechende Heldeneigenschaft - einer äußerst erfolgreichen kriminellen Gegengesellschaft


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aufschwang. Doch diese Mitteilungen, denen im ›Text‹ eine Reihe von Gedanken(!)strichen(!) - gestrichenen, zensierten Gedanken der Erzählinstanz? - entsprechen soll, bleibt im Roman an dieser Stelle ein verborgener Text, eine Art Kryptotext. Erst später, so deutet die Stelle jedoch an, werde er sich in einen gegenwärtigen Text aus Buchstaben und Worten verwandeln.

   Unter welchen Bedingungen macht diese Rede von der ausgesparten Zeitspanne als Kryptotext, der sich später in einen eigentlichen und lesbaren Text verwandeln läßt, Sinn? Zunächst auf der unmittelbaren Ebene, der textuellen, doch nur, wenn man eine Suchanweisung daraus entnimmt: was hier als verborgen doch immerhin benannt wird, wird später lesbar, und später hieße, nachdem der gesamte Text vorliegt. Der gesamte Text hieße dann der Romantext, wie der Leser ihn nach vollbrachter Lektüre kennt. Ein Spiel also durchaus auch mit den Spannungselementen des ›Fortsetzung folgt!‹, aber eben nicht nur das; denn zwischen der im eigentlich-wörtlichen Modus gegebenen Textoberfläche, dem realismuskonform Erzählten, wird durch das Verfahren beim Erzählen eine uneigentliche, verborgene Bedeutungsebene gestiftet. Diese auffällige, ja merkwürdige Konstruktion erscheint mir nur dann sinnvoll, wenn man sie als einer fantastisch-okkulten Logik gehorchend versteht, die der Erzähler hiermit einführt, und/oder wenn sie Psychologisches in irgendeiner Weise vortragen will, das die Instanz des Erzählers - nicht die Ebene der Figuren - berührt, dessen Spielgrößen die Figuren nur sind.

   Die Erzählinstanz gibt an dieser Kerbe mehr als Weltanschauliches zum besten, sie geht vielmehr an den wahrnehmungs- und darstellungstheoretischen, den poetologischen Grundbestand des Realismus. Ein solcher Grundkonsens realistischer Literatur war die Auslöschung jeglichen Hinweises auf das Produziertsein der Texte, die sozialen Umstände und diskursiven Voraussetzungen ihres Zustandekommens, kurz: der Realitätseffekt. Mays Leben, das herzergreifende Wahrheit wirklich geschehen sein läßt, produziert mithin den vollkommenen realistischen Text; doch bleibt es dabei weder ganz unbeobachtet, noch gelingt ihm die Harmonisierung mit der Wahrnehmung, dem Blick des Sterblichen. Obwohl der Realitätseffekt ausdrücklich behauptet wird, dargestellt wird der Bruch mit diesem Wesensmerkmal des realistischen Erzählens. Hinter diesem vorgeblichen Realismus, so darf man die Suchanweisung also lesen, steht etwas anderes geschrieben. Das Leben, das der Text als metaphysisch-okkulten Schriftsteller eigener Logik einführt, der sich von keiner Censur und keiner anderen irdischen (- realistischen -) Feder Vor-Schriften machen läßt, artikuliert sich dadurch. Dies Leben ist mithin eine zutiefst anti-realistische Größe. Text und Kryptotext widersprechen sich also diametral; wie Leben und Tod. Damit, wer immer da erzählt, über-leben kann, muß er die Todesdrohung einer realistischen Über-Schreibung seines Lebens-›Textes‹ abwenden. Der realistische Text muß derart durch-brochen, durch-sichtig sein, daß er für den ver-


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borgenen Text transparent wird. Es ist der Text eines okkult-fantastischen und/oder Psychodramas. Es geht also weder unmittelbar um Figurenpsychologie noch um die Psyche des Autors, vielmehr um die von der Struktur der dargestellten Welt und Handlung stellvertretenen - fantastisch-psychischen - Prozesse (in) einer Erzählerfigur.46 Für diese soll mittelbar eine Möglichkeit zu leben, zu überleben konstruiert werden. Damit diese Lebensmöglichkeit immun gegen Veränderung, Manipulation und Tilgung bleibt, tritt hinter der Erzählinstanz eine ganz und gar vitale Instanz hervor: das ›Leben‹ selbst. Welche Gestalt nimmt diese Lebens-Welt nun konkret an?

   Wären die beiden Teile der Erzählung - gut realistisch - als Vorgeschichte und Gegenwartshandlung eingeführt, entstünde kein derartiges Rechtfertigungsproblem. Weil es jedoch bewußt hervorgerufen wird, läßt sich die Erzählerrede nicht als belanglose Verschleierungsoperation für das Nichterzählenkönnen der zwanzig Jahre abtun, als Kunstgriff des Autors angesichts seiner literarischen Impotenz. Der angekündigte Kryptotext, der als mittlerer der dann drei Teile des Gesamttextes fungieren müßte, manifestiert sich dem realen Leser, wie gesagt, nirgendwo gesondert. Einige Informationen dazu werden jedoch in den beiden anderen, den vorhandenen Teilen gegeben, so daß die unterschwellige Suchanweisung nur am vorliegenden Textbestand erfüllt werden kann: Die bereits beobachteten Störungen des logisch-semantischen Zusammenhangs im Roman - seine im Erzählverfahren enthaltene Zurücknahme der im Erzählten wiederhergestellten realistischen Werte wie Arbeit und Ehre etwa - sind derart, daß sie als vermeintliche Konstruktionsfehler Transparenz gegenüber einem solchen Kryptotext zu schaffen vermögen.

   Der Kryptotext selbst wird dann lesbar, wenn die Ordnungsstörungen an der Textoberfläche durch fantastische und/oder psychologische Annahmen behoben werden können. Meine Hypothese dazu ist, daß die zweigeteilte Welt an der Textoberfläche der komplexen Struktur und Entwicklung einer Person entspricht, die der Text in einer Tiefenschicht verbirgt, für deren Existenz er aber deutliche Zeichen, Störungen einer harmonischen Lektüre, an der Oberfläche zurückläßt.

   Die erste Teilgeschichte stellt aus einer überschaubaren Gruppe von Figuren auf dem Land diejenigen Beziehungsgeflechte her, die die zweite Teilgeschichte als zweigeteilte Welt von Gut und Böse vorführen kann. Zwischen beiden Teilen klafft die beschriebene Lücke, in der sich Gut und Böse zu ihrer jeweils größten Macht aufschwingen. Schon die erste Teilgeschichte enthält Auffälligkeiten, die als Zeichen dienen: metaphorische Rollenzuschreibungen, die den tatsächlichen, etwa den familiären Positionen47 nicht entsprechen, unerklärliche Handlungsweisen, wie Almas Zeugenaussage gegen Brandt. Das Grundmuster von Held und Gegenspieler, Engel und Teufel - »Seit längerer Zeit giebt es hier einen Teufel und einen Engel. Der Teufel ist der geheimnißvolle Hauptmann ..., und der Engel ist der


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Fürst des Elendes«48 - erweist sich erweitert auf ein ›negatives Paar‹ aus Franz von Helfenstein und Ella Werthmann, dem mit Gustav Brandt und Alma von Helfenstein ein ›positives Paar‹ kontrastiert. Dem Gegensatz der Männer entspricht der der Frauen: Der erotisch-sexuellen, ihren sozialen Aufstieg betreibenden und wenig skrupulösen Ella steht die reine, asexuelle und für soziale Unterschiede eher unempfindliche Alma gegenüber. Während das negative Paar zustande kommt, obwohl es auf zwiespältigen Gefühlen und unterschwelligen Aggressionen beruht, wird das positive Paar, das ›Liebe‹ darstellen soll, im Verlaufe der Handlung nicht verwirklicht; Gustav und Alma sind getrennt. Das negative Paar beherrscht den Herkunftsraum während seines gesamten Erwachsenenalters, zwanzig Jahre lang. Es bleibt dabei kinderlos; eine Kinderlosigkeit, die nicht Unfruchtbarkeit, sondern offenbar Fruchtbarkeitsvermeidung bedeutet und zusammen mit der ›Lieblosigkeit‹ dieser Ehe für einen außergewöhnlich selbstischen und nur am Genuß ausgerichteten Lebensentwurf steht - und solch ein Gegenstand liegt für den Text jenseits jeder zulässigen und erträglichen Darstellung, solange sie kein Gegengewicht, etwa in Gestalt des Fürsten, umfaßt. Erst als übermächtig starke Gefühle wie Leidenschaft und Erotik im kulturellen Verständnis aufgrund ihres Lebensalters hinter den Figuren liegen, verwirklicht sich auch das positive Paar, für das Almas Bruder die Rolle des Kindes spielt. Auffällig bleibt, daß auch der Außenraum nicht darstellbar ist, an dem der Held (und nicht das positive Paar!) die zwanzig Jahre überdauert. Damit erweist sich der Text unfähig, beide Figuren(gruppen) - Brandt/Franz von Helfenstein, positives/negatives Paar - unabhängig voneinander darzustellen: sie sind (krypto)logisch abhängige Größen der dargestellten Welt.

   Unter den genannten Voraussetzungen ließe sich dazu folgende Hypothese bilden: Dem negativen Paar kommt die Funktion zu, zwiespältige und widersprüchliche Bestrebungen und Handlungen des Helden zu personifizieren und in die Tat umzusetzen, die weder dieser sich eingesteht noch der Text ihm zuschreiben will. Darunter fällt die Beseitigung von Almas Vater Otto, der offenbar sexuelle Verfügungsgewalt über seine Tochter/›Mutter‹ seines Sohnes ausübt. Als notwendiges Seitenstück gehört dazu auch die Beseitigung von Ottos sozial legitimen Stellvertreter, dem Hauptmann von Hellenbach. Und darunter fällt auch das Begehren der sexuell attraktiven und selbst sozial ehrgeizigen Frau, Ella Werth(!)mann(!), das dem eigenen sozialen Aufstreben und der Normeinhaltung entgegensteht. Nur dann macht es auch Sinn, daß Brandt damit bestraft wird, kein im Sinne der Kultur ›vollständiges‹ Erwachsenenalter zu besitzen, nur dann auch kann Brandt denken, wie schön und versöhnend es sei,49 wenn Robert die Nichte Hellenbachs heiratete.

   Mit Blick auf dieses Figuren- und Handlungsgefüge und unter der Annahme, der Text figurierte fantastisch eine Aufspaltung oder personifizierte die psychische Innenseite eines Kampfes der Potentiale, Vermögen und


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Möglichkeiten in einer Person, ließe sich auch der Doppeltitel des Romans erhellen.

   Der Haupttitel des Romans spielt auf das bekannte Gleichnis Lukas 15,11-32 an. Damit wird mehr als nur eine vage Präsenz von ›Sohn‹ und ›verloren‹ im Text angekündigt, sondern eine zumindest metaphorische Verwirklichung der Bedeutungsgehalte und Erzählmuster des Gleichnisses versprochen. Dieses Versprechen wird jedoch nicht unmittelbar eingelöst, auch wenn man voraussetzt, daß die religiösen Modelle aus ihrem Zusammenhang gerissen und nur als Lieferant von Bausteinen des Erzählens benutzt werden, wie die Unterlegung des Zeitverlaufs der Handlung durch die Hochfeste des Kirchenjahres beispielhaft gezeigt hat.

   Robert, der als einzige Figur im Text einmal als verlorener Sohn50 bezeichnet wird, funktioniert schon deshalb nicht nach dem Muster des Gleichnisses, weil Vater und Bruder fehlen, auf die die biblische Vorlage ausgerichtet ist. Vor allem jedoch steht Robert in keinem Zusammenhang mit den moralischen Verfehlungen, die ›Verlorensein‹ erzwingt; es sei denn, man wollte sein Zusammentreffen mit Judith Levi so weitgehend auslegen. Und Gustav Brandts ungebrochene Beziehung zu Eltern- und Vaterfiguren - sein Vater, Förster Wunderlich, der König - und sein unantastbarer Lebenswandel, auch wenn er als einziger die dargestellte Welt verläßt, machen ihn denkbar ungeeignet für die Titelrolle.

   Abhilfe schafft hier wiederum die Betrachtung des Doppeltitels aus ›verlorenem Sohn‹ und ›Fürst des Elends‹ mit der Hypothese einer fantastisch-psychologischen Textebene, die den Bedürfnissen einer konstruierenden Erzählinstanz gehorcht. Diese Bedürfnisse bestimmen auch die Art der von der ursprünglich religiösen abweichenden Nutzung und Variation des Musters.

   Nur in der Doppelperson Gustav Brandt/Franz von Helfenstein lassen sich verschiedenartige und gegenläufige Handlungsantriebe und Bestrebungen zusammenzwingen, die sonst nirgendwo gleichzeitig gelebt werden können: Normverletzungen als Wunscherfüllungen in der dargestellten Welt einerseits, Verlassen dieser Welt durch den ›guten Bruder‹ andererseits; schließlich Reue als systematische, detektivische und auf Einfühlung, ja Nachahmung beruhende Zurückdrängung der nicht-moralischen Antriebe der Gesamtperson. Personifizierte die Doppelperson Gustav Brandt/Franz von Helfenstein also unvereinbare Dimensionen eines konstruierenden Subjekts, so wird im Verlaufe des gewaltsamen, langen Erzählprozesses während des 22. und 23. Jahres diese Zusammenstellung neu gruppiert. Die Vernichtung des Franz von Helfenstein als Selbstvernichtung scheint nur dann tragbar, wenn sie in einer neuen Konstellation der Figuren/der psychischen Vermögen aufgefangen wird: Der Personanteil, den der Fürst verkörpert, treibt diesen Wandlungssprozeß der Doppelperson gegen den Widersacher Franz von Helfenstein in einer Heilsgeschichte voran, während dieser widersetzliche Personanteil dem legitimen Erben/dem erwünschten Er-


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gebnis des psychischen Prozesses, eben Robert von Helfenstein, nach dem Leben trachtet. Die Dichterexistenz als Hadschi Omanah und die sozialen Aufstieg begründende Ehe mit Fanny von Hellenbach weisen Robert von Helfenstein als den lebbaren Kompromißentwurf in diesem Psychodrama aus. Robert, der schließlich sozial arrivierte Dichter, erscheint damit auch als Lebensbilanz der konstruierenden Erzählinstanz.

   Poetologisch gewendet, tritt damit der Schriftsteller als Held hinter dem Text hervor und verkörpert ein anti-realistisches Programm: nicht das Beschreiben von Abenteuern, deren exotischste ja bereits in die Erzählkerbe fallen, sondern das Abenteuer des Schreibens manifestiert sich nachgerade im Lyriker am deutlichsten; deshalb wandert das prosaisch keinem Lexikon bekannte Befour, im Erzähltext fehlend, in Hadschi Omanahs/Roberts Gedichte aus, der niemals dort war. Befour ist Produkt von sozialer Lage und von (konventionellen) Schreibverfahren. Auch Karl May, scheint es, kommt aus dem Zwiespalt zwischen dem realistischen Anspruch, Gelebtes nur zu erzählen, und dem modernen Gestus des Schriftstellers als (letzter) Held, weil es nichts anderes als die Diskurse gibt, nicht heraus und sucht beständig nach lebbaren Kompromissen.



Referenzebene 5: Eine ›verlorene‹ Generation?


Die Leistung der ›Romane des Nebeneinander‹ bestand darin, den Übergang von einer durch unübersichtliche Komplexität geprägten, tendenziell chaotischen ›modernen‹ Welt des ›Nebeneinander‹ zum einfach und linear geordneten ›Nacheinander‹ einer überschaubaren Welt außerhalb der ›großen Stadt‹ darzustellen. Damit stellte die Literatur der Kultur ein leistungsfähiges Wahrnehmungs- und Darstellungsinstrument zur Verfügung, das mit seinen Mechanismen soziale und ideologische Pluralisierung und Partikularisierung in wenige und plausible Ordnungsmuster überführte. Auch das Interesse von Karl Mays Kolportageroman gilt einem zweigliedrigen Weltmodell und der rückversichernden Durchdringung unübersichtlicher sozialer Gemengelagen mit Ordnungsmustern.

   Die Gefahr des Texttyps, die seinen Kritikern vor allem ins Auge sprang, war die Faszination, die von einer Darstellung des ›Nebeneinanders‹ ideologischer und moralischer Orientierungen ausging, auch wenn schließlich diese abweichenden Entwicklungsmöglichkeiten der Gesellschaft verworfen und zum Scheitern verurteilt wurden. Der Kolportageroman agiert eine doppelte Faszination aus, sowohl diejenige, die von der Entfaltung anders, ja sogar ungeordneter Welten mit ihren vielfältigen und widersprüchlichen Provokationen ausgeht, als auch diejenige, die in einer ständig wiederholten Produktion von Übersicht, angemessenem Wissen und Ordnung besteht. Der ›Verlorne Sohn‹ agiert diese doppelte Faszination gerade in dem literar- und sozialhistorischen Moment aus, als sich das Denk- und Litera-


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tursystem des Realismus als ideologisch orientierender und handlungsleitender Standard so weit verfestigt hat, daß die Kosten dieser Konzeptionen in literarischen Texten und damit auch der Kultur zusehends deutlicher werden.

   Insbesondere diejenige Größe, die schon in der ›realistischen‹ Modellvorstellung selbst die meisten Leistungen zu erbringen hatte, die Person des ›Mannes‹, droht unter den zunehmenden Lasten konzeptionell - wohl auch sozialpsychologisch - zu zerbrechen. Mays Roman, liest man denn seinen mit deutlichen Verweisungen angelegten verborgenen Text aus Gedanken-Str(e)ich(ung)en, erzählt vom Preis für eine nach den Normen in der Arbeitsgesellschaft funktionierende, Verluste und Deformationen stoisch ertragende Männlichkeit: Der allgegenwärtige Übermensch Brandt ist dabei kein ungetrübtes Wunschbild, Franz von Helfenstein nicht nur satanisches Monstrum; aber der Dichter Robert von Helfenstein eine Art Synthese aus individuellen Wünschen und sozialen Ansprüchen an den einzelnen. Von ihm aus scheinen die Helden in den ersten Reiseerzählungen gedacht: eine eigentlich antirealistische, gesellschaftskritische, jugendliche Figur, die jedoch keinesfalls zu den Normverletzern gehört, für die sich die zeitgleich einsetzende Moderne zu interessieren beginnt. Mays Entwurf ist also zwiespältig und voller Vorbehalte gegen die Personen- und Weltentwürfe realistischer wie moderner Herkunft; vielleicht machte und macht gerade diese komplexe Verschränkung von Jugend und Norm seine Attraktivität aus.

   Die psychosozialen Kosten der ›realistischen‹ Konzepte fallen vor allem in den 1880er Jahren denjenigen besonders auf, die am wenigsten durch die ständige Wiederholung des Modells gewonnen haben. May scheint einer Altersgruppe anzugehören, die zwar in der vom ›Realismus‹ maßgeblich geprägten Kultur ihre Heimat hatte, in der Literaturgeschichte aber offenbar als Trägergruppe desselben keinen Platz hat: die Geburtsjahrgänge etwa 1840-1860.51 Es sind dieselben Jahrgänge, die unter der Autorenschaft der Frühen Moderne nahezu keine Rolle spielen.52 Brüche in der Biographie sind deshalb nicht nur individuell, sondern möglicherweise kollektiv motiviert. Die Art Kosten, die Mays Text zur Anschauung bringt, entstehen im übrigen nicht nur dann, wenn Biographien verlaufen wie die Maysche; vielleicht werden sie dann aber deutlicher wahrnehmbar.

   Ohne den problematischen Begriff der Generation über Gebühr zu strapazieren, läßt sich May als Person und Autor ›zwischen‹ epochalen Blöcken beschreiben. Mit der Analyse der Kolportage wird die eine, noch ›realistische‹ Seite dieser Zwischenstellung und ihre Problematik greifbar, die andere, tendenziell ›moderne‹ Seite ist damit zumindest als Forschungsdesiderat bestimmt. Ein Bruch prägt somit schon Mays Œuvre der 80er Jahre.

   Für den Bruch während und nach der Orientreise hat Hans Wollschläger schon früh Friedrich Nietzsches Zusammenbruch in Turin 1889 als paralleles Ereignis genannt.53 Aufgrund der obigen Ergebnisse scheint auch eine


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ähnlich verlaufende Beziehung zum ›Realismus‹ - versteht man ihn als Ensemble von Werten und Normen, die nicht zuletzt durch Literatur in Umlauf gesetzt und erfolgreich durchgesetzt wurden - für diese beiden kennzeichnend, und möglicherweise nicht nur für diese beiden. Auch für Nietzsche läßt sich eine Lebensphase intensiver Einführung in die ›realistische‹ Kultur und Anteilnahme an ihr belegen. So zitiert er etwa 1862 in einem Schulaufsatz zu einem Nibelungen-Thema wörtlich aus der Vorrede von Gutzkows ›Zauberer von Rom‹ dessen Rechtfertigung des ›gemischten Charakters‹.54 Seit den 70er Jahren ist ihm derartiges nicht mehr zitier-, allenfalls kritikfähig; auch Wagner verfällt zuletzt dem Verdikt. Auch Nietzsches Blick geht in die 30er und 40er Jahre zurück und blendet die Jahrzehnte des Realismus gleichsam aus, wenn er sich als Heine kongenialer Lyriker - auch er! - deklariert.

   Nachdem die Frühe Moderne sich durchgesetzt hat, gilt ihr nach 1900 dieser Nietzsche als Vorreiter. Sie reagiert mithin auf dasselbe Unbehagen am Realismus, das in Mays und Nietzsches ganz unterschiedlichen Texten und Biographien erstmals zum Ausbruch kam.



1 Für die damit verknüpfte Diskussion um die Manipulation der Leser, die eine ›Autorschaft‹ wieder notwendig machen würde, obwohl sie für diese mindergewertete Textgruppe eigentlich per definitionem ausgeschlossen ist, bietet Hans-Jörg Neuschäfer: Karl May und der französische Feuilletonroman. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1996. Husum 1996, S. 231-46 (232), eine neue Lösung an: »Deshalb sahen wir den Feuilletonroman nicht als das Produkt eines originalen Schöpfungsaktes an, sondern gleichsam als ›Medium‹, als einen Vermittler, der auf der einen Seite kollektive Stimmungen registrierte, der ihnen auf der anderen Seite aber auch erst eine erzählerische Gestalt gab, in der das Publikum den Ausdruck seiner Wünsche und Ängste wiedererkennen konnte.«

2 Vgl. Ulrich Schmid: Das Werk Karl Mays 1895-1905. Erzählstrukturen und editorischer Befund. Materialien zur Karl-May-Forschung Bd. 12. Ubstadt 1989; ders.: Textkritik des Abenteuers - Abenteuer der Textkritik. Ein Versuch über Leben und Schreiben, über Kleben und Streichen. In: Jb-KMG 1988. Husum 1988, S. 66-82; Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Nördlingen 1987ff.; Zürich 1989ff.; Bargfeld 1994ff.; Hrsg. von Hermann Wiedenroth. Bargfeld 1998f.

3 Vgl. allgemein Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens. 2., verb. Aufl. Göttingen 1982. Vgl. zur Anwendung auf Karl Mays Werke jetzt Werner Kittstein: Fiktion als erlebte Wirklichkeit: Zur Erzähltechnik in Karl Mays Reise-Romanen. Teil I: Literaturwissenschaftliche Grundlagen - Einzeluntersuchungen an Beispielen des Frühwerks und des Orientzyklus. In: Jb-KMG 1997. Husum 1997, S. 117-75; Teil II: Einzeluntersuchungen an Beispielen der späten Reise-Romane und Altersnovellen. In: Jb-KMG 1998. Husum 1998, S. 208-52.

4 Helmut Schmiedt: Literaturbericht. In: Jb-KMG 1996. Husum 1996, S. 403

5 Das Jb-KMG 1998 scheint mit den in dieser Hinsicht nötigen Erweiterungen methodischer Zugriffe auch bereits zu beginnen; vgl. die Beiträge von Andreas Graf: Lektüre und Onanie. Das Beispiel des jungen Karl May, sein Aufenthalt auf dem Seminar in Plauen (1860/61) - und die Früchte der Phantasie; Helmut Schmiedt: Karl May gibt es gar nicht. Beobachtungen und Überlegungen aus neuerer litera


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turwissenschaftlicher Sicht; Harry Ziegler: Karl May. Plädoyer für einen kulturwissenschaftlichen Forschungsansatz.

6 Andreas Graf: Von Öl- und anderen Quellen. Texte Friedrich Gerstäckers als Vorbilder für Karl Mays ›Old Firehand‹, ›Der Schatz im Silbersee‹ und ›Inn-nu-woh‹. In: Jb-KMG 1997. Husum 1997, S. 331-60 (356)

7 Die andere Sichtweise entziffert eine allmähliche Wandlung in den 1890er Jahren.

8 Karl May: Der verlorne Sohn oder Der Fürst des Elends. Dresden 1884-86; Reprint Hildesheim-New York 1970ff.; der Text ist in lieferungs- und seitenadäquater Umschrift jetzt auch zu finden unter http://kassandra.techfak.uni-bielefeld.de/kmg/primlit/roman/sohn/index.htm.

9 Vgl. Walther Ilmer: Die innere Werkstatt des verlorenen Sohns Karl May. Versuch zur Erhellung zweier Phänomene. In: Jb-KMG 1996. Husum 1996, S. 78-108.

10 Waldröschen oder Die Rächerjagd rund um die Erde. Dresden 1882-84; Die Liebe des Ulanen. In: Deutscher Wanderer. 8. Bd. (1883-85); Deutsche Herzen, deutsche Helden. Dresden 1885-87; Der Weg zum Glück. Dresden 1886-88

11 Neuschäfer: Feuilletonroman, wie Anm. 1, S. 241

12 Ebd., S. 242; vgl. auch Hans-Jörg Neuschäfer: Die Krise des Liberalismus und die Störung des bürgerlichen Normensystems. Ein Beitrag zur Mentalitätsgeschichte des späten 19. Jahrhunderts aus der Sicht des Feuilletonromans. In: Die Modernisierung des Ich: Studien zur Subjektkonstitution in der Vor- und Frühmoderne. Hrsg. von Manfred Pfister. Passau 1989, S. 122-32.

13 Hinzuweisen ist hier auf Mays angeblichen oder wirklichen Kontakt zur ›Gartenlaube‹ und zu Ernst Keil. (Siehe Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg o. J. (1910), S. 99.)

14 Graf: Quellen, wie Anm. 6, S. 334

15 Ebd., S. 333

16 Vgl. Klaus W. Hempfer: Intertextualität, Systemreferenz und Strukturwandel: die Pluralisierung des erotischen Diskurses in der italienischen und französischen Renaissance-Lyrik (Ariost, Bembo, Du Bally, Ronsard). In: Modelle des literarischen Strukturwandels. Hrsg. von Michael Titzmann. Tübingen 1991, S. 7-43.

17 Die zusätzliche Zeichenebene der Bilder als integraler Bestandteil der Abdrucke der Texte scheint gerade den optisch hochsensiblen May gleichermaßen zu eigener Produktion anzureizen wie die Texte selbst. Man vgl. etwa die Darstellung von Jürgen Wehnert: Karl May, Joseph Kürschner und die Deutsche Verlags-Anstalt. In: Karl May: Der Krumir. Seltene Originaltexte Bd. 1. Hrsg. von Herbert Meier. Hamburg/Gelsenkirchen 1985, S. 110-12 sowie ders.: Vorwort (zu ›Im Mistake-Cannon‹), ebd., S. 113.

18 Der literarische Realismus ist gut erforscht, was die Spitzentexte und Spitzenautoren angeht. Über dem Bemühen um diejenigen Merkmale von Texten und Œuvres, die zu deren jeweiliger Individualisierung beitragen und sie mithin möglichst weitgehend von einer Vielzahl sie umgebender Textproduktionen unterscheiden, sind die gemeinsamen, seien es unausgesprochen vorausgesetzten, seien es ausdrücklich thematisierten Merkmale ungebührlich vernachlässigt worden. Die Forschung erweitert zwar derzeit ihre Kenntnisse sowohl zu textübergreifenden Fragen der grundlegenden Anthropologie und ›Ethnologie‹ des 19. Jahrhunderts, verfügt deshalb aber noch nicht über hinreichende Ergebnisse, auf die hier einfach zu verweisen wäre. Die folgenden Ausführungen müssen deshalb notwendig allgemein und abstrakt bleiben und stellen Arbeitshypothesen vor. Die Entstehungsursachen, der Aufbau des Symbolsystems der Texte ebenso wie die sozialen Prozesse der Verbreitung und Durchsetzung des ›Realismus‹ harren noch immer der Aufklärung, wenngleich wichtige Komplexe wie ›Arbeit‹, ›Tod‹, ›Volk‹/›Nation‹ bereits verschiedentlich benannt sind. Die Begriffe Realismus, realistisch etc. stellen hier und im folgenden epochale Zuordnungen her.


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19 Vgl. meinen Versuch der Rekonstruktion für die Zeit zwischen 1830 und 1890 (Gustav Frank: Krise und Experiment. Komplexe Erzähltexte im literarischen Umbruch des 19. Jahrhunderts. Wiesbaden 1998). Darin werden Romane von Karl Immermann, Ernst Adolph Willkomm, Karl Ferdinand Gutzkow, Willibald Alexis, Friedrich Wilhelm Hackländer, Heinrich Albert Oppermann und Karl May vorgestellt und auf das von Karl Gutzkow seit der Publikation seiner ›Ritter vom Geiste‹ propagierte Textmodell »Roman des Nebeneinander« bezogen diskutiert; vgl. auch Anm. 21.

20 Wie der konsolidierte Realismus diese einmal errichteten Grenzen zu behaupten versteht, zeigen neuerdings Günter Butzer/Manuela Günter/Renate von Heydebrand: Strategien der Kanonisierung des ›Realismus‹ am Beispiel der ›Deutschen Rundschau‹. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL), 24. Bd. (1999), S. 55-81.

21 Karl Gutzkow: Die Ritter vom Geiste. Roman in neun Büchern. Leipzig 1850-51. Jetzt verfügbar als: Ausgabe in drei Bänden und einem Kommentarband. Hrsg. von Thomas Neumann. Frankfurt a. M. 1998

22 Willibald Alexis: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. Berlin 1852. Verfügbar ohne das Vorwort der ersten Auflage: Frankfurt a. M.-Berlin-Wien 1985

23 Willibald Alexis: Isegrimm. Berlin 1854

24 Friedrich Wilhelm Hackländer: Europäisches Sclavenleben. Stuttgart 1854

25 Die Umgestaltung der Bedeutung von Begriffen, die im Vormärz als Schlagwort umliefen, erweist sich in diesem Fall als zweischneidiges Verfahren. Wird einerseits eine grundlegende Unterscheidung und Ausgrenzung des Proletariats zurückgenommen, seine Benachteiligung in eine nur mehr graduelle umgedeutet, so daß der Unterschied zu den Bürgerlichen und Adligen in dieser Sicht gering ausfällt, wird umgekehrt die Hülle vor den alltäglichen bürgerlichen Zuständen transparent, und sie fallen nunmehr ebenfalls unter den Begriff der Sklaverei. Nicht zuletzt wegen dieser Ambivalenz ist Hackländers Text unmittelbar an Kompensationen für Zustände interessiert, die, recht betrachtet, nichts anderes sind als eine subtile, eine vermittelte, gebrochene und verhüllte Form der Sklaverei.

26 Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern. Leipzig 1858-61

27 Heinrich Albert Oppermann: Hundert Jahre. 1770-1870. Zeit- und Lebensbilder aus drei Generationen. Neun Theile in neun Bänden. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1871. Frankfurt a. M. 31984

28 Vgl. Ulf Eisele: Die Struktur des modernen deutschen Romans. Tübingen 1984.

29 Andreas Graf: »Ja, das Schreiben und das Lesen ...« Karl Mays Kolportageroman ›Der verlorne Sohn‹ als Entwurf einer schriftstellerischen Karriere. In: Jb-KMG 1994. Husum 1994, S. 188-211 (204f.)

30 Wie Anm. 11

31 Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Frankfurt a. M. 1995, S. 182

32 May: Der verlorne Sohn, wie Anm. 8

33 Vgl. Volker Klotz: Woher, woran und wodurch rührt ›Der verlorene Sohn‹? Zur Konstruktion und Anziehungskraft von Mays Elends-Roman. In: Jb-KMG 1978. Hamburg 1978, S. 87-110; Manuel Köppen/Rüdiger Steinlein: Karl May: Der verlorene Sohn oder der Fürst des Elends (1883-85). Soziale Phantasie zwischen Vertröstung und Rebellion. In: Romane und Erzählungen des bürgerlichen Realismus. Neue Interpretationen. Hrsg. von Horst Denkler. Stuttgart 1980, S. 274-92; Klaus Hoffmann: Werkartikel ›Der verlorene Sohn‹. In: Karl-May-Handbuch. Hrsg. von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987, S. 397-404; Neuschäfer: Feuilletonroman, wie Anm. 1; Graf: »Ja, das Schreiben und das Lesen ...«, wie Anm. 29.


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34 Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M. 81988

35 Vgl. etwa die Figur des Fritz Hackert in Gutzkows ›Die Ritter vom Geiste‹ (wie Anm. 21) und der Lucinde Schwarz in Gutzkows ›Der Zauberer von Rom‹ (wie Anm. 26); dort im Vorwort auch genauer zum »gemischten Charakter«.

36 Volker Klotz: Abenteuer-Romane. Sue, Dumas, Ferry, Retcliffe, May, Verne. München 1979, S. 66

37 Der 12. Juni des 23. Jahres (May: Der verlorne Sohn, wie Anm. 8, S. 2396-99) ist die letzte genaue Datumsangabe; der Rest des Textes, zwei nicht genauer spezifizierte Tage (S. 2407-11), liegt nach einem längeren, chronologisch undifferenzierten Zeitraum.

38 Ebd., S. 103-446

39 Ebd., S. 446-80

40 Ebd., S. 481-780

41 Ebd., S. 2396-99

42 Ebd., S. 1698-1792

43 Ebd., S. S. 2209ff.

44 Ebd., S. 103

45 Ebd.

46 Psychologie findet sich hier also in einem vormodernen Sinn, abgebildet nicht auf der Ebene der handelnden Figuren, ableitbar nicht etwa aus Antrieben ihres Handelns, ableitbar auch nicht aus dem Unterschied zwischen angekündigtem, ausdrücklich gerechtfertigtem und vollzogenem Verhalten. Abgebildet findet sich auch nicht die intern-psychische Struktur einer Figur in den externen Abläufen der dargestellten Welt, wie es etwa das fantastische Erzählen der Romantik kannte. Vielmehr handelt es sich beim Romangeschehen um etwas wie das Psychodrama einer Schreib- und Erzählinstanz des Romans. Die Erzählerfigur wird im Realismus zusehends zurückgenommen, bis hin zu Fontane, der einen Romantyp kultiviert, den (fast) nur mehr Dialoge erzeugen. Durch die Ferne des Erzählers, der nur mehr Arrangeur des sich gleichsam selbst Darstellenden zu sein scheint, wird das Dargestellte verbürgt. Und oft ist das solchermaßen Dargestellte in von der Erzähldistanz wiederum nur gefundenen Aufzeichnungen abgebildet, so paradox durch Zeichenhaftigkeit und dialogische Unmittelbarkeit beglaubigt. Waren diese Operationen schon angestrengt, so schiebt sich in Mays Roman, im Verborgenen gleichsam, nämlich im Kryptotext, die Erzählinstanz wiederum in den Vordergrund: sie bringt den Text hervor, um zu überleben, im materiell-beruflichen wie im psychischen Sinn. Auch in ihrer formalen Logik erweisen sich bei May die Verfahren des Realismus dadurch unterminiert, daß sie auf die Spitze getrieben, daß sie zur Kenntlichkeit durchgeführt werden.

47 Man denke nur an die Genreszene der ersten Seite des Romans, die die 20jährige Alma als Mutter ihres einjährigen Bruders Robert zu suggerieren versucht.

48 May: Der verlorne Sohn, wie Anm. 8, S. 162

49 Ebd., S. 2190

50 Ebd., S. 2236

51 In den 1830er Jahren geborene Schriftsteller gehören noch zu den erfolgreichen Realisten: Felix Dahn, Georg Moritz Ebers, Marie von Ebner-Eschenbach, Paul Heyse, Wilhelm Jensen, Wilhelm Raabe, Ferdinand von Saar, Leopold von Sacher-Masoch. In den 40er Jahren geboren sind dagegen etwa Karl Emil Franzos, Kurd Laßwitz, Detlev von Liliencron, Peter Rosegger, Heinrich Seidel und Ernst von Wildenbruch, aber auch Friedrich Nietzsche, August Strindberg, Paul Verlaine, Emile Zola.

52 Die ältesten der Autoren der Moderne werden in den 1860er Jahren geboren wie Gerhart Hauptmann, Arno Holz, Arthur Schnitzler, Johannes Schlaf, Frank Wedekind.


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53 Hans Wollschläger: »Die sogenannte Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung überhaupt«. Materialien zu einer Charakteranalyse Karl Mays. In: Jb-KMG 1972/73. Hamburg 1972, S. 11-92 (56)

54 Den Hinweis entnehme ich aus Wulf Wülfing: Stil und Zensur. Zur jungdeutschen Rhetorik als einem Versuch von Diskursintegration. In: Das Junge Deutschland. Hrsg. von Joseph A. Kruse/Bernd Kortländer. Hamburg 1987, S. 193-217 (205). Zum Zusammenhang von Hebbels und Wagners Nibelungen-Dramatik und Gutzkows Großromanen vgl. in Kürze Gustav Frank: Der ›Mythos vom Matriarchat‹ als realistische Reaktion auf Experimente des Biedermeier bei Bachofen, Hebbel, Gutzkow, Wagner u. a. In: Von der ›Goethezeit‹ zum ›Realismus‹: Spezifik und Wandel in der Phase des ›Biedermeier‹. Hrsg. von Michael Titzmann. Tübingen 2000.




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