Die wissenschaftlich-publizistische Resonanz, die ein Schriftsteller findet, läßt sich anhand verschiedener Faktoren messen. Zu ihnen gehören philologisch ambitionierte Ausgaben, komplexe Monographien und Sammelbände, aber auch kleinere Arbeiten, Aufsätze, die dann für die Reputation eines Autors sprechen, wenn sie in nennenswerter Zahl und mit einer gewissen Selbstverständlichkeit an diversen Stellen auftauchen und dabei auch noch höchst unterschiedliche inhaltliche Akzente setzen. Gerade - und vor allem - in dieser Hinsicht hat der vorliegende Bericht einiges zu verzeichnen, wobei es teils um sehr spezielle Dinge, teils um eher allgemein gehaltene Einführungsdarlegungen geht.
In die letztgenannte Kategorie fällt ein Aufsatz in einer in Triest erschienenen Zeitschrift, der mit der Ausrichtung auf Karl May als imaginäre(n) Reisende(n) und Belegen aus dem großen Orientroman sowie der Winnetou-Trilogie in aller Kürze den Kosmos der Abenteuerromane erschließen will.1 Die Rede ist von deren Seriencharakter, von den Besonderheiten der Ich-Form und vor allem von den im weitesten Sinne ideologischen Problemen, die sich bei der Konfrontation des deutschen Helden mit vielerlei fremden Völkern ergeben. Lorenza Rega führt dazu mehrere Aspekte an, von Blochs Kolportagetheorie bis zu »der vagen pädagogischen Absicht, das eigene Volk zu belehren sowie den bereisten Völkern auf irgendeine Weise zu helfen«, und der Feststellung einer doch bedenklich oberflächlichen Vermittlung von Kenntnissen zum Fremden. Insgesamt gelangt der Beitrag, bei etlichen Einschränkungen, zu einer tendenziell freundlichen Beurteilung: In May stecke »ein wirklich humaner Geist« (S. 53), seine Bücher gehörten zu einer Jugendliteratur, »die nicht negativ ist«. Über die künftige Wirkung des Autors allerdings wird eher skeptisch spekuliert: Die Jugend sei »nicht länger bereit, am Beispiel der von May entworfenen Modellfiguren mit offenen Augen zu träumen« (S. 57).
Amerika ist bekanntlich niemals bereit gewesen, mit May zu träumen, sich intensiv auf ihn einzulassen, und dieser Umstand wird noch einmal bestätigt schon im Titel eines Aufsatzes von Jeffrey L. Sammons, einem amerikanischen Experten für die deutsche Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts: Ein Fall von fehlender Interregionalität: Die Abwesenheit des Amerikaschriftstellers Karl May in Amerika.2 Sammons listet - von einigen Editionsbemühungen bis zu (populär-)wissenschaftlichen Äußerungen - etliche der wenigen dennoch vorhandenen Reaktionen auf, verweist auch
auf Kurioses in dieser Spezialabteilung des deutsch-amerikanischen Kulturdialogs - so hat einmal ein deutscher Hemingway-Übersetzer Mays Namen eingefügt, wo das Original von einem Baseballspieler namens Carl Mays spricht (vgl. S. 170) - und reflektiert schließlich darüber, wie sich das kollektive Desinteresse erklärt. Als mutmaßlich zentralen Grund gibt Sammons einen Mayschen »Antiamerikanismus« an, der sich vordergründig in seinen Attacken auf geldgierige Yankees äußere, im Kern aber auf einer »Leerstelle« beruhe, auf der »Abwesenheit irgendeines Begriffes von dem, worin die Bedeutsamkeit Amerikas im Weltgeschehen liegt: das große Experiment, eine Demokratie zu schaffen und die oft sich widersprechenden Ansprüche von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit auszubalancieren« (S. 178); bei Sealsfield und Gerstäcker sei ein solcher Begriff dagegen vorhanden gewesen. Sammons zieht die Schlußfolgerung, man könne May »nur nominell als antiamerikanischen Schriftsteller bezeichnen«, müsse ihn vielmehr betrachten »als einen, dem es an irgendwelcher weiteren Bedeutsamkeit für deutsch-amerikanische Kulturbeziehungen gebricht« (S. 179). Die letztere Feststellung erscheint - unabhängig von der Frage nach der Plausibilität der zugrundeliegenden Argumentation - insofern höchst fragwürdig, als an der »Bedeutsamkeit« eines in Deutschland derart populären, wirkungsmächtigen Autors doch auch gerade dann nicht gezweifelt werden kann, wenn er den Lesern ein völlig irreführendes Bild von seinen Handlungsschauplätzen vermittelt.
Daß zu den exponierten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts, die May auf signifikante Weise zur Kenntnis genommen haben, Bert Brecht gehört, legt Ulrich Schmid dar.3 Die Spuren der Begegnung sind freilich dünn ausgefallen: Anscheinend hat Brecht May nur in sehr jungen Jahren gelesen und sich später, wenn er sporadisch auf ihn zu sprechen kam, an kärgliche und z. T. sachlich falsche Erinnerungsreste gehalten. Kindliche Indianerspiele in der Augsburger Bleichstraße, über die Walter Brecht berichtet, einige Passagen im literarischen Werk zumal des frühen Brecht, die May-Reminiszenzen aufweisen, ferner die eine oder andere kurze kommentierende Bemerkung: Viel mehr ist es nicht, was sich da konkret ausmachen läßt, zumal Brecht ein breit gestreutes Interesse an diversen Spielarten der populären Literatur und Kultur hegte, deren Wirkungen sich bei ihm mit dem speziellen May-Interesse auf nahezu unentwirrbare Weise verquickten. Schmid stellt das, was sich bei diesem Thema dennoch mit einiger Überzeugungskraft herausfiltern läßt, detailliert zusammen, verweist auch auf Parallelen zwischen den beiden Autoren, die ganz sicher nichts mit der Beeinflussung des einen durch den anderen zu tun haben - in den späteren Werken beider wird das zu Egoismus und Tyrannei neigende Männlichkeitsideal zugunsten von »Güte« und »Mutterliebe« (S. 38) relativiert -, und konfrontiert am Ende einen Auszug aus Mays Einleitung zu Winnetou I mit der Passage aus einem Opernentwurf Brechts, in der die Eroberung Amerikas zwar auf anderer Stilebene, aber mit identischer inhaltlicher Akzentuierung und Bewer-
tung rekapituliert wird. Sollte irgendwann einmal eine übergreifende Studie zu Mays Wirkung auf die Kollegen des 20. Jahrhunderts erarbeitet werden, gebührt Brecht darin vermutlich kein eigenes Kapitel, aber erheblich mehr als eine Fußnote.
Wenn die oben zuerst genannte Arbeit von Lorenza Rega diejenige mit einem besonders umfassenden Anspruch ist, so erscheint ein Aufsatz mit dem erstaunlichen Titel Von Karl May bis Somerset Maugham als die mit dem spezifischsten Thema: Es geht hier um Das Bild Indonesiens in westlichen Romanen.4 Mit dem Blick auf eine größere Zahl einschlägiger Texte verfolgt die Verfasserin Indonesien-Darstellungen zwischen dem späten 16. Jahrhundert und der Gegenwart und räumt dabei Karl May unter Verweis auf Am Stillen Ocean einige Zeilen ein, die die Zuverlässigkeit seiner »geographischen Angaben« loben, aber auch hervorheben, daß die in Südostasien spielenden Erzählungen im Vergleich zu vielen anderen seines Gesamtwerkes »blaß bleiben« (S. 189). Nachdem unter anderem Vicki Baum und Joseph Conrad kurz ins Licht gerückt sind, lautet der nicht weiter überraschende Gesamtbefund, daß es in den besprochenen Texten »immer wieder um das Aufeinanderprallen westlicher und indigener asiatischer Kulturen geht« und daß »in fast allen Geschichten die europäischen Charaktere und ihre Handlungsweisen lebendiger gezeichnet sind als ihre östlichen Counterparts« (S. 193).
Damit sind wir wieder bei einem Lieblingsthema der neueren May-Philologie angelangt, das nicht ausschließlich, aber doch in recht bemerkenswertem Ausmaß außerhalb der Publikationen der Karl-May-Gesellschaft gepflegt wird: Mays Darstellungen des anderen, d. h. die Schilderungen der fremden Völker, Religionen und Kulturen, mit denen es seine durch die Welt reisenden deutschen Helden zu tun bekommen. Ganze Bücher sind da schon insbesondere dem Orientbild gewidmet worden, und auch jetzt wieder ist eine Arbeit zu registrieren, die das Thema auf mehr als hundert Seiten abhandelt; sie ist Teil einer noch umfangreicheren Studie Zum Bild des Orients in der deutschsprachigen Kultur um 1900, die neben Mays Orientzyklus Werke von Hugo von Hofmannsthal (Das Märchen der 672. Nacht) und Else Lasker-Schüler (Die Nächte Tino von Bagdads, Der Prinz von Theben) untersucht.5 Anders als in dem im letztjährigen Literaturbericht erwähnten Aufsatz von Volker Wiemann (vgl. Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1998, S. 400) wird Mays Orientbild hier wieder ganz überwiegend negativ beurteilt. Die Verfasserin stellt insbesondere die Beziehung zur deutschen Kolonialpolitik der Entstehungszeit des Romans her und entdeckt - obwohl Mays Ich-Held ja keineswegs deutsche Kolonien bereist - signifikante Spuren kolonialistischer Ideologie: Im mächtig auftrumpfenden Kara Ben Nemsi sieht sie den »Prototypen des Kolonisators« (S. 50), in Halef einen psychologisch außerordentlich geschickt konturierten einheimischen Kollaborateur, im Zusammenspiel der beiden, das sich auf die geistige Überlegenheit des Helden ebenso wie auf Halefs Peitsche
stützt, einen gut funktionierenden Unterdrückungsapparat; besonders bemerkenswert erscheint der Hinweis, daß Mays wertende Einschätzungen der orientalischen Völker insofern kolonialistisch geprägt sind, als die »für das Deutsche Reich wirtschaftlich und politisch unwesentlichen Völker positiv erscheinen können, während die für die Interessen des Deutschen Reiches bedeutsamen Völker negativ geschildert werden« (S. 118). In einem eigenen Kapitel wird am Ende jedoch der Autor von Und Friede auf Erden! ausdrücklich von dem des Orientzyklus getrennt: Die reale Orientreise habe bei May offenbar »eine umfassende Reflexion« (S. 160) ausgelöst, die zu einer im damaligen Kontext durchaus ungewöhnlichen »Kolonialismuskritik« (S. 163) führte.
Die »Überlegenheit der europäischen, und zwar speziell deutschen, Kultur über orientalische Mentalität und Traditionsverhaftung« (S. 207) als Grundtendenz in Mays Reiseromanen taucht auch in den May-Passagen einer umfangreichen Gesamtdarstellung zur deutschen Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts auf.6 Es werden darüber hinaus noch etliche andere Aspekte des Mayschen Werkes kurz zur Sprache gebracht, von Beziehungen zwischen dem Kolportageautor May und dem »sentimental-trivialen Frauenroman seiner Epoche« (S. 203) bis zur Feststellung, Mays Wilder Westen erscheine »außerordentlich ambivalent«; nur das Spätwerk bleibt wieder einmal außerhalb aller näheren Betrachtung. Sehr plausibel erscheint die Auflistung von »fünf Konstituenten« eines »Grundmodell(s)« der Reiseerzählungen: Sprengel nennt »(1) die quasiautobiographische Erzählperspektive eines charismatischen Helden; (2) den exotischen Raum; (3) die Kontrastierung von Gut und Böse; (4) die sukzessive Aufdeckung eines Geheimnisses, das in der Vorgeschichte angelegt ist; (5) die abschließende Überwindung des Bösen mit der Perspektive auf eine bessere Zukunft« (S. 208).
Ein wiederum sehr spezielles, aber auch außerordentlich populäres Thema, das in wachsendem Maße schriftlich dokumentierte Aufmerksamkeit findet, ist das der May-Filme, zumal der erfolgreichen Produktionen der 60er Jahre (deren inhaltliche Distanz zu den literarischen Vorlagen sich schon in eben dem Begriff May-Film andeutet; als etwa Visconti den Tod in Venedig und Schlöndorff Die Blechtrommel fürs Kino einrichteten, sprach man von Thomas-Mann- und Grass-Verfilmungen). Erst einmal zu nennen ist da ein an überaus gut geeigneter Stelle - nämlich im Journal of Film and Video - erschienener Aufsatz, der sich so umsichtig mit der Ästhetik der May-Western beschäftigt wie bisher kaum eine andere Publikation.7 Auch in diesem Fall wirkt das abschließende Fazit, demzufolge die Filme ihrem Publikum imaginäre Auswege aus den ideologischen Widersprüchen der Entstehungszeit anbieten, »a new home that was neat and clean« (S. 64), nicht sonderlich originell, aber was Schneider vorher zusammenstellt, regt zu mancherlei Erkenntnissen an. Er vergleicht die deutschen Filme mit den traditionellen Hollywood-
Western einerseits und den Arbeiten eines Sergio Leone andererseits, konstatiert ein gezieltes Anknüpfen an Genre-Konventionen - das geradezu programmatisch schon in der Eröffnungsszene des Schatz im Silbersee zu entdecken sei - und eine dennoch gegenläufige Ausrichtung in Einzelheiten und konfrontiert schließlich die May-Filme sowohl mit den deutschen Heimatfilmen des vorherigen Jahrzehnts als auch mit der zeitlich nahezu parallel produzierten, gleichfalls außerordentlich erfolgreichen Edgar-Wallace-Serie. Wie die May-Filme mit der Landschaft und dem Gegensatz von Wildnis und Zivilisation umgehen, welche Rolle sie Frauen und Männerfreundschaften zuerkennen, wie sie Sterbeszenen präsentieren und welch geringe Bedeutung sie - anders als Mays Romane - der nationalen Herkunft ihrer Protagonisten beimessen: Zu alldem gibt es erhellende Bemerkungen, und man kann nur bedauern, daß der Verfasser sich ganz überwiegend auf die ersten dieser Filme stützt und die spätere Entwicklung außer acht läßt, die sich etwa in den Darstellungen des saloppen Helden Old Surehand durch Stewart Granger und einer im Vergleich zu Marie Versinis Nscho-tschi weit unkeuscher daherkommenden Elke Sommer in Unter Geiern ergeben.
Ob es eine dezidiert weibliche Produktions- und Rezeptionsästhetik gibt: Darüber ist in den letzten Jahrzehnten viel gestritten worden, und ein winziges Mosaiksteinchen zu diesem Problem bildet die Frage nach dem »weibliche(n) Vergnügen an Indianergeschichten«.8 Sie wird in einem Sammelband aufgeworfen, der sich generell mit Filmerfahrungen von Frauen beschäftigt, und andeutungsweise beantwortet unter anderem im Hinblick auf eine aus der Erinnerung berichtete Geschichte, die sich um die Begegnung einer Schülerin mit einem Winnetou-Film dreht. Die Schilderung rückt ganz und gar die stumme und zugleich intensive Begrüßung zwischen Winnetou und Old Shatterhand in den Vordergrund, und da sich dies im Hinblick auf eine Lektüreerfahrung wiederholt, von der eine andere Schreiberin berichtet, da zudem vor allem die Lautlosigkeit beim Auftritt der Indianer jeweils hervorgehoben wird, konzentriert sich die Interpretation auf diesen Aspekt: Die »Geste der stummen Umarmung«, für die jene fiktiven Indianer verantwortlich sind, läßt an einen nicht von auftrumpfender Männlichkeit dominierten Umgang miteinander denken, an eine »alternative Lebensform« (S. 146), am Ende gar an »ein neues Gemeinwesen, in dem die Geschlechterverhältnisse nicht mit hierarchischen Machtverhältnissen gleichzusetzen sind« (S. 144) - danach sucht frau, wenn sie sich an den eigentlich in erster Linie von Männern für Männer produzierten Indianerfilmen erfreut. Wer dieser Interpretation ohne jede Einschränkung zustimmt, muß davon überzeugt sein, daß über viele Jahre zurückreichende Erinnerungen an eine einzige Film- und Romanszene tatsächlich reichen, zu derart weit ausgreifenden Erkenntnissen zu gelangen; zu bedenken ist, daß auch die May-Filme das Indianische keineswegs nur »durch Männer, die sich unmännlich verhalten« (S. 143), repräsentieren und daß auch der
Film-Winnetou noch sehr andere Seiten aufweist als die, schweigend den Blutsbruder zu begrüßen.
Mit den frühesten May-Filmen beschäftigen sich zwei Beiträge eines Sammelbandes über deutsche Reise- und Abenteuerfilme der Jahre 1913 - 1939; er geht zurück auf einen Kongreß zu diesem bisher wenig beachteten filmhistorischen Thema. Der eine Beitrag befaßt sich mit Durch die Wüste (1936): ein nach Ansicht von Tim Bergfelder in vielem unzulänglicher Film, aber auch »eine lohnende Wiederentdeckung«, da »gerade in seinem Scheitern interessant«.9 Der Film sei von der politischen Propaganda offenbar als Beispiel für »Heldenverehrung« im Dienste »nationalsozialistischer Erziehungspolitik« (S. 186) eingeplant gewesen; herausgekommen sei aber eine Produktion mit einem zurückhaltenden, manchmal fast passiv wirkenden Kara Ben Nemsi und einer Handlungsstruktur, die statt »kausaler Zusammenhänge«, wie sie im Sinne der zeittypischen »Brachial-Heroik« sonst üblich waren, eine »bunte Nummernrevue« präsentiert, eine episodische Reihung von »Abenteuer-Vignetten (...) aus dem Archiv der Trivialkultur« (S. 187). Der Autor deutet an, daß dieses Ergebnis vielleicht nicht einmal in der Absicht des Regisseurs lag; aber es wirke »geradezu sympathisch« (S. 188), indem es sich eben der NS-Ästhetik verweigere.
Schon anderthalb Jahrzehnte vor Durch die Wüste war die Firma Ustad-Film mit - heute leider verschollenen - May-Produktionen hervorgetreten, für die bekanntlich unter anderem Marie Luise Droop zuständig war, eine gute Freundin Mays in dessen letzten Lebensjahren; über sie berichtet ein weiterer Beitrag des genannten Sammelbandes.10 Er verfolgt die Lebensgeschichte dieser Frau, stellt ihre Beziehungen zu May dar und gibt Hinweise zu ihren filmischen Bemühungen um sein Werk. Das Porträt entwirft das Bild einer Persönlichkeit, die eine »fraglos deutsch-nationale Gesinnung« hegte und den Idealen deutscher Heldenhaftigkeit folgte, auf der anderen Seite aber als »stolze, selbstbewußte Frau« handelte und gewiß »keine Nazi-Ideologin« (S. 124) war: eine Erbin der konservativen »Bewußtseinswelt des deutschen 19. Jahrhunderts« (ebd.), der »Karl Mays West-Östlicher Divan« (S. 125) reizvolle Orientierungsräume bot. Der Beitrag wertet eine Reihe von Dokumenten neu aus und treibt insofern die Forschung zur Rezeptionsgeschichte Mays ein kleines Stück voran; angesichts derartiger Akribie mutet es merkwürdig an, daß - wie der Anmerkungsapparat ausweist (vgl. S. 140f.) - Texte von Karl May und Friedrich Schiller (!) nach Zitaten bei Ernst Bloch und Arno Schmidt wiedergegeben werden; solche philologischen Nachlässigkeiten wären nicht einmal in einer germanistischen Proseminararbeit zu akzeptieren.
Ebenfalls den May-Filmen gewidmet ist die umfangreichste Publikation, die es im vorliegenden Bericht anzuzeigen gilt: Michael Petzels Karl-May-Filmbuch, 1998 vom Karl-May-Verlag in der gleichen äußeren Gestaltung veröffentlicht wie ein Jahr zuvor der Karl-May-Atlas.11 Anders als bei diesem (vgl. Ruprecht Gammlers Rezension im Jb-KMG 1998, S. 393-95) han-
delt es sich beim Filmband um ein in hohem Maße gelungenes Unternehmen.
Es beeindruckt insbesondere durch die Fülle der dargebotenen Daten und Fakten. Von den Arbeiten der Ustad-Film (1920) bis zur ZDF-Sendung Winnetous Rückkehr (1998) reicht das vorgestellte Material; es geht also nicht nur um Arbeiten fürs Kino, sondern auch um solche des Fernsehens. Über die Vorbereitung und Herstellung der Filme wird genauso berichtet wie über ihre Inhalte, die Schauspieler, die Verbreitung und die Aufnahme bei Publikum und Kritik; zahlreiche Kommentare des Verfassers, Stab- und Besetzungslisten, eine Bibliographie, viele rare, perfekt wiedergegebene Bilder, lange Zitate aus Berichten der Beteiligten und manches andere runden das Ganze ab. Man spürt bei dieser weit ausgreifenden, immer neue Einzelheiten referierenden Darstellung, wie hier ein Verfasser unter gründlicher Benutzung von Archivschätzen sein opus magnum hat schreiben wollen.
Den breitesten Raum - etwa 300 von insgesamt knapp 550 Seiten - nimmt völlig zu Recht die Vorstellung der Spielfilme aus den 60er Jahren ein. In üppiger Ausführlichkeit wird über die Auswahl der Regisseure, Drehbuchautoren und Schauspieler referiert, darüber, welche Szenen an welchen Schauplätzen gedreht wurden, wie die Premierenfeiern verliefen (meistens glanzvoll) und wie die Filmbewertungsstelle urteilte (meistens nicht glanzvoll). Auch Klatsch und Tratsch werden zwanglos einbezogen; wir erfahren, welche Neigungen und Abneigungen zwischen diversen Akteuren bestanden, daß der Schut-Regisseur Robert Siodmak sich wohl fühlte, »wenn er eine der hübschen Schauspielerinnen zu sich auf den Schoß ziehen kann« (S. 182), und daß Heinz Stolte während der Uraufführung dieses Films mehrfach »Köstlich, köstlich!« (S. 189) ausrief. Der Berichterstatter muß gestehen, daß er über die sachliche Richtigkeit dieser und vieler anderer Informationen nicht urteilen kann, will aber angesichts der Souveränität, mit der die Detailfülle ausgebreitet wird, gern glauben, daß zumindest das allermeiste zutrifft. Unbeantwortet blieb für ihn indes die heikle Frage, ob der Satz über Lex Barkers letzte Ehe tatsächlich so gemeint ist, wie er klingt: »Die Ehe steht zum Zeitpunkt des Todes von Lex Barker vor der Scheidung, ist aber noch nicht vollzogen.« (S. 36)
Es gehört gewissermaßen zur Tücke des Objekts, daß gerade die große Zahl der Dokumente und Mitteilungen, die das Buch präsentiert, immer neue Probleme aufwirft, die dann doch einmal an irgendeiner Stelle ungelöst bleiben. So zitiert Petzel wiederholt aus Gutachten, die Hans Wollschläger im Auftrag des Karl-May-Verlags über die Filmprojekte der 60er Jahre angefertigt hat; es bleibt jedoch unklar, welche konkrete Funktion diese Beurteilungen besaßen. Darüber hinaus läßt der Verfasser gelegentlich erkennen, daß manche Vorgänge doch nicht mehr vollständig rekonstruierbar sind, etwa da, wo die zunächst angekündigte Besetzung eines Films von der schließlich realisierten deutlich abweicht. All dies fällt freilich
kaum ins Gewicht, wenn man die Vielzahl der dargebotenen Informationen dagegenhält.
Auch vor Bewertungen scheut Petzel nicht zurück. Seine Urteile decken sich im großen und ganzen mit denen, die von vielen Experten vertreten werden: Durch die Wüste (1936) sei »mit Herzblut und Liebe zum Detail« erarbeitet worden, aber leider »stocklangweilig« (S. 75) geraten, die frühen Produktionen der 60er Jahre seien erheblich besser als die späteren, Winnetous Rückkehr werde den Mythos Pierre Brice ganz sicher »nicht befördern« (S. 444). Ein entscheidender Maßstab ist für Petzel die Frage nach der Werktreue: nicht im Sinne einer präzisen filmischen Rekonstruktion der Einzelheiten dessen, was man im Buch liest (so etwas kann es ja gar nicht geben), sondern als Beibehaltung der »Aura der Karl-May-Romane« (S. 24), die beispielsweise dann zerstört wird, wenn ein an sich famoser Filmschauspieler wie Stewart Granger seinen Old Surehand mit ironischer Distanz anlegt. Was Karl-May-Aura aber letztlich meint und wie sie zu rekonstruieren wäre in der Gattung Film, die durchaus eigenen künstlerischen Gesetzen folgt: darüber müßte man einmal gründlich diskutieren, gerade auch aus Anlaß dieser so vorzüglichen Übersichtsdarstellung.
Von Detailreichtum anderer Art ist die elfte Ausgabe der Hohenstein-Ernstthaler Karl-May-Haus-Information geprägt.12 Diese Publikationsreihe hat sich gerade mit den jüngsten Veröffentlichungen zu einem wertvollen Periodikum der Karl-May-Forschung entwickelt und bestätigt nunmehr diesen Ruf.
Der eindeutige Schwerpunkt liegt wiederum auf der biographischen Recherche, wobei Mays Waldenburger Seminarzeit im Mittelpunkt steht. Zunächst vermittelt Christian Heermann »einen Überblick zu den gesetzlichen Regelungen der Seminarausbildung in Sachsen und zu einer besonderen Situation in Waldenburg, um damit die Frage zu beantworten, wie Mays anklagende Worte aus seiner Selbstbiographie zur Kälte des Unterrichts zu werten sind« (Vorbemerkung, unpaginiert) - sie werden »vollauf bestätigt« (S. 7). Hans-Dieter Steinmetz und André Neubert berichten über Mays Aufnahme und Aufenthalt in Waldenburg, stellen Lehrer und Mitschüler vor und listen seine Jahreszensuren auf. Über die 1865 angelegte, im Stadtarchiv Leipzig gelagerte Polizeiakte Karl Mays, die bisher nur auszugsweise und unzuverlässig aus Lebius' Zeugen Karl May und Klara May bekannt war, informiert Hans Buchwitz. Hartmut Schmidt berichtet über das Ehepaar Marie und Hans Grund, zu dem Klara und Karl freundschaftliche Beziehungen unterhielten. Es folgen zwei weitere Artikel von Steinmetz: ein kurzer zu Mays späten Auseinandersetzungen mit der Lokalpresse seines Geburtsortes, ein erheblich umfangreicherer, der biographische Materialien zu den Monaten Dezember 1910 bis Mai 1911 zusammenträgt, über die man bisher nur wenig gewußt hat. Berichte zu den Sonderausstellungen des Hohenstein-Ernstthaler Karl-May-Hauses, zu May-Gedenktafeln im österreichischen Linz und in Mittweida, zu einer Umfrage unter Besuchern des
Karl-May-Hauses und einige kleinere Meldungen runden das Heft ab; Hans-Dieter Steinmetz kommt auch noch einmal auf den Hintergrund der Entstehung des May-Gedichts Des Buches Seele zu sprechen, das im Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1997 wiedergegeben wurde.
Es ist im Rahmen des vorliegenden Berichts nicht möglich, in allen Einzelheiten die Erträge nachzuzeichnen, die der biographischen Forschung aus dieser Publikation zuwachsen. Daß sie beträchtlich sind, sollte aber aus der obigen Zusammenfassung ebenso hervorgehen wie aus der Vorbemerkung des Heftes selbst, die mit verständlichem Stolz die Erstveröffentlichung von nicht weniger als vierzehn Briefen und Telegrammen Mays registriert. Immer wieder muß es Erstaunen hervorrufen, daß so viele aussagekräftige Dokumente noch aufzufinden sind, nachdem - das ist nun freilich schon einige Zeit her - von einer kompetenten biographischen May-Forschung über Jahrzehnte hinweg kaum etwas zu bemerken war.
Von den Publikationen der Karl-May-Gesellschaft, die im Berichtszeitraum erschienen sind, seien an dieser Stelle genannt:
- | das fünfte Heft der Karl-May-Autographika, das Briefe und Karten Mays aus den Jahren 1893-1911 enthält, die an verschiedene Adressaten gerichtet sind;13 |
- | das dritte Register zum Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft, das die Bände zwischen 1986 und 1995 erschließt;14 |
- | ein Materialienband, der Daten, Fakten und charakteristische Tendenzen aus Leben und Werk Karl Mays mit denen des Verlegers Julius Springer (1817-1877) synchronisiert: als »Beitrag zur Kulturgeschichte im kaiserlichen Deutschland« (Vorbemerkung, unpaginiert).15 |
Für denjenigen, der den Beziehungen zwischen Mays Amerikaromanen und den vergleichbaren Werken anderer Abenteuerschriftsteller weiter nachgehen will - sei's im Rahmen der traditionellen Einflußforschung, sei's im Zuge der vom Berichterstatter im letztjährigen Jahrbuch vorgestellten diskursanalytischen Bemühungen -, bietet der auch in Sachen May bekanntlich sehr rührige Georg Olms Verlag etwas Hilfreiches an: einen Reprint der 1863 von Balduin Möllhausen unter dem Titel Palmblätter und Schneeflocken veröffentlichten Erzählungen aus dem fernen Westen; die insgesamt zehn verschiedenen Texte von höchst unterschiedlicher Länge füllten seinerzeit zwei Bände, die nun - als Auftakt zu einer umfangreicheren Möllhausen-Edition - in einem einzigen zusammengefaßt sind.16 Der Herausgeber Andreas Graf, der schon verschiedentlich den Komplex Möllhausen - May behandelt hat, kommt darauf auch in seinem Nachwort zu sprechen, das im übrigen aber natürlich auf eine umfassende Vorstellung der Erzählungen angelegt ist. Sie waren vermutlich allesamt auch schon vorher gedruckt worden und steckten in ihrer Zusammenstellung nun »das erzählerische Terrain ab, auf dem sich Möllhausen für die nächsten vier Jahrzehnte bewegen wird« (S. 259). Ausdrücklich sei betont, daß der heute in Vergessenheit geratene Möllhausen bei weitem nicht nur wegen seiner
Bedeutung für May Aufmerksamkeit verdient: Er hat einen sehr eigenen Weg gefunden, den fernen Westen in einer Mischung aus Erlebnisbericht und abenteuerlicher Stilisierung zu schildern, und daß da manches im Vergleich zu Mays spektakulären Phantastereien heutigen Lesern zunächst eher langweilig erscheint, sollte von einer aufmerksamen Lektüre nicht abhalten.
Ein ungewöhnlich buntes Bild ergibt sich auf dem Gebiet der May-Editionen, verantwortlich dafür sind indes die üblichen Verdächtigen. Die Karl-May-Gesellschaft legte in zweiter Auflage den seit langem vergriffenen Reprint von Winnetou IV wieder vor: mit einem deutlich veränderten Vorwort von Dieter Sudhoff und einem erweiterten Anhang mit Faksimiles, Nachlaßtexten und anderem Material.17 Der Karl-May-Verlag hat 1998 die Reihe seiner Gesammelten Werke auf achtzig Titel erweitert.18 Auf der See gefangen bietet neben den frühen Wildwesterzählungen Winnetou - einer veränderten Fassung von Inn-nu-woh, der Indianerhäuptling (1875 bzw. 1878) - und Ein Ölbrand (1883) als Hauptattraktion eben Auf der See gefangen (1878), den frühen Criminalroman Mays, der zugleich auch Seeräuber- und Indianerroman und einiges mehr ist und von May später für den zweiten Old Surehand-Band in jener veränderten und gekürzten Form verwendet wurde, die in der Edition des Karl-May-Verlages ihren Platz schließlich in Kapitän Kaiman fand. Zwei Aufsätze heutiger May-Experten kommen hinzu. Über die Beschaffenheit und komplizierte Veröffentlichungsgeschichte dieses zweiten Romans aus Mays Feder berichtet Christoph F. Lorenz, während ein ausführlicher Beitrag von Ekkehard Bartsch zusammenfaßt, was man über die Figur Winnetou - von möglichen Quellen für den Namen über die Entwicklung der Figur im Gesamtwerk Mays bis zu aktuellen Reisen auf Winnetous Spuren - wissen muß, wenn man sich in der May-Szene behaupten will. Hinweise, ob und wie weit die wiedergegebenen Texte bearbeitet sind, finden sich diesmal nicht.
Ein Novum, eine ganz andere als die bisher üblichen Formen der May-Bearbeitung bietet ebenfalls der Karl-May-Verlag an: eine Übersetzung von Winnetou III ins Lateinische, angefertigt von Johannes Linnartz.19 Wenn man bedenkt, daß es seit langem z. B. lateinische Asterix-Ausgaben gibt, ist dies mehr als ein nur kurioses Projekt: ein neuerliches Indiz dafür, daß Mays Werk weiterhin in die vielfältigen Verwertungs- und Rezeptionszusammenhänge eingebunden ist, die sich - inklusive allerlei aparter Seitentriebe - in der Popularkultur herauskristallisiert haben. Der im Text auf die Bamberger Ausgabe zurückgreifende und ebenso im Gewand dieser Ausgabe daherkommende Band enthält auch einen Anhang, der über das spezielle Vokabular der Übersetzung Auskunft gibt, dabei den Namen Vinnetu durchdekliniert und die Helden Vetus Catabolochir und Vetus Pyrobolochir (Old Shatterhand und Old Firehand) auflistet (vgl. S. 527) - das liest man vielleicht sogar dann mit Vergnügen, wenn man alles übrige nur schweigend anstaunen kann. Es wäre zu wünschen, daß sich ein Altphilolo-
ge einmal gründlich mit der Qualität dieser denkwürdigen Winnetou-Variante beschäftigt.
Zu den Verwertungszusammenhängen der Literatur gehört seit einiger Zeit auch der Trend zum sog. Hörbuch: zu Audiokassetten, mit deren Hilfe man sich literarische Texte von kompetenten Sprechern, zumeist Schauspielern, vorlesen läßt; selbst ganze Romane werden auf diese Weise dem Publikum vermittelt, mit Gert Westphal - der den Schatz im Silbersee komplett gelesen hat (vgl. Jb-KMG 1993, S. 373) - brachte das Medium sogar einen Star eigener Ordnung hervor. Skeptischen Zeitkritikern wird vielleicht die Vorstellung ein Greuel sein, wie sich gelangweilte Autofahrer nun die Zeit im Stau mit dem Anhören des Zauberberg vertreiben können; andere aber mögen darauf hinweisen, daß das Vorlesen hochwertigen Literaturguts eine altehrwürdige Tradition besitzt und hier eben mit Hilfe aktueller Technik seine Wiederkehr feiert. Auch zum wiederholten Male im Falle Karl Mays: Im August und September 1998 strahlte der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) in 25 Folgen eine Hörbuch-Version von Winnetou I aus, gleichzeitig erschien das Opus, gelesen von Stefan Wigger, in sieben Kassetten auch im Handel.20
Wigger liest den Text insgesamt ein wenig ruhiger, gleichförmiger als seinerzeit Westphal den des Silbersee; um so mehr fallen dann besondere Akzentuierungen auf, etwa bei den abenteuerlich zugespitzten Szenen oder bei der Wiedergabe des »hihihihi« von Sam Hawkens, das Wigger geradezu lustvoll zelebriert. Die Textfassung folgt der Bamberger Ausgabe mit all ihren Besonderheiten; also bewahrt z. B. nach Wiggers Worten der angehende Old Shatterhand die Unterlagen über seine Tätigkeit als Landvermesser in einer Tabaksdose auf, während er zu Mays Lebzeiten dafür eine Sardinenbüchse verwendete.
Westphal benötigte für den Schatz im Silbersee achtzehn Kassetten, Wigger kommt mit weniger als der Hälfte aus. Man wird sogleich vermuten, daß diese Differenz weder mit der nur geringfügig unterschiedlichen Länge der Romane noch mit den Änderungen der Bamberger Buchausgabe zusammenhängt, sondern mit einschneidenden neuen Textkürzungen, und in der Tat bietet das Hörbuch eine von Carl-Heinz Dömken besorgte dramaturgische Textfassung, die im wesentlichen einer Textreduzierung entspringt. Etliche reflektierende Passagen, wie die Einleitung und die das erste Kapitel eröffnenden Darlegungen zum Wesen des Greenhorns, sind gänzlich entfallen, darüber hinaus wurde - beispielsweise mit Kürzungen von Dialogen - in die erhalten gebliebenen Partien eingegriffen. Um noch einmal das Beispiel Sam Hawkens zu bemühen: die berühmte Beschreibung seines Aussehens anläßlich des Auftritts in St. Louis wurde um die Hälfte gekürzt, und daß Sam der erste Lehrmeister des Wildwest-Neulings Shatterhand ist, läßt sich hier viel weniger klar entdecken als in der Buchversion. Unmißverständlich erkennbar bleibt freilich stets der Gang der Handlung, und auch bei der Verknappung einzelner Szenen dürfte es in der
Regel kaum zu Verständnisschwierigkeiten kommen. Wer strengen Respekt vor den Worten eines Dichters fordert, wird solchen Streichungen - ähnlich wie Dömkens Rih-Zusammenschnitt (vgl. Jb-KMG 1998, S. 392f.) - nur mit größtem Unbehagen begegnen, und das ist sicher eine respektable Haltung. Wer nicht gar so puristisch urteilt und einräumt, unter Umständen müsse man im Dienst an der Literatur auch einmal dem eher aufs rasche Amusement ausgerichteten Zeitgeist Konzessionen machen, wird das Projekt wesentlich freundlicher beurteilen (und kann sich darauf berufen, daß das Ganze immer noch mehrere Stunden dauert und daß viele May-Leser der jüngeren Generation sogar erfolgreich durch anderthalbstündige Spielfilme, Hörspielversionen oder Freilicht-Inszenierungen sozialisiert worden sind).
In der historisch-kritischen Ausgabe wurde die Waldröschen-Serie fortgesetzt, deren fünfter Band mit einem großen Einschnitt ins Gesamtprojekt überraschte, dessen Hintergründe der Öffentlichkeit zunächst vorenthalten blieben: Plötzlich zeichnete nur noch Hermann Wiedenroth als Herausgeber.21 Bereits vorher aber waren zwei Bände erschienen, die eine besondere Etappe des ganzen Unternehmens markierten.22
Es handelt sich um einen Doppelband, der der Abteilung VIII, Briefe, zugeordnet ist und damit deren erste Publikation bildet: eine Wiedergabe von Karl Mays Leseralbum, dessen voluminöses Original in den Museumsräumen der Villa Shatterhand aus der Distanz zu bewundern ist. May hat darin die Photographien zusammengestellt, auf denen sich - gemäß seinem eigenen ausdrücklichen Wunsch - eine Vielzahl der mit ihm korrespondierenden Leserinnen und Leser präsentierte, insgesamt rund fünfhundert. Die Edition reproduziert die Bilder, teilt die dazu gehörigen Beschriftungen und die von Karl und Klara angebrachten Notizen mit und vermittelt insofern einen hervorragenden Eindruck von dieser »als Sozialphysiognomie einer versunkenen Epoche faszinierende(n) Sammlung« (Editorischer Bericht, S. 1011) - dies um so mehr, als die Qualität der Bildreproduktionen exzellent ist. Zu den weiteren Vorzügen der Veröffentlichung gehören Register der abgebildeten Leser, der angegebenen Berufe und Titel - wobei man unter anderem einen »Weltradfahrer« (S. 1027) entdeckt -, der Photographen und der mitgeteilten Orte. Der abschließende Editorische Bericht informiert nicht nur über das Leseralbum, seine Geschichte und Beschaffenheit, sondern weitet sich zu einer eigenen Darstellung der Beziehungen Mays zu seinen Lesern.
Hier wird also - erstmals in dieser Ausgabe, wenn ich es recht sehe - umfangreiches Material dargeboten, das bisher praktisch unzugänglich war, und da dies auch noch in überragender technischer Qualität geschieht, ist mit Fug und Recht von einem Höhepunkt der historisch-kritischen May-Ausgabe zu reden. Andererseits wird man des Werkes insofern nicht uneingeschränkt froh, als die Erläuterungen zu den Bildern bzw. den abgebildeten Personen nicht eben üppig ausfallen. Sie füllen lediglich sechs Seiten (S. 1013-18), indem sie Namen verzeichnen, die im Originaldokument feh-
len, und kurze Zusatzinformationen bieten (»Ferdinand Willibald Schöne; genannt Willy, Karl Mays Neffe« [S. 1013]), darunter auch die Übersetzung eines estnischen Textes und bibliographische Angaben zu Publikationen, die im Original nur verkürzt genannt werden. Daß zu vielen Personen Informationen nicht vorliegen und vielleicht auch nicht mehr beschafft werden können, mag man verstehen (obwohl gerade diesbezüglich an eine historisch-kritische Ausgabe höchste Ansprüche gestellt werden müssen). Daß aber auch da, wo Informationen vorhanden sind, nur das Minimum geliefert wird, kann nicht zufriedenstellen: Wir erfahren zwar in aller Kürze (S. 1013), um welche Art von »Director« es sich bei »Director Bilz & Frau« (S. 422) handelt, nicht aber, was es mit »[...]d Dittrich / Militairschriftsteller« (S. 432) bzw. »Max Dittrich« (S. 1013) auf sich hat. Offensichtlich war es das Prinzip der Herausgeber, da, wo im Original Namen fehlen, die sich feststellen lassen, diese mitzuteilen und da, wo sich signifikant unvollständige Informationen des Originals ergänzen lassen, diese Ergänzungen zu bieten. Viel mehr aber taucht nicht auf, und so muß der Leser selbst darauf kommen, daß die May-Forschung über Personen wie Dittrich, Max Welte, Elisabeth und Carl Felber, Adolf Nunwarz usw. sogar erheblich mehr weiß als die bloßen Namen. Wer diese Bände loben will, kann es also mit guten Argumenten tun, aber nicht ganz falsch liegt auch, wer beanstandet, ob der relativ kargen Erläuterungen handle es sich eher um einen gediegenen Reprint statt um das Teilstück dessen, was eine historisch-kritische Ausgabe eigentlich zu sein hat.
2 Jeffrey L. Sammons: Ein Fall von fehlender Interregionalität: Die Abwesenheit des Amerikaschriftstellers Karl May in Amerika. In: Literatur und Regionalität. Hrsg. von Anselm Maler. Frankfurt a. M. 1997, S. 167-79
3 Ulrich Schmid: Verwischte Spuren im Griesle-Wildwest. Berthold Eugen liest Karl May. In: Der junge Brecht. Aspekte seines Denkens und Schaffens. Hrsg. von Helmut Gier/Jürgen Hillesheim. Würzburg 1996, S. 31-43
4 Doris Gröpper: Von Karl May bis Somerset Maugham. Das Bild Indonesiens in westlichen Romanen. In: Ethnologie und Literatur. Hrsg. von Thomas Hauschild. Bremen 1995, S. 181-94
5 Nina Berman: Orientalismus, Kolonialismus und Moderne. Zum Bild des Orients in der deutschsprachigen Kultur um 1900. Stuttgart 1996
6 Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870-1900. Von der Reichsgründung bis zur Jahrhundertwende. München 1998
7 Tassilo Schneider: Finding a new Heimat in the Wild West: Karl May and the German western of the 1960s. In: Journal of Film and Video. 47. Jg. (1995), S. 50-66
8 Laura Ippen: Weibliches Vergnügen an Indianergeschichten. In: Sündiger Genuß? Filmerfahrungen von Frauen. Hrsg. von Frigga Haug/Brigitte Hipfl. Hamburg 1995, S. 130-47
9 Tim Bergfelder: Im Wilden Orient. Die Karl May-Verfilmung Durch die Wüste (1935/36). In: Triviale Tropen. Exotische Reise- und Abenteuerfilme aus Deutschland 1919-1939. Hrsg. von Hans-Michael Bock u. a. München 1997, S. 184-88
10 Wolfgang Jacobsen/Heike Klapdor: Merhameh - Karl Mays schöne Spionin. Ein Dialog über die Autorin Marie Luise Droop. In: ebd., S. 124-41
11 Michael Petzel: Karl-May-Filmbuch. Stories und Bilder aus der Traumfabrik. Bamberg-Radebeul 1998
12 Karl-May-Haus-Information. Heft 11. Hrsg. vom Karl-May-Haus Hohenstein-Ernstthal (1998)
13 Karl-May-Autographika, Heft 5. Materialien aus dem Autographenarchiv der Karl-May-Gesellschaft. Hrsg. von Volker Griese. o. O. 1998
14 Joachim Biermann/Hartmut Kühne: Register zum Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1986-1995. Husum 1998
15 Rudolf K. Unbescheid: Ein Traum - Zwei Wege. Julius Springer, sein Verlag und Karl May. Materialien zur Karl-May-Forschung Bd. 20. Ubstadt 1998
16 Balduin Möllhausen: Palmblätter und Schneeflocken. Erzählungen aus dem fernen Westen. 2 Bände in einem Band. Ausgewählte Werke. Abt. I, Bd. 1 (Reprint der Ausgabe Leipzig 1863). Hrsg. von Andreas Graf. Hildesheim-Zürich-New York 1998
17 Karl May: Winnetou Band IV. In: Lueginsland. Beilage zur Augsburger Postzeitung (1909/10); Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 21998
18 Karl May's Gesammelte Werke Bd. 80: Auf der See gefangen. Bamberg-Radebeul 1998
19 Carolus May: Vinnetu. Tomus Tertius. Bamberg-Radebeul 1998
20 Karl May: Winnetou I. Gelesen von Stefan Wigger. 4 Doppelpacks mit 7 MCs. Bamberg-Radebeul 1998
21 Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. II Bd. 5-7: Waldröschen. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger (ab Bd. 7: Hermann Wiedenroth). Bargfeld 1997 (Bd. 5) und 1998 (Bd. 6 und 7)
22 Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. VIII Bd. 6.1 und 6.2: Leseralbum. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger unter Mitarbeit von Volker Griese und Hans Grunert. Bargfeld 1997 und 1998
1 Lorenza Rega: Karl May als imaginärer Reisender. In: Prospero. 3. Jg. (1996), S. 49-61
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