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Karl und Klara May:

Briefwechsel mit Adele und Willy Einsle*

Solang ich lebe, nur zu borgen.
Die Briefe Dir bin ich imstand.
In meiner Jugend stillem Morgen
War'n sie mir Leitstern in ein Land
Der innern geistigen Befreiung –
dem Schreiber dank' ich dieses Glück
In immerwährender Erneuung
Zu finden zu mir selbst zurück.
So mögst Du sie in Ehren halten
Und lieb' den Schreiber, wie ich tat!
Dann wird zur Freiheit sich gestalten
Auch Deines Geistes Zukunftspfad.

   Meinem lieben Hartmut zur
   Konfirmation am 22. III. 1959
      Dein Großvater.



Emma May an Adele Einsle · 15.7.1902

Hochgeehrte gnädige Frau!

   Soeben erst öffne ich ihren lieben Brief und danke ich Ihnen für Ihre freundliche Gesinnung. Mein Mann ist Gott sei Dank gesund, er arbeitet am Schluß zum »Im Reiche des silb. Löwen«. Donnerstag geht es für einige Zeit auf die Reise, Ihr lieber Besuch deshalb jetzt unmöglich. Vielleicht kommen wir aber (in 6 Wochen) nach München. Wir wohnen in Leinfelder, mein Mann liebt aber nicht erkannt zu werden und schreibt sich unter seinen beiden Vornamen ein (»Dr. Karl Friedrich«) Ihr Sohn mag darauf achten und ihm event. einen Besuch machen.

Mit bestem Gruß Ihre ergebene Emma May.

* Redaktionelle Notiz:

Die Briefe Karl und Klara Mays wurden von Ulrike Müller-Haarmann und Gerhard Haarmann übertragen, die Briefe Adele und Willy Einsles transskribierten Annelotte Pielenz und Irene Frankenstein, denen dafür herzlich zu danken ist. Die Redaktion der Texte und die Kommentierung besorgte Ulrich Schmid; Frau Dr. Gertrud Mehringer-Einsle, München, trug dazu dankenswerterweise zahlreiche erläuternde Hinweise bei. Das vorliegende Jahrbuch bietet die vollständige Korrespondenz von 1902 bis zum 31. 12. 1908, soweit sie erhalten ist; der zweite Teil, von 1909 bis 1912, folgt im nächsten Jahrbuch. Leider ist der Schriftwechsel nur unvollständig überliefert, immer wieder finden sich Hinweise auf nicht erhaltene Schreiben, die sich auch nur teilweise rekonstruieren lassen. Orthographie und Interpunktionseigenheiten in den Briefen von Willy und Adele Einsle bleiben unkommentiert.


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Bildkarte: Bild Karl Mays – Poststempel: Dresden 15.7.1902

Anschrift: An Hochwohlgeboren Frau Oberamtsrichter Einsle, München, Pilotystr. Nr. 4II

Das Bild auf der Vorderseite der Postkarte zeigt Karl May um 1896 (siehe Frontispiz Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1974, Hamburg 1973).

Am 21.7.1902 verreist May mit Emma und Klara. Man bleibt 14 Tage in Berlin, 14 Tage in Hamburg, 3 Tage in Leipzig und kommt dann für 6 Tage nach München (vgl. Hans Wollschläger: Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens. Zürich 1976, S. 120). Nach dieser Reise, die von München aus nach Bozen und zur Mendel hinaufführt, reicht May die Scheidung von seiner Frau Emma ein.

Der Brief ist von Klara geschrieben und mit »Emma May« unterzeichnet; vgl. Emmas Handschrift-Faksimile bei Fritz Maschke: Karl May und Emma Pollmer. Bamberg 1973, S. 216, und Klaras Unterschrift als »Emma May« in Jb-KMG 1983. Husum 1983, S. 80.

Leinfelder: Münchner Hotel, in dem May bei seinem Aufenthalt wohnte

Widmungsgedicht: Willy Einsle bewahrte Karl Mays Brief vom 23.3.1905 in einer eigens gefertigten Mappe auf, auf deren Umschlaginnenseite er 1959 dieses von ihm für seinen Enkel Hartmut Mehringer geschriebene Gedicht einklebte.


Adele Einsle an Karl May · 3.12.1902

München den 3. Dez. 1902
Pilotystraße 4/2

Sehr verehrter Herr Doktor!

   Wieder einmal Ihr Plaggeist aus München der sich ganz gewiß ernstlich besonnen hat: ist Schreiben statthaft oder nicht, und der hofft, daß seine Anliegen diese Zeilen rechtfertigen! Wir können hier »Et in terra pax« nicht auftreiben und möchten es doch bis Weihnachten haben. Der Buchhändler sagt es sei als Buch nicht erschienen, und ich erinnere mich wohl daß Herr Doktor eine Zeitschrift nannten die es gebracht, weiß aber leider deren Namen nimmer. Bitte, seien Sie so gütig uns mitzuteilen unter welchem Titel und in welchem Verlage obiges Werk erhältlich ist, ebenso wo man Ihr Ave Maria oder dieses und Vergißmeinnicht zusammen unter dem Titel »Ernste Klänge« bekommt. Meine Musikalienhandlung fahndete in meinem Auftrag schon über Jahr und Tag danach und behauptet ihrerseits es könne in keinem Musikalienver*-verlag herausgekommen sein. Ist das so, oder sind blos die Leute hier alle so unfindig. Jetzt noch die größte Bitte. Welcher Fotograf oder welche Dresdner Kunsthandlung würde mir, per Nachnahme natürlich, eine Fotografie von Herrn Doktor zuschicken, ganz so, oder doch ähnlich wie die auf der Postkarte welche ich


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im Sommer bekam? – Aber ich bitte herzlichst daß selbe vor dem Absenden zu Ihnen kommen darf behufs Namensunterschrift. Ich möchte sie meinem Jungen zu Weihnachten einrahmen lassen, da ich weiß daß dies mit Ihren Büchern sein liebstes Geschenk wäre. Die Karte vom Sommer ist deßhalb nicht dazu verwendbar, weil direkt beim Bild, an mich, darauf geschrieben ist. Vielleicht ist Ihre Frau Schwester so lieb und gibt mir Antwort, damit Herr Doktor nicht so viel Mühe haben.

   Weil ich nun doch im Briefschreiben bin, darf ich wohl anfügen wie oft wir von Ihrem und Frau Plöhn's gütigem Besuche sprechen und wie sehr mein Mann bedauert nicht dabei gewesen zu sein. Wir hoffen wirklich daß es nicht das erste und letztemal zugleich war und sollten Sie es ein andermal schon anders finden. Wenn Herr Doktor wüßten wie verkehrt und vertalkt damals alles ging durch meine nervöse, confuse Küchenfee und allerlei sonstige Zufälligkeiten. Sie würden riesig lachen, obwohl ich zuerst lieber darüber geweint hätte! Ich höre jetzt im Geiste freilich wieder Sie sagen: »Nur eines ist Not« – aber sehen Sie, ein bischen »Martha« muß halt doch jede Hausfrau sein. Dafür bin ich bei Ihren Büchern ganz »Maria«! Sollte uns Großen aber wirklich einmal etwas nicht sofort klar sein, Sie glauben nicht welchen Interpreten Sie, trotz seiner Jugend, an Willi haben, – der ist überhaupt Ihr Geschöpf und macht Ihnen keine Schande. Er möchte schon lange von der Erlaubniß Ihnen schreiben zu dürfen Gebrauch machen, aber Hausaufgaben, Extemporalen und Skriptionen regnets eben, so muß er noch ein wenig warten.

   Vielleicht interessiert es Herrn Doktor daß Herr Oberamtsrichter Stauffer, der uns vor Jahren zuerst auf »Carl May« aufmerksam machte, mir neulich das Bekenntnis ablegte daß er es nur Ihren Schriften verdanke in entsetzlicher familiärer Lage nicht selbst wahnsinnig geworden zu sein. Er ist lungenleidend und hatte jahrelang seine irrsinnige Schwester mit vier Kindern bei sich ehe sie in eine Anstalt kam. Er hat schon 24 Ihrer Reisebände und kam er mir unlängst auch wirklich gar nicht mehr so atheistisch vor.

   Am meisten freut mich aber daß es mir gelang meinen Vetter, einen von der gefürchteten Sorte der Gymnasialrektoren, so von dem Werte Ihrer Schriften zu überzeugen, daß er versprach selbe für die Oberklassen in seine Schülerbibliothek aufzunehmen.

   Vergeben Herr Doktor daß ich so »lange« war. Mich tröstet daß Frau Plöhn die Briefe öffnet und wenn sie so gütig sein will mir die erbetene Auskunft zu geben, kann sie Herrn Doktor ja meinen langen Brief recht kurz zusammenfassen: Wir denken Ihrer, lesen, verehren und


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grüßen Sie! Ebenso aber unser aller ergebenste Grüße Frau Plöhn selbst und unbekannterweise an Frau Doktor.

Hochachtungsvollst
Adele Einsle

* doppelt bei neuem Seitenbeginn

Frau Schwester: Klara Plöhn war bei Einsles als Mays Schwester eingeführt worden (vgl. die Briefe vom 17.4. und 19.4.1905).

gütigem Besuche: Der Besuch Karl Mays und Klara Plöhns bei der Familie Einsle fand wahrscheinlich am 27.8.1902 statt; dieses Datum trägt Mays Widmung in Willys Exemplar der »Himmelsgedanken«:

         Such nicht nach Worten, wie die Leser meist;
         Such nach der Seele, und such nach dem Geist
         Und hast Du beide Hand in Hand gefunden
         So ist das Wort für immer überwunden.
         München 27./8.2         K. May

vertalkt: Dialektausdruck, von »dalkert« (tapsig)

Martha/Maria: Anspielung auf den Besuch Jesu bei den Schwestern Maria und Martha (Lukas 10, 38–42), wo Jesus Martha tadelt, weil sie sich nur der Hausarbeit widmet, während Maria ihm zuhört.

Extemporalien, Skriptionen: schriftliche Prüfungsarbeiten im Gymnasium

Oberamtsrichter Stauffer: Hans Stauffer war ein Bundesbruder aus Julius Einsles Studentenverbindung und lebenslanger jüngerer Freund der Familie. Julius E. hatte den examensscheuen und verbummelten Studenten kurzerhand bei sich aufgenommen, ihn regelrecht eingesperrt und mit ihm Jura gepaukt, bis er sich dem Examen stellte. Das trug der Familie auch die herzliche Dankbarkeit von Stauffers Frau Rosl ein. Er hat sich jahrelang dem wesentlich jüngeren Willy Einsle gewidmet und dürfte auch bei Mays Besuchen z. T. anwesend gewesen sein.


Karl May an Adele Einsle · 21. 12. 1902

Radebeul, Dresden, 21./12.2

Hochgeehrte Frau Oberamtsrichter!

   Soeben komme ich aus Italien heim. Frau Plöhn bringt mir Berge von Briefen. Der Ihrige natürlich obenauf! Ich antworte sofort – leider nur ganz kurz. Reisestiefel und Zeitmangel entschuldigen ja wohl!

   »Ernste Klänge« kosten 1 Mark. Zu beziehen bei meinem Verleger Fehsenfeld in Freiburg, Breisgau. Das sollten die Herren Sortimenter doch wohl wissen! Es ist ihnen aber lieber, die »Berliner Range« zu verkaufen!

   Photographien lasse ich nicht mehr verbreiten. Es wurde zu viel Unfug damit getrieben, und die Vorwürfe wurden dann natürlich nur mir


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gemacht. Aber ich habe noch eine alte da, die einzige, allerletzte. Die wollte ich für mich behalten, um doch auch zu wissen, wie ich ausschau. Aber ich sende sie Ihnen. Wenn ich mich sehen will, kaufe ich mir einen Spiegel!

   Wir sind Ihnen noch so unendlich dankbar für Ihre liebe Gastfreundlichkeit. Gott segne Sie und Alle, die bei Ihnen sind! Frau Plöhn läßt herzlichst grüßen!

   »Et in terra pax« ist jetzt zu theuer – – 25 Mark. Weihnacht 1903 nur 4 Mark. Aber soeben erscheinen die ersten Hefte von Band IV »Im Reiche des silbernen Löwen«. Wenn Sie diese Heftchen kaufen wollten! à 30 Pfennige.

   Dieser Band ist hochinteressant, weil er meine einzige Antwort an meine Feinde enthält! Weiter existiren sie nicht für mich!

   Was Sie mir von H. Oberamtsrichter Stauffer und dem H. Gymnasialrektor sagen, macht mir Freude. Bitte, mich diesen Herren zu empfehlen, falls Sie wieder mit Ihnen sprechen.

   Daß man meine Werke aus verschiedenen Schulbibliotheken gestrichen hat, ist keine Blamage für mich, sondern für Die, welche dies gethan haben. Grad hierüber bekomme ich hunderte von Briefen aus Bayern. Jeder verständige Mann weiß, daß die sogenannte »Mayhetze« nicht gegen mich, sondern gegen den »reinen Christusglauben« gerichtet ist, den ich lehre. Wer sich an ihr betheiligt, richtet nicht mich, sondern sich selbst!

   Uebrigens ist das nur ein vorübergehender Sport geistig und geistlich unmündiger »Tramps«, die sich ganz so im Schmutze verlaufen werden, wie sie aus dem Schmutze aufgetaucht sind und sich in ihm wälzen. Sie sind mir der beste Beweis, daß ich mich auf dem richtigen Wege befinde. Weiter aber gehen sie mich nichts an! »Dies irae, dies illa«!

   Indem ich Ihnen herzlichst für Ihre guten Zeilen danke, bitte ich, mich dem H. Gemahl zu empfehlen, den H. Sohn zu grüßen und bin, hochgeehrte Frau Oberamtsrichter,

         in aufrichtigster Hochachtung
            stets
               Ihr
               ergebener
                  May

Karl May und Klara May reisten am 8.10.1902 ab, über Linz, Salzburg, Bozen erreichten sie am 14.10. Riva am Gardasee. Sie blieben bis zum 15.12.1902 (vgl. Wollschläger, a. a. O. , S. 122).

»Berliner Range«: Erfolgsroman der Jahrhundertwende

Photographien: Vgl. J. Mittermayer: Ein Schriftsteller und sein Fotograf. In: Karl-May-Jahrbuch 1978. Bamberg/Braunschweig 1978, S. 111–133.


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»Et in terra pax«: May hoffte offenbar, die Umarbeitung des Romans für die Buchausgabe bis Weihnachten 1903 abgeschlossen zu haben; tatsächlich erschien der Band »Und Friede auf Erden« im September 1904.

Schulbibliotheken: Laut einer Meldung im Bayerischen Kourier vom 31.5.1899 waren Mays Werke aus den Schulbibliotheken der bayerischen Mittelschulen verbannt (vgl. Bernhard Kosciuszko: Im Zentrum der May-Hetze. Die Kölnische Volkszeitung. Materialien zur Karl-May-Forschung Bd. 10. Ubstadt 1985, S. 77).

»Dies irae ...«: Anfangszeile der berühmten Sequenz aus der Totenliturgie der katholischen Kirche, dem Requiem (Übers. : »Tag des Zornes, an dem alles zu Asche zerfällt«).


Adele Einsle an Karl May · 29.12.1902

München d. 29/12. 1902

Sehr verehrter Herr Doktor!

   Was Willy Ihnen alles geschrieben und anvertraut hat weiß ich nicht, jedenfalls aber hat er seiner himmelhochjauchzenden Freude wie seinem Danke Ausdruck gegeben, und dabei möchten auch mein Mann und ich nicht fehlen. Wir waren schon auf ein etwas trübseliges Weihnachten gefaßt, es ist bitter wenn man ganz und gar nicht sparen will, und doch die liebsten Wünsche seines Kindes nicht erfüllen kann, das aber schien uns so zu werden. Die sehr bestimmte Nachricht der Augsburger Abendzeitung, Carl May habe seinen Landsitz bei Dresden verkauft und sei mit Familie dauernd nach Amerika übergesiedelt, gewann [?] an Wahrscheinlichkeit. Wir fürchteten es sei Ihnen am Ende der boshaften Gehässigkeit und Undankbarkeit herüben zu viel geworden. Ich versuchte durch Fehsenfeld etwa Auskunft zu erhalten und sicherte uns damit wirklich »Ave Maria« und »Et in terra pax«. Kürschner's wirklich schönes Werk »China« war gekauft ehe Ihr lieber Brief ankam. Ahnen Sie wie glücklich ich war als ich Schrift und Poststempel sah? – Und welcher Jubel brach erst am Abend aus! Es war Weihnachten geworden bei uns – durch Sie Herr Doktor, durch und mit Carl May! Da Willy's Reichtümer entschieden uns mitgehören, so lassen wir ihm ungeschmälert das Vergnügen des Besitztitel's Ihrer Bücher und Ihres Bildes, das wir ja trotzdem mit derselben Freude stehen sehen wie er. Aber – Ihre gütigen Zeilen waren an mich, und ich bin so stolz darauf als ich mich dieser Ehre unwert fühle. Ich finde auch kein Wort das meiner unbegrenzten Dankbarkeit und Verehrung entspräche. So bleibt nichts als der fromme Wunsch: Vergelt es Gott!

   Um denen die wir lieben und verehren Glück zu wünschen ist gerade


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jetzt wieder die Zeit gekommen. So bitten wir, Sie möchten für sich und all' Ihre Lieben nicht nur zum Jahreswechsel, sondern für allezeit unsere herzlichsten Glück und Segenswünsche entgegennehmen, zugleich mit vielen, vielen Grüßen. Die von Herrn Doktor werde ich den Adressaten übermitteln. Der vierte Band von: Im Reiche des silbernen Löwen« wird natürlich sofort bestellt. Für »Berliner Range« und derartige sogenannte literarische Erzeugniße fehlt bei uns jedes Interesse. Ich muß gestehen daß wir das gerade jetzt so gefeierte Buch: »Jörn Uhl« lasen und es nicht kaufen mochten. Trotz der gewiß lebendigen Schilderung stieß uns vieles darin ab.

   Doch genug – sonst könnte ich endlos so weiterplaudern. Nochmals tausend Grüße allseits, besonders auch der guten Frau Plöhn.

In steter Verehrung und Dankbarkeit
Adele Einsle

[Links unten auf S. 4 Vermerk Karl Mays: beantw. ]

»Jörn Uhl«: 1901 erschienener Erfolgsroman von Gustav Frenssen (1863–1945)


Willy Einsle an Karl May 29.12.1902

München, den 29/XII. 1902

Lieber, lieber Herr Doktor!

Sie können sich wohl kaum meine Freude vorstellen, als ich am Weihnachtstische Ihren Brief und Ihr liebes Geschenk, Ihre Photographie, liegen sah. Ich danke Ihnen halt recht herzlich. So viel möchte ich Ihnen sagen, doch wo anfangen? Allein vor allem meinen innigsten Dank für Ihren lieben Besuch im Herbste. Wielange habe ich mich schon darnach gesehnt, sie nur einmal persönlich, nicht nur vor meinen geistigen Augen, zu sehen. Noch ist mir jedes Ihrer Worte in Erinnerung. Daß ich täglich oft in Gedanken bei Ihnen verweile, brauche ich wohl nicht erst zu versichern. Wie herrlich sind die Zeilen, die Sie mir in »Himmelsgedanken« schrieben. Könnte ich sie doch laut in alle Welt hinausrufen, denn sie sind der Schlüssel zum Begreifen oder wenigstens zum Ahnen Ihrer Werke.

   Wann werde ich Ihnen je alles vergelten können! Sie erst lehrten und lehren mich meine Seele kennen. Wenn ich in ihre »Himmelsgedanken« vertieft bin, so komme ich mir wie in einer andern, nie geahnten und doch so heiß ersehnten Sphäre vor.

   Welch herrliche, nieempfundene und doch wieder so liebe, vertraute


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Gedanken sind in »Im Reiche d. s. Löwen«, III. Bd. enthalten. Auch ich fühle jenen tiefen Graben noch vor mir, der mich vom friedlichen Duar der Dschamikun trennt, wo allein mir völlige Genesung wird.

   Wenn ich so nachts vor dem Einschlafen über Sie und Ihre Worte nachdenken kann, da bin ich am glücklichsten und möchte mit niemand tauschen. Es muß der Sternennacht ein besonderer Zauber eigen sein, da überkommen mich so eigene, herrliche Gedanken, mir ist es da oft, als wäre ich hoch droben bei den lieben Sternen, fern von dieser Welt. Eine noch größere Anziehungskraft als das Wasser besitzen für mich die Sterne, die »Augen Gottes«. Meine heiligste Aufgabe soll dereinst sein, die hehre Liebe, die aus Ihren Schriften strahlt, weiter zu geben und so möglichst viele ebenso glücklich zu machen, wie Ihre Werke mich gemacht. Soeben lese ich Ihr »Et in terra pax«, und wage mich an Ihre »Ernsten Klänge«. Wie oft schwebten mir unklare Gedanken vor, die ich dann in Ihren Büchern, besonders in »Et in terra pax« so klar und deutlich ausgedrückt und bewahrheitet fand. Bitte verzeihen Sie, daß ich Sie solange aufhalte, aber ich hab Sie halt lieb! Üben Sie, bitte, auch Nachsicht bei etwaigen stilistischen und sonstigen Fehlern! Ich kanns halt nicht so gut wie Mama und hab ihr den Brief auch nicht zur Korrektur gegeben.

   Zum Schlusse wünsche ich Ihnen noch ein recht recht fröhliches, neues Jahr. Erlaube mir auch Ihrer Frau Schwester und Frau Doktor ein recht glückliches, neues Jahr zu wünschen. Ich weiß ja, daß ich Frau Plöhn Ihren lieben Besuch und Ihren freundlichen Brief verdanke.

   Hoffentlich geht mein glühendster Herzenswunsch in Erfüllung, Sie noch einmal, wenn auch nur von ferne zu sehen. Es geht mir da wie dem, der einmal die grünen Savannen oder das glitzernde Meer erblickt hat. Mein zweiter Wunsch ist, nur einmal einen tropischen Sternenhimmel, oder einen in der Sahara, den sie in »Am Jenseits« so herrlich schildern, zu schauen. Die Feder, die Sie bei uns benützten, läßt mir Mama vergolden, damit ich sie an der Uhrkette tragen kann. Wenn Sie nur in Ihrem Briefe das »Herr« und »Sie« weggelassen hätten, unser Religionsprofessor sagt ja auch bis in die Oberklasse hinauf »Du« zu uns. Ich danke Ihnen halt nochmals für alles.

   Somit verbleibe ich in steter Dankbarkeit
      Ihr
         Willi Einsle
   der Sie lieb hat und immer für Sie und die Ihrigen beten will.

»Tragt euer Evangelium hinaus,
Um aller Welt des Himmels Gruß zu bieten,
Doch achtet jedes andre Gotteshaus;
Ein wahrer Christ stört nicht den Völkerfrieden.«


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Das will ich immer beherzigen.

   Nun muß ich aber den Brief noch einmal öffnen, denn: ich hab's gefunden, und zwar in »Et in terra pax«, nämlich das über die geistige Verdauung des Menschen. Darüber war ich mir vorher noch unklar und wollte erst noch nachdenken. Welch große, innere Befriedigung gewährte es mir immer, wenn ich nach langem, langem Nachdenken, gleichsam geistigem Verdauen irgend eine religiöse Wahrheit oder etwas über das Seelenleben so klar und geläutert vor mir habe.

   Und doch, wenn ich so in Ihrem »Et in terra pax« lese, ich war ein Thor, da ich mich vermaß, Ihre Schriften zu begreifen, es war schlecht von mir, aber ich werde bestraft dafür, indem ich die große, breite Kluft erkenne, eben jenen Spalt in »Im R. d. s. L.« III. Bd, die mich von Ihnen, von jenem reinen Christusglauben trennt. Lieber Herr Doktor, wenn Sie nur in meiner Seele lesen könnten. »Himmelhochjauchzend, bis zum Tode betrübt!« Bisher betrachtete ich alles nur als Spielerei, ein bischen auf geistigem Gebiete nachdenken, das gefiel mir. Aber jetzt soll es anders werden, gewiß! Möchte mich doch Ihre Photographie, die vor mir auf dem Schreibtische steht, vor einem Rückfalle bewahren. Verzeihen Sie mir nur den vorderen Teil des Briefes, der mir jetzt sehr vermessen vorkommt. Ich möchte gern noch so viel schreiben, aber ich habe Sie schon lange genug aufgehalten, und Mamma schickt mich zu Bette.

   Gute, gute Nacht!

Der liebe Gott wird Ihnen sicher alles vergelten, weil ich es nicht vermag.

»Himmelsgedanken«: Vgl. Anmerkung zum Brief vom 3.12.1902.

»Tragt Euer Evangelium ...«: zentrales Gedicht in Mays Roman »Et in terra pax«

R. d. s. L. : Im Reiche des silbernen Löwen


Klara May an Adele Einsle · 10.1.1903

Radebeul, d. 10.1.03

Hochverehrte, liebe Frau Oberamtsrichter!

   Sie haben dem guten Doctor eine sehr große Freude bereitet mit Ihrem sinnigen Blumengruß. Noch mehr aber Ihr Herr Sohn mit seinem, Ihnen leider unbekannt gebliebenen Brief. Der junge Mann ist weit über seine Jahre hinaus gereift, und wird Ihnen einst große Freude bereiten. Er ist ein seltener Mensch, ein tiefes Gemüt, eine Seele. Wir


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wünschten, wir könnten ihn in unserer Nähe haben, um die Regungen seiner Seele beobachten zu können. –

   Das neue Jahr hat eine Sturmflut von Arbeiten über unseren lieben Doctor geschüttet, daß er nicht einmal dazu kommt, den ihm liebsten Menschen schreiben zu können. Sie und sein junger Freund sollten mit die Ersten sein denen er antwortet. Nun kommt morgen noch eine Reise dazwischen die der Doctor antritt, da wird es wieder mit dem Dank für Sie nichts, deshalb erlaube ich mir Ihnen einstweilen herzlichen Dank zu sagen.

   Sie sind jetzt in den Kreis seiner ihm am nächsten stehenden Freunde getreten und werden nie mehr von ihm vergessen sein, wenn der gute, überlastete Mann, Ihnen auch nicht gleich jeden Ihrer lieben Briefe beantworten kann.

   Empfehlen Sie mich, bitte, Ihrem Herrn Gemahl, grüßen Sie Ihren lieben Sohn und empfangen Sie, hochverehrte Frau, herzlichsten Dank und Gruß von

Ihrer ergebenen
C. Plöhn

[Nachsatz von Karl May]:
Willy grüße ich heut oder morgen selbst.


Karl May an Adele Einsle · 20.1.1903

Radebeul, d. 20./1.03

Hochgeehrte Frau Oberamtsrichter!

   Brief- und Kartenmassen zu beantworten. Dann eine plötzliche Tour nach Nordwestdeutschland, von der ich soeben heimkehre! Das die Gründe meines Schweigens. Gleichgültigen Menschen antwortet man sofort und kurz. Die Andern muß man leider warten lassen, bis der kargen Zeit ein etwas längeres Schreiben abzuringen ist. Ich hoffe, Sie verzeihen!

   Haben Sie vielleicht geahnt, was Blumen für mich sind? Ahnen können Sie es, denn in Ihnen lebt eine liebe, liebe Himmelsblumen-Seele, die auf den köstlichen Gedanken kam, mir duftende Erdenschwestern zuzusenden. Und Blumendüfte sind für die Seele mehr, viel mehr, als Mancher glaubt.

   Ich mag nie ohne Blumen sein, selbst auch im strengsten Winter. Ich fühle, daß mein Herz mit ihnen duftet.

   Ebenso Frau Plöhn, die ich so sehr, so sehr lieb habe, weil sie nichts,


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gar nichts weiter als auch nur Blume und auch nur Seele ist. Gott segne Alle, Alle, die das sind! Für Frau Plöhn würde mir kein Geschenk zu kostbar und zu theuer sein, und doch brachte ich ihr zur Weihnacht nur Blumen und nur Blumen! Ich sage Ihnen das, damit sie erfahren, daß Sie das allein Richtige trafen, als Sie das Gleiche, mich zu erfreuen, wählten. Die Ihrigen haben vor mir auf Fenster und Schreibtisch gestanden und mir gesagt, daß ich mich nicht in Ihnen täuschte, als ich Sie für eine Dame hielt, die ich bitten möchte, sie liebbehalten zu dürfen!

   Das Leben ist niemals zart mit mir umgegangen. Die Gegenwart noch viel weniger. Ich habe keinen andern Sonnenschein gehabt, als nur den, der mir vom Himmel in mir kam. An diesem aber bin ich reich, unendlich reich! In diesem duftet eine Blüthenwelt, gegen welche alle Schätze der Erde für mich wie nicht vorhanden sind. Könnte ich Ihnen doch von diesem Sonnenschein und von diesen Blüthen senden; wie gern würde ich es thun! Vielleicht wird dies geschehen, indem Sie meine nächsten Bände lesen und dabei fühlen, daß ich, indem ich schrieb, an warmen, sonnenhellen Stellen an Sie dachte.

   Mit herzlichem Gruß, auch an Ihren hochgeehrten Herrn Gemahl

               Ihr
                  ergebener
                  May


Karl May an Willy Einsle · 21.1.1903

Radebeul, d. 21./1.3

Mein lieber Willy.

   Mein heutiger Brief ist unendlich wichtig für Sie. Sie verstehen mich noch nicht, aber Sie ahnen mich. Ich komme dieser Ahnung zu Hülfe.

   Sie glauben, daß ich Sie Ihre Seele kennen lehre. Grad das hat eben diese Ihre Seele Ihnen gesagt! Die Seele, die ihre Heimath nicht in Ihrem Körper hat! Ich sage Ihnen ein Geheimniß, welches erst spätere Zeiten lösen werden. Es lautet: May schreibt etwas ganz Anderes, als man denkt. Daher die Angriffe derer, die ihn nicht begreifen. Einst wird man ihn verstehen. Seine Reiseerzählungen spielen zu gleicher Zeit in fremden irdischen und in fremden überirdischen Ländern. Er zeigt, daß Alles, was in Raum und Zeit geschieht, der körperliche Widerhall dessen ist, was in geistigen Welten vor sich geht.

   Die Menschheit ist um die Kenntniß Ihrer Seele gebracht worden. Durch wen, das ist für Sie jetzt Nebensache. Keine Wissenschaft und


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keine Gelehrsamkeit kann Ihnen nun heut zu Tage sagen, wer, was, wie und wo Ihre Seele ist. Diese Unkenntniß ist von den allerschwersten Folgen. Aus ihr erwächst das ganze Erdenleid, aus welchem wir empor nach der Erlösung schreien. Wer seine Seele erkennt, dem reicht sie ihre Hand und zieht ihn aus dem Leid empor!

   Nun bitte, sehen Sie sich einmal darauf hin meine Bücher genauer an!

   Karl May schreibt Reiseerzählungen. Das ist ein Faktum, eine irdische Realität. Er lehrt seine Leser fremde Länder und Völker kennen und theilt dabei eine Menge intellectueller Gaben aus, welche erst die Zukunft summiren wird. Aber auf seinen Reisen begleitet ihn ein Unsichtbares. Und wenn er dann daheim zur Feder greift, so ist auch dieses Unsichtbare da, um auf diese Feder einzuwirken. Während er mit sichtbaren Buchstaben physische Personen und Thatsachen schildert, legt jenes Unsichtbare in alle seine Worte eine höhere Bedeutung und einen tiefern Sinn. Was May beschreibt, bezieht sich auf die greifbare Körperwelt. Der Sinn aber und die Bedeutung offenbaren ganz andere Gebiete. Nur die Blindheit, die das nicht sieht, kann seine Feindin werden. Daher sein Mitleid und sein Schweigen!

   Bitte, mein lieber, junger Freund, nehmen Sie den dritten Band des »Silberlöwen« her, damit ich Ihnen einige Winke gebe!

   Ein Aufwärtsritt von Basra nach den kurdischen Bergen. Basra Sumpf, Ansteckung. Auf den Bergen Reinheit, Genesung. Lesen Sie aufmerksam, so finden Sie, daß dieser Ritt nicht nur aus dem geographischen, sondern auch aus dem geistigen Sumpfe zur Genesung aufwärts führt. Wir werden bessere, edlere, höherdenkende Menschen. Und Alles, was leiblich vorhanden ist, ist auch geistig zu betrachten. Und was die Körper thun, vollzieht sich ganz genau auch ebenso auf unsichtbaren Gebieten. Wer sind die metaphysischen Dschamikun, dieMassaban ...? Wer ist der Ustad, der Pedehr, der Mirza, der Bluträcher, der Tifl, die Pekala ...? Wer sind unsere Pferde alle, welche wettzurennen haben, und welches muß in Folge dessen siegen? Was hat das Beit-y-Chodeh, das Riesenmauerwerk, das Alabasterzelt zu bedeuten? Verlegen Sie das Alles einmal nach Deutschland her, in unsere geistige Welt! Mehr will ich Ihnen heut nicht sagen.

   Vielleicht ahnen Sie nun, wie meine Bücher gelesen werden müssen, die keinesweges für »Jungens geschrieben sind«, wie meine Feinde behaupten!

   Und jenes Unsichtbare, welches mit mir schreibt? Ist meine Seele! Ich hoffe, sie wird von der Ihrigen wohl nach und nach verstanden werden! Sie kennen diese Ihre Seele nicht, werden Sie aber an dem Augenblicke


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entdeckt haben, an dem Sie mich begreifen. Gott führe Sie zur Klarheit. Nur er allein kann es!

               Mit herzlichem Gruße
                  Ihr
                     May


Adele Einsle an Klara May · 6.2.1903

München den 6./II. 1903

Verehrte gnädige Frau!

   Wenn ich auch Herrn Doktor nicht schon wieder stören möchte, so hoffe ich doch, gnädige Frau werden nicht zürnen ob der Bitte, einstweilen meinen und Willy's herzlichsten Dank für die beiden lieben Briefe vom 20. Jan. zu übermitteln. So glücklich ich über Herrn Doktors Güte bin, so bedrückt es mich unsagbar zu denken, der arme Vielgeplagte opfert auch für uns noch von seiner kostbaren Zeit, vielleicht gar ein Stückchen von der, die ihm zur Ruhe und Erholung dienen sollte. – Sie dürfen überzeugt sein, liebe gnädige Frau, daß wir trotz aller Verehrung für Herrn Doktor oder wahrscheinlich gerade deßhalb ihm damit nicht unbequem werden möchten, und es schon als eine Gunst betrachten wenn wir Herrn Doktor hie und da grüßen dürfen, sicherlich aber nicht verlangen oder erwarten daß jedes unserer Schreiben Erwiederung fände. Und wenn wir nie eine Zeile aus Villa Shatterhand sähen, so würden wir vielleicht auch nicht wagen weiter zu schreiben, aber jedenfalls doch ebenso oft an Sie und Herrn Doktor denken. Kämen Sie wieder einmal durch München, so wären wir freilich glückselig wenn wir Sie da sehen dürfen – nachdem ich von Herrn Doktor hörte, daß er Besuche lieber nicht empfängt, oder wenn sie so so* anständig sind bald wieder gehen zu wollen, sie zu seinem Schaden erst recht nicht fortläßt, wagen wir es ja gar nicht Sie in Dresden je aufsuchen zu wollen. – Mai oder Juni sollte ich zur Strafe oder künftiger Besserung eines ziemlich anhaltenden Muskelrheumatismus in ein einschlägiges Bad, vielleicht Wildbad im Schwarzwald. Wenn ich mich wirklich dazu entschließen kann Gatten und Sohn als Waisen zurückzulassen, so werde ich mir zur wirksameren Cur, Schwarzwälder Dorfgeschichten von C. M. beilegen, – etwas hilft dann sicher.

   Unartiger Weise komme ich erst jetzt mit dem Dank für Ihre liebenswürdigen Zeilen, die mir noch dazu die Befürchtung nahmen unsere Neujahrsgrüße möchten ob Nachläßigkeit der Blumenhandlung nicht angekommen sein, und Sie uns schließlich für recht undankbar halten.


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Ganz gegen meine Absicht hat, wie ich erst kürzlich erfuhr, meine der Geschäftsinhaberin angekündete Ungnade Ihnen noch eine Belästigung durch jene gebracht – bitte, entschuldigen Sie diesen Übereifer, mir ist er leid genug. Wenn Sie und Herr Doktor eine kleine Freude an den Blumen hatten, so haben sie ihren Zweck erfüllt; leider daß die armen Wintertreibhauspflanzen nicht so duften wie ihre Schwestern zur Sommerszeit.

   Heute bekamen wir die ersten zwei Lieferungen vom IV. Band des »Silbernen Löwen«. Willy erfährt vorerst nichts davon, er steckt schon wieder mitten in Skriptionen – und fiele es ihm sonst zu schwer seine Gedanken bei diesen zu behalten, – im großen und ganzen sind sie ja ohnehin immer in Radebeul. Er neigt ein wenig zu Grübelei und Träumen, seit ich ihm aber sagte er müsse beweisen daß ein richtiger May Leser seinem Ideal Ehre mache und erst recht ein tüchtiger Student sei, können sein Eifer und seine Noten wirklich erfreuen. Sein Weihnachtszeugniß hatte die Bemerkung: »Ein braver, fleißiger Schüler!« Wir wissen recht gut daß der Dank dafür allein Herrn Doktor gebührt.

   Ich werde nun aber schleunigst das Studium des vierten Löwenbandes beginnen, auch nochmal den Dritten nach den Anweisen von Herrn Doktor durchgehen; wir erhielten ihn erst wieder von Bekannten zurück die ihn geliehen hatten. Ob ich dann etwas, oder was ich etwa von den Dingen die zwischen Himmel und Erde schweben herausklugieren kann, werde ich dann mir erlauben Herrn Doktor zu berichten – darf ich? Müssen Sie glücklich sein das alles von ihm selbst zu hören, – einen solchen Bruder zu haben, der Sie so lieb hat – ich habe oder hatte bisher nur brüderlichen Egoismus kennen gelernt. – Aber meine ganze Weltanschauung ist überhaupt eine andere geworden seit ich May lese – doch darüber vielleicht ein andermal.

   Die herzlichsten Grüße von uns allen für Sie liebe gnädige Frau und Herrn Doktor anfügend bin ich stets

Ihre ergebenste
Adele Einsle

Ausnahmsweise eine der so sehr verpönten Nachschriften! Schon in Hut und Mantel bereit den Brief mit zur Post zu nehmen, reiße ich das Couvert nochmal auf! – Ich blätterte in den neuen Heftchen, dann las ich und es wurde über eine Stunde; ich mache mir gewaltsam ein Ende um den Brief fortzubringen. Das ist einfach großartig was da Herr Doktor schreibt, und wie er schreibt! Und er ist so gut und hilft vielfach selbst zur Lösung von Rätseln, mit denen sich unser schwacher Untertanenverstand vielleicht vergeblich abgemüht hätte! Vielen Dank und tausend Grüße!

AE.

* doppelt bei neuem Seitenbeginn


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Schwarzwälder Dorfgeschichten von C. M.: Karl Mays Sammlung erschien 1903 unter dem Titel »Erzgebirgische Dorfgeschichten«; berühmt als Muster der Gattung waren Berthold Auerbachs »Schwarzwälder Dorfgeschichten« (1843ff.).

schwacher Untertanenverstand: geflügeltes Wort im 19. Jahrhundert, das aus der Antwort eines preußischen Ministers von 1837 auf eine Eingabe stammte, der »Unterthan« dürfe nicht »an die Handlungen des Staatsoberhauptes den Maßstab seiner beschränkten Einsicht« anlegen.


Adele Einsle an Karl May · 28.5.1903

München den 28. Mai 1903
Pilotystraße 4/2

Lieber, verehrter Herr Doktor!

   Erlauben Sie daß auch ich Sie so anspreche wie mein Junge? In meinem Alter darf ich wohl auch einmal jemand – und gar wenn dieser Jemand Sie sind – eine Liebeserklärung machen ohne falsch verstanden zu werden. Was Sie da und dort in Ihren Büchern wiederholen von »Seelenliebe« habe ich gewiß nicht nur begriffen, sondern von je Ähnliches behauptet, freilich blos mit dem Effekt daß man mich für nicht normal hält. Herr Doktor schrieben daß das Leben Sie nie sanft angefaßt habe. Das verstehe ich vielleicht noch besser als Sie glauben; denn wenn mir pekuniäre Not auch nie nahe trat, war meine Jugend trotzdem so sonnenlos wie die des Ärmsten. Mir fehlte die Liebe die meistens doch auch dem ärmsten Kinde zu teil wird. Ich sehnte mich nach ihr, ich hätte betteln gehen mögen darum, wenn ich nicht zu stolz dazu gewesen wäre, ich suchte nach ihr und habe häßliche Erfahrungen gemacht, die ganze Welt kam mir wie ein Zerrbild vor. – Und jetzt – fragen Sie vielleicht? Jetzt bemühe ich mich vor allem meinem Kinde im reichsten Maß das zu geben was ich so schwer entbehrte, ohne dabei seine Fehler zu übersehen und ich glaube auch sonst, dank Ihrer Schriften, die rechte Liebe gefunden zu haben, die nämlich welche nicht verlangt und nicht rechnet und keinen Menschen ausnimmt, sondern gibt so weit es ihr irgend möglich ist. – Hat die Schülerin richtig gelesen? Die Ausübung ist freilich nicht immer leicht.

   Frau Plöhn, die ich herzlichst zu grüßen bitte, war wohl so gütig Herrn Doktor unseren Dank für die letzten lieben Briefe zu übermitteln, sonst wüßte ich wirklich nicht wie entschuldigen daß ich nicht nicht* selbst schon dankte. Zuerst wollte ich Sie nicht so schnell wieder stören, dann war ich abgehalten durch Muskel und Nervenschmerzen und jetzt noch komme ich vor lauter ärztlicher Be- und Mißhandlung,


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Massage, Salzbäder, Turnen und dergleichen kaum zu Atem. Trotzdem möchten wir Ihnen wenigstens einen Pfingstgruß senden und sagen daß wir vom IV. Band des Silbernen Löwenreiches bis heute leider noch nicht mehr als zwei Heftchen bekommen konnten. Doch möchte ich dieserhalb nicht Herrn Doktor mit Schreiben bemühen, ich werde mich an Fehsenfeld wenden und werde dann schon hören ob der Buchhändler hier wieder un[zu?]verlässig ist. Daß Herr Doktor durch Unwohlsein an der Fortsetzung gehindert wäre, hoffen wir nicht annehmen zu sollen, sonst hätten die Zeitungen längst wieder brav Lärm geschlagen.

   Mein Mann und Willy grüßen vielmals; letzterer wird sich bald zu schreiben erlauben. Sollten Herr Doktor wirklich wieder einmal Zeit zu einer Antwort finden, bitte sagen Sie doch »Du« zu dem großen Kind – er wäre zu glücklich darüber. Recht frohe Pfingsten wünscht wie jederzeit nur das Beste

Adele Einsle

* doppelt bei neuem Seitenbeginn

IV. Band des Silbernen Löwenreiches: Im Nachlaß Willy Einsles ist ein von May selbst an »Frau Oberamtsrichter Einsle« adressierter Karton erhalten, der als »Drucksache« deklariert und frankiert ist und am 31.5.1903 (Poststempel) in Radebeul aufgegeben wurde. Möglicherweise enthielt er eine Sendung zum Trost, da vom »Silberlöwe IV« noch keine weiteren Teile erschienen waren.


Eheleute May an Adele Einsle · 29.12.1903

Liebe, verehrte gnädige Frau!

   Herzlichen Dank u. herzliche Wünsche für Ihr Wohlergehen senden Ihnen und den lieben Ihrigen zum Jahreswechsel

Ihre
Mays

[Auf dem Kopf stehend]
K May.

Bildkarte: Gardasee – Poststempel: Radebeul 29.12.03

Adresse und Text von Klaras Hand, Unterschrift auch von Karl May

Anschrift: Frau Oberamtsrichter Einsle


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Klara May an Familie Einsle · 12.5.1904

Herzlichen Dank für Ihre lieben Ostergrüße senden mit ebensolchen Grüßen

Ihre Mays

Bildkarte: Kinder an orientalischem Brunnen mit Wasserkrügen (chamois getönt); Poststempel: Radebeul 12.5.4

Text von Klara May

Anschrift: Herrn Oberamtsrichter Einsle & Familie


Eheleute May an Adele Einsle · 31.12.1904

Vielen, herzlichen Dank. Wenn die Kinder Floras auch verwelkt ankommen, sind sie doch ein Zeichen frischer Liebe

Die innigsten Neujahrswünsche Ihnen Allen von

Ihren Radebeulern

Bildkarte: Ehepaar May mit Ehepaar Bernstein (siehe Bildteil – dieselbe Karte mit Erläuterung am 1.1.1906) – Poststempel: Radebeul 31.12.04

Text von Klaras Hand

Anschrift: Frau Oberamtsrichter Einsle


Klara May an Adele Einsle · 7.3.1905

Viele herzliche Grüße aus Radebeul. Anbei ein Prospekt mit einigen Zeichnungen von Prof. Schneider. Ich erbitte Ihr Urtheil über dieselben. Sie zürnen mir doch nicht, meiner letzten Mittheilung wegen?

Bildkarte: Sejd Hassan (siehe Bildteil) – Beschriftung Klara: »Omar« aus »Friede auf Erden« – Poststempel: Radebeul 7.3.05

Text von Klaras Hand

Anschrift: Frau Oberamtsrichter Einsle

Mittheilung: Hinweis auf einen nicht erhaltenen Brief Klara Mays


Eheleute May an Willy Einsle · 7.3.1905

Mit dem »Ja« sendet einen herzlichen Gruß [von Klaras Hand] Karl May [Unterschrift, von Mays Hand, unter dem Bild]


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Bildkarte: ohne Erläuterung (orientalische Szene auf einer offenbar nach hinten abfallenden Straße; rechts gehende Frau in Schwarz mit breitem Lastkorb auf dem Kopf) (siehe Bildteil)

Poststempel: Radebeul 7.3.05

Anschrift: Herrn Willy Einsle

Ja: Bezieht sich offenbar ebenfalls auf einen nicht erhaltenen Brief Willys; vgl. dazu Willy Einsles Brief vom 28.4.1905.


Karl May an Willy Einsle · 23.3.1905

Villa Shatterhand d. 23./III.5

Radebeul-Dresden

Mein lieber Willy!

   Ja, da kommts endlich! Und zwar ganz unerwartet! Nicht? Ich weiß gar wohl, es ist ein Kreuz, wenn man am 3ten Januar einen Brief an Frau Plöhn schreibt, und erst gegen Schluß des März kommt die Antwort von Karl May! Aber das liegt nicht an Frau Plöhn und auch nicht an Karl May, sondern am Weihnachtstag, am Neujahrstag und an meinem Geburtstag. Das sind drei Tage, an denen man mich mit Zuschriften förmlich überschüttet, und Du darfst mir getrost glauben, daß ich mit der Beantwortung der letzten Fluth noch heut nicht fertig bin.

   Merkst Du wohl, daß ich »Du« zu Dir sage? Du hast es so gewünscht, und was Du willst, das thue ich gern, wenn ich es kann. Aber ich hoffe, daß Du mich vice versa coramirst! Ich werde zwar schon von einem Willy geduzt, der ist der Sohn meiner Schwester, aber ich meine, was der eine kann, das kann der andere erst recht. Und sollte es Dir nicht ganz natürlich vorkommen, mich auch Du zu nennen, so können wir ja der Natur unter die Arme greifen, indem Du so gütig bist, mich als Onkel zu adoptiren. Dann kann weder mein König noch Dein Prinzregent etwas dagegen haben, zumal ich wohl das nöthige Alter besitze, mich adoptiren zu lassen.

   Solltest Du trotzdem noch irgend ein Bedenken haben, so will ich die Berechtigung meines Wunsches durch folgenden Präzedenzfall begründen: In einem Städtchen am Harz wohnte ein kleines, braves Gymnasiastle; das hatte ein noch kleineres, allerliebstes Stumpfnäsle, und darum wurde sein Name Ferdinand in ein ebensolches Stumpfnäsle, nämlich Ferdi, umgewandelt. Der kleine Ferdi war ein großer Mayleser; noch größer aber war sein Wunsch, Old Shatterhand einmal zu sehen. Es geschah. Von diesem Augenblicke an war er nicht mehr klein, sondern groß. Groß im Fleiß, groß in Allem, was seinen Eltern Freude


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machte. Sein Vater war ein armer, kranker Mann, dreißig Jahre lang an den Krankenstuhl gefesselt. Als Ferdi nach glänzendem Abiturium zur Universität ging, um Arzt zu werden, bat er mich, mich Onkel nennen zu dürfen. Ich habe noch nie einen so jungen Arzt gesehen wie ihn. Er war der Liebling seiner Professoren und ging, direct von der Hochschule weg, als Schiffsarzt des Norddeutschen Lloyd nach Nordamerika. Gleich bei dieser seiner ersten Reise fand er Gelegenheit, sich ungewöhnlich auszuzeichnen. Er gehörte zu jener kühnen Besatzung welche im vorigen November, wie in allen Zeitungen berichtet wurde, mitten im größten Sturme die schon drei Wochen lang vollständig hoffnungslos in der See treibende Bemannung eines englischen Schiffes rettete. Gegenwärtig befindet er sich auf seiner zweiten Reise nach dem Rio de la Plata unterwegs. Die nächsten beiden Touren werden ihn nach Egypten, Ostafrika, Australien, China und Japan führen. Dergleichen junge Aerzte sind gesucht; seine Eltern dürfen gar wohl stolz auf ihn sein, und ich freue mich immer, wenn ein Brief von ihm hier ankommt mit der Anrede »lieber Onkel«. Das einstige Stumpfnäsle hat sich fast vollständig gradgewachsen, aber die alte, liebe Herzigkeit ist geblieben.

   Meinst Du nicht, lieber Willy, daß ich gern noch einen so braven Neffen möchte? Also bitte, sag Onkel, und sag Du! Ich weiß, dann wird es klappen!

   Du sprichst in Deinem Briefe von »dummen Urtheilen«, die Du über mich zu hören bekommst. Ich wollte, ich könnte Dich vor Aehnlichem behüten und bewahren! Nicht jeder Mensch bringt es fertig, sich eine feste Welt- und Lebensanschauung zu erkämpfen, und noch Wenigere sind berufen, durch die seelischen und geistigen Kräfte dieser ihrer inneren Eigenwelt auf andere Menschen einzuwirken.

– – –

Bis hierher hatte ich am 23ten März geschrieben; da wurde diese so seltene Freistunde unterbrochen, und ich kann erst heut, am 8ten April, fortfahren. Also, weiter:

   Von diesen Wenigen pflegt die Mitwelt zu sagen, daß sie »viel geliebt« und aber zugleich auch »viel gehaßt« seien. Geliebt von den Ahnenden oder gar Wissenden, gehaßt von allen Denen, welche entweder zu dumm oder zu egoistisch sind, auf andere Gedankenwelten Rücksicht zu nehmen.

   Je näher eine solche Welt um die Centrale alles irdischen Lebens kreist, desto unverständener ist sie für diejenigen, welche, wie die Kometen, nur selten zur Sonne getrieben werden und dann schmerzlich ge-


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blendet, sogleich wieder hinausstreben in die unendlich weite, tageslose Ferne. Mein lieber Willy, es ist Gottes Wille, daß alle diese Kometen sich zu Planeten bilden, indem sie durch allmähliche Verbreiterung ihrer langen, schmalen Bahn in stetige Sonnennähe gelangen. Es ist sein Wille, daß eine Zeit komme, in der sich alle irdischen Gedanken nur noch in jener einzigen Ellipse bewegen, deren beide Brennpunkte nach Religion und Humanität oder Gott und Mensch zu nennen sind; die Sonne aber steht in Gott. Religion und Menschlichkeit, Gottesliebe und Nächstenliebe, diese beiden sind es, um die sich alles Irdische zu drehen hat. »Du sollst Gott lieben ... das Andere aber ist dem gleich: du sollst Deinen Nächsten lieben.« Durch dieses Gebot offenbarte uns Christus das einzige, große Gesetz, nach welchem alle Bewegung unsers kleinen, innern Mikrokosmos genau so vor sich gehen wie draußen im unendlichen Makrokosmos die Umdrehungen der Sonnen und Trabanten. Centrifugalkraft, der Trieb zu Gott; Centripedalkraft, der Trieb zum Geschöpf; sie sind die beiden einzigen Bewegungsgesetze, in Wahrheit aber auch nicht zwei, sondern nur eins, und dieses Eine ist – – die Liebe!

   Diese Liebe meinte ich, als ich vorhin von jenen wenigen Eigenwelten sprach, die berufen sind, auf Andere einzuwirken, damit die Gedankenbahnen der Menschen nach und nach zu einer einigen werden mögen. Und diese Liebe ist es, die von allen Denen nicht verstanden und nicht begriffen wird, die sich sofort geblendet, geängstigt oder geärgert fühlen, sobald sie an der wahren Gottesfurcht und der wahren Menschlichkeit einmal so nahe vorüber müssen, daß sie die Wärme fühlen, die ihnen Entsetzen bereitet. Sie wollen von dieser Liebe nichts wissen; sie streben fort von ihr und antworten auf sie mit Haß. Sie sind Egoisten wie die Finsterniß, die sie lieben. Die Sonne giebt und giebt; sie giebt ewig, ohne jemals Etwas dafür zu bekommen. Die Finsterniß aber verschlingt das Licht und giebt keinen Strahl davon mehr zurück; sie verschlingt Alles, Alles nur für sich, bis sie stirbt.

   Du weißt, lieber Willy, daß ich dies bildlich meine. Die »dummen Urtheile«, von denen Du sprachst, kommen aus dieser Finsterniß. Meine Welt ist die Welt der Liebe und zwar der Nächstenliebe. Man sagt, daß es meine Absicht sei, über Religion zu schreiben. Das ist nicht wahr. Die Religion habe ich Berufenen zu überlassen, den Priestern und Theologen. Ich bin nur Mensch und schreibe nur für Menschen. Für mich ist jeder Mensch nur Mensch, nichts Anderes. Ich beschreibe die Menschheit, wie sie ist; ich betrachte sie nicht durch unsere europäische Brille. Und ich lobe die Menschlichkeit oder ich tadle die Inhumanität, wo ich sie finde. Ob der, den ich lobe oder tadle, ein Christ oder ein Heide ist, darf bei mir, der ich nur als Mensch schreibe, nicht in Betracht kommen. Damit


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verleugne ich nicht etwa meinen Glauben, o nein! Sondern ich bin nur der Meinung, die in den Worten liegt »Keiner kann ein guter Christ sein, der nicht vorher ein guter Mensch geworden ist!« Und grad weil ich so herzlich wünsche, daß alle Welt gut christlich werde, lege ich meinen Lesern die ächte, wahre Menschlichkeit an das Herz und zeige ihnen in hunderten von Beispielen, wie beglückend und wie gar nicht schwer es ist, durch sie aus einem anthropologischen Geschöpf zum wirklichen Menschen zu werden.

   Freilich, diese Humanität schließt jeden Egoismus aus, der nicht social berechtigt ist. Ich habe also alle Egoisten gegen mich, die für ihre Person und ihre persönlichen Ansichten mehr Rechte oder größere Rechte verlangen als man ihnen gestatten kann, wenn der soziale Körper gesund und rüstig bleiben soll. Lassen wir sie reden! Ich schäme mich nicht, es offen einzugestehen, daß ich Licht haben will. Die Welt in meinem Innern schreit nach Klarheit. Wem das nicht gefällt, weil er im Dunkeln bleiben und im Trüben fischen will, der mag über mich raisonniren; aber kein Vernünftiger wird ihn und sein Gewäsch beachten!

– – –

Und jetzt wird mir Dein letzter Brief gegeben, vom 2ten April. Ich lese ihn durch. Bitte, warte einen Augenblick!

   So – – fertig! Also Du scandirst im Schreiben. Das thut man nur in gehobener Stimmung und wenn der Zweck ein edler ist. Dies ist hier der Fall; darum freue ich mich darüber, zumal ich sehe, daß Dir diese Ausdrucksweise nicht übel gelingt. In anderer Beziehung aber muß ich Dich bitten, einmal in Wirklichkeit Dein »Ustad« sein und Dich warnen zu dürfen. Glaube mir, ich meine es gut. Ich bitte Dich nämlich um Folgendes: Bade nicht warm, sondern bade kalt! Und bade nicht daheim in der Wanne, sondern bade draußen im freien Wasser!

   Ganz selbstverständlich sind auch diese Worte bildlich zu verstehen. Ich beobachtete Dich schon längst, und weil ich Dich lieb habe, halte ich es für an der Zeit, Dich aufmerksam zu machen. Du verweichlichst Deine Seele und verzärtelst Deinen Geist. Was so ein junger Geist schreibt, muß klingen wie froher, kräftiger Wellenschlag, auf dessen Schaum die Sonne goldig funkelt; Dein Schreiben aber klingt ganz anders, nämlich als ob Deine Seele dabei in der Badewanne gelegen und dabei ganz lebensmüd mit dem lauen Seifenwasser geplätschert hätte. Donner und Doria! Spring heraus, mein Junge, spring heraus! Mach schnell das Fenster auf, daß kräftige Luft hereinkommt, und wirf Alles hinaus, was nach »Weltschmerz« klingt, nach »Menschheitsweh«, nach »Erdenleid« und


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sonstigen kraft-, saft- und characterlosen Dingen. Soll Deine Seele in dieser Wanne ertrinken, in diesem lauen Seifenwasser, in dieser matten Schläfrigkeit? Warum soll sie nur immer klagen, daß sie sich sehne?! Wenn sie sich wirklich sehnt, so mag sie doch zugreifen, denn es ist ja Alles da, was sie begehrt! Aber die Hand muß man ausstrecken! Und zugreifen muß man können! Die Sehnsucht muß zur That werden, zur kräftigen, edlen, zielbewußten That. Und grad hier liegt das Geheimniß verborgen, welches nur sehr wenige Menschen kennen. Ich will es Dir entdecken.

   Ich bin nur äußerlich ein Schriftsteller. In Wahrheit bin ich ein Forscher auf dem Gebiete der Psychologie. In diesem hochwichtigsten Reiche weiß Niemand mehr Bescheid; da regiert der Unsinn mit der Lächerlichkeit, und selbst der allerklügste Professor kann weder Geist noch Seele definiren und noch viel weniger sie von einander unterscheiden. Was da gelehrt und geglaubt wird, ist gradezu tolles Zeug. Der Menschengeist, der die fernsten Welten berechnet, der Oceane überbrückt, der den Blitz beherrscht und jedes Element bezwingt, der es in seinen Philosophemen sogar wagt, Gott ab- oder einzusetzen, ganz wie es ihm beliebt, dieser Geist soll hinter unserer Stirn, unter unsern Schädelknochen stecken, in dem weißgrauen Brei, den wir als Gehirn bezeichnen. Wenn wir es ihm erlauben, darf er aus dieser entsetzlichen Gefangenschaft einmal aus unsern Augen schauen, aus unsern Ohren horchen, aus unserer Nase riechen! Ist das nicht Wahnsinn? Perfecte Verrücktheit?

   Nun, ich bin ausgezogen, um nach dem Geiste und nach der Seele zu suchen. Meine Reiseerzählungen berichten, was ich gefunden habe, aber nur für den, der das, was ich sage, begreift. Auch Du begreifst mich noch nicht. Aber lies weiter, so kommt wohl bald die Zeit, daß Du nicht blos mich, sondern auch Dich in meinen Büchern findest. Für heut genügt der Wink, von dem ich vorhin sagte, daß ich ihn Dir geben will. Das Geheimniß lautet: Die Seele kam von Gott zur Erde nieder und geht, indem sie sich in Geist verwandelt, wieder zu Gott empor. Die Seele ist der Lebensodem, den der Schöpfer dem Menschen einhauchte. Durch die Berührung mit dem irdischen Leibe verlor sie die Erinnerung an ihre Heimath. Diese Erinnerung kehrt ihr genau in dem Maße zurück, in dem sie sich in Geist verwandelt und dadurch aus der Sklavin des Körpers zur Herrin der irdischen Materie wird. Das ist ganz genau dasselbe, was ich Dir oben mit andern Worten sagte: Deine Sehnsucht soll sich in edle, kräftige That verwandeln. Die Seele sehnt sich nach oben; sie werde zur That, zur geistigen Energie, so wird sie frei und findet Gottes Weg! Gott ist Geist, und darum können wir ihn nur im Geiste anbeten. Das hat uns


Foto eines Porträts von Willy Einsle im Alter von 9 Jahren, gemalt von M. Nonnenbruch.


Foto eines Porträts von Adele Einsle im Alter von 32 Jahren, gemalt von M. Nonnenbruch.


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der Heiland, unser himmlischer Meister gelehrt. Und mit dem »Anbeten« ist nicht etwa nur das gemeint, was wir Gebet zu nennen pflegen, sondern unser ganzes Leben und Streben vom Stoff zur Kraft, zur Seele, zum Geist, zu Gott empor. Das Alles soll ein Beten sein, ein einziges, großes, heiliges Gebet, an dessen Schluß der Herr und Vater »Amen« sagen wird.

   Warum, mein lieber Willy, spreche ich so zu Dir, der Du noch so jung bist und mich unmöglich ganz verstehen kannst? Du weißt es schon: Weil ich Dich lieb habe und weil ich Dich und Deine Seele kenne. Ich möchte heut in ihre Tiefe greifen, damit sie zum Bewußtsein ihrer Kraft und ihrer Pflicht gelange. Du kennst aus der Thüringer Geschichte das Wort des Schmiedes: »Landgraf, werde hart!« Ich rufe Dir ähnlich zu: »Mein Junge, verträume Dich nicht, verweichle Dich nicht, sondern werde kräftig, werde fest, und werde Geist! Heraus aus dem lauen Wasser, in dem Deine Seele zu plätschern liebt! Du hast Dich nicht daheim in der engen Wanne, sondern draußen in der offenen Fluth des Lebens als Schwimmer zu bewähren. Willst Du, daß Deine Eltern Dich nur lieben? Gewiß nicht. Sie sollen Dich auch achten; sie sollen sehen, daß Du auch für andere Leute Etwas bist u. Etwas kannst. Und das, das wird sie glücklich machen; nicht nur sie, sondern auch Dich selbst! Nein, der Weg zur Seligkeit ist nicht so schmal, wie Du denkst. Zu Christi Zeit war dieses Gleichniß richtig; aber seit er sich selbst den »Weg« genannt hat und es uns auch geworden ist, geht ihn zwar jeder für sich, aber dennoch Keiner allein. Es ist, wie bereits gesagt, nicht meines Amtes, Religion zu lehren, sondern ich suche nach Geist und Seele. Aber auch dieser mein Weg führt dorthin, wohin alle Wege führen, zu Gott, zum einzig wahren Glauben, den uns sein Sohn offenbarte, und zu unserer höchsten irdischen Pflicht, nämlich unsern Nächsten nicht weniger zu lieben, wie uns selbst!

Mit herzlichem Gruß
   Dein
         alter
      Onkel Karl

3ten Januar: dieser Brief ist nicht erhalten

vice versa coramirst: mich deinerseits duzt

Gymnasiastle: Ferdinand Hannes; vgl. dazu Hans-Dieter Steinmetz: Mariechen, Ferdinand und Onkel Karl. In: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft 69/1986, S. 6–24.

Brief vom 2ten April: der in dieser Ausgabe folgende Brief

scandirst: Versmaß verwendest


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Willy Einsle an Karl May · 2.4.1905

[Vermerk Mays:]
Geantwortet
8/4.5
München, den 2. April 1905

Abs. : Mit tausend herzlichen Grüßen an Sie und die liebe, liebe Frau Plöhn

Ihr Willy Einsle

Meinem Ustad!

   »Durch die Wüste« war mein Weg gegangen. So öd und kahl war alles um mich her, kein zartes Grün tat meinen Augen wohl, die Menschen waren hart und kalt. – Da träumte ich mir still ein kleines Reich voll Märchenschönheit und voll Märchenfrieden, ich wiegte mich in trügerischen Schlummer ein und – hab mich selbst und alles um mich her vergessen. Die Welt war mir so fremd, – in meinem Märchenreiche war nur Sonnenschein. Ich hab die Welt um mich vergessen, und das war nicht gut, nein, das war feig und unrecht, weil ich in eitlen Träumereien alles, Weg und Ziel, vergaß und meine Zeit unnütz vergäudete.

   Wohl manchen hat der Reigentanz der Elfen im zaubrischklaren Mondenschimmer berückt und er vergaß den Glockenklang des Heimatdorfes, und als er heimgekehrt, – da wars zu spät.

   Nein es war noch nicht zu spät; es war die Mahnerin erschienen, die Sehnsucht kam zu mir und weckte mich aus meinem Märchentraum. Wohl weckte sie mich auf, doch hat sie mir den Märchenfrieden, den ich mir vorgetäuscht, nun auch genommen und ganz verlassen stand ich in der weiten Welt.

Der Wald so dicht und düster,
Die Nacht so schaurig kalt;
Pfadlos und ganz verlassen
Steh ich im wilden Wald.

             *

Kein Sternlein winkt mir traulich,
Weist mir den Weg zum Glück,
Das ich so stolz verlassen,
Zum Vaterhaus zurück.

             *

Ein Lichtlein sah ich blinken,
Doch ists schon lange her;
Nun steht das Kind im Walde
Und findt den Weg nicht mehr. –


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Da ging ich zu den Sternen suchen, die so ruhig auf die kleinen Menschen niederschauen. Ob die da droben wohl die Sehnsucht kennen? Ich flehte, flehte nur um eins, um wahren Frieden, und daß sie mir nur einmal noch den rechten Weg, den Weg zum Ziele wiesen. – Umsonst.

   Ich glaubte schon, es sei zu spät, zu spät.

   Heut war die Sehnsucht wiederum zu mir gekommen, mir war so weh und ich verging vor Sehnen. Da sah ich eine hohe Lichtgestalt, die mild bestrahlt vom klaren Sternenschimmer die Schritte zu mir lenkte, die lieben, klaren, guten Augen blickten mich so ernst und mahnend an, der Mund, der sonst so gerne lächelte, war herb geschlossen und sprach beredter als mit tausend Worten. Mein Ustad, unser Ustad wars, der mein noch nicht vergessen, der den, den er gefallen selbst noch ein klein wenig lieb hatte und den er retten wollte, zu seinen Dschamikun nach seinen Bergen führte, damit er dort genese.

   Ach laß mich dort! Mir ist so wohl, ich bin so müd und matt. »El Mizan« tönts so schrecklich an mein Ohr und brausend gleich Lawinendonner schwillt es an. Wenn ich gesunden kann, so ists nur dort, wo süße, fromme Einfalt alle Seelen eint.

   In weiter Ferne seh ich wohl das klare Bild der »Shen« in hehrer Schönheit leuchten. Mein Aug ist noch so schwach, kann ihren Anblick nicht ertragen. Wann werd ich wohl in ihren Armen als ihr Kind die volle Auferstehung feiern dürfen? Kann ich denn überhaupt einst ihrer würdig werden? Ich bin so schlecht, so schwach und manchmal ists so dunkel um mich her, daß ich den Weg nicht sehen kann, die »Konfession« hält mich so eng umgarnt.

   Mein Ustad, wende Dich von mir nicht ab, verlaß mich nicht! – Nein, er verläßt Dich nicht, schmal ist der Weg, den er Dir weist, und nicht von Alltagsfüßen breitgetreten, doch führt er aufwärts, führt zum Vaterhaus, zum ewgen Frieden. –

Nun ist die Nacht gekommen
Mit ihrem Dämmerschein,
Mein Leid hat sie genommen,
Darf wieder glücklich sein.

             *

Nun ist die Nacht gekommen
Die stille Friedensnacht,
Ich hab sein Wort vernommen
Von dem, der droben wacht. –

Lieber Herr Doktor, bitte sagen sie Herrn Dittrich einen recht herzlichen Dank von mir für seine Schrift. Ich weiß zwar nicht, ob ihm viel


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daran liegt, aber ich weiß halt nicht, wie ichs anderst machen soll. Daß die Schrift recht viele zu lesen bekommen, dafür will ich schon sorgen. Endlich habe ich einen »Mayleser« erwischt, dem ich den mir von Ihnen aufgetragenen Gruß natürlich sofort ausrichte.


Adele Einsle an Klara May · 17.4.1905

München den 17./IV.1905

Verehrte liebe gnädige Frau!

   Morgen heißts »Reisen« – leider nicht weit – die schwäbischen Verwanten möchten uns gar zu gern wieder mal rechts und links an's Herz drücken. Vor dieser Prozedur aber muß ich liebe gnädige Frau bitten Herrn Doktor für uns die gütige Hand zu küssen die meinen Jungen so beglückte. Der unlängst angekommene Brief muß Wunderkraft besessen haben, – ich kenne den weltentrückten Träumer gar nicht wieder, er lacht und ist fröhlich wie noch nie! Wir können Ihnen und Herrn Doktor wohl nie genug danken, – aber die Schuld drückt nicht. Edlen, großen Menschen gegenüber muß das Alltagsmenschlein immer im Rückstande bleiben. Wir wollen wenigstens dankbar sein so gut wir's können. Weil's Osterzeit – Beichtzeit ist, darf ich mein Gewissen erleichtern und lieben gnädigen Frau eingestehen in welch furchtbarem Verdacht wir Sie haben? Ist May's Schwester, Frau Plöhn, nicht doch eigentlich seine Frau? – Warum könnte die »Schwesterseele« die ihn treulich bis in's gelobte Land der Dschamikun begleitete nicht im Körper der Frau wohnen die die »lieblichste Stütze seiner Lebenstage« die »unvergleichliche Blume seines Frauenzeltes« ist? – Sollten unsere Gedanken Irrwege wandeln, so lachen Sie uns tüchtig aus. Herrn Dittrich zeihe ich aber dann sträflichster Nachlässigkeit daß er Frau Plöhn vergißt, gerade wie »Weihnacht« und »Am Jenseits« – Ehre wem Ehre gebührt! Trotzdem haben wir uns Dittrichs Schrift zum zweitenmal, zu fleißigem Ausleihen bestellt – leider kam heute der Bescheid sie sei vergriffen. Es wird doch wohl eine neue Auflage erscheinen? Ein Urteil über Professor Schneider abzugeben der auch hier rühmlichst bekannt ist scheint fast arrogant. Uns gefällt sehr daß diese Titelbilder so architektonisch gehalten sind und schon auf den symbolischen Inhalt der Schriften hinweisen.

   Daß wir mit unsern Blumen so wenig Glück haben ist betrübend, aber begreiflich. Sie kommen im Winter so weit her und sollen noch bis Radebeul – kein Wunder wenn sie die Köpfchen hängen lassen. Im


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Sommer wenn sie lebenskräftiger sind haben Sie selbst so viele im Garten – ich zerbreche mir den Kopf wie machen, werde aber schon noch das Richtige herausfinden. Bis ich so klug geworden, ganz prosaische Grüße am Papier für Sie und den verehrten Herrn Doktor von uns allen – möchten Sie sie so freundlich aufnehmen als sie von Herzen kommen.

In steter Ergebenheit
Adele Einsle

Dittrichs Schrift: Max Dittrich: Karl May und seine Schriften. Dresden 1904 (Reprint in: Schriften zu Karl May. Materialien zur Karl-May-Forschung. Bd. 2. Ubstadt 1975)


Karl May an Adele Einsle · 19.4.1905

Villa Shatterhand 19./4. 5

Radebeul-Dresden

Hochgeehrte Frau Oberamtsrichter!

   Ja, Sie vermuthen ganz richtig. Das kam folgendermaßen.

   Herr Plöhn war mein langjähriger, treuer Freund, der mich während meiner Reisen daheim vertrat. Seine Frau die besondere Freundin der meinigen. Die beiden Familien bildeten eine einzige, obgleich jede ihr eigenes Haus besaß. Was die eine brauchte, hatte die andere. Ein geradezu idiales [!] Verhältniß. Wir nannten uns mit Plöhns »Bruder« und »Schwester«. Wir waren das zwar nicht körperlich, aber geistig und seelisch unbedingt. Frau Plöhn war eine Musterfrau, hochdenkend, edel, nach Vollendung trachtend, im höchsten Grade wohlthätig, unvergleichlich opferwillig. Ich war stolz darauf, sie Schwester nennen zu dürfen und ihr in Leid und Freud Bruder sein zu dürfen. So soll es überhaupt unter Menschen sein; das ist ja mein Ideal, für welches ich schreibe, und ich pflege meine Lehren nicht nur zu schreiben, sondern auch zu leben.

   Plöhns brachten mich mit zu Schiffe, wenn ich verreiste; sie kamen sogar mit meiner Frau nach dem Orient, durch den ich sie führte. Herr Plöhn suchte dort Heilung von einem gefährlichen Leiden; er fand sie nicht und starb kurz nach unserer Heimkehr. Die Beiden hatten sich so lieb, daß Frau Plöhn unbedingt vor Gram ihm nachgegangen wäre, wenn sie nicht in unserm geschwisterlichen Verhältnisse festen Halt gefunden hätte. Dadurch, daß wir sie veranlaßten, uns auf allen unsern Reisen zu begleiten, fand sie sich wieder in das Leben zurück.

   Da traf mich derselbe Verlust: Ich verlor meine Frau. Wir reisten nach


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dem Süden, um sie zu retten, doch vergeblich. Das war damals, als wir bei Ihnen waren, als Bruder und Schwester. Meine Frau mitzubringen, war unmöglich. Es war fürchterlich. Während wir bei Ihnen scheinbar heiter scherzten, war ich innerlich fast todt und auch äußerlich ein leidesmüder, beinahe zusammenbrechender Mann.

   Dann kam die Pflicht. Mir ist ein unendlich schwer zu erreichendes Ziel gesteckt, und ich habe alles, alles zu thun, um es zu erreichen. Niemand außer mir hat dieses Ziel gekannt, als nur Frau Plöhn; die Andern waren zu schwach, es zu begreifen. Sie arbeitete und studirte mit mir; sie sorgte und kämpfte mit mir. Sie half mir, alles tragen, was meine Gegner mir auf die Schultern warfen. Unser Verhältniß wuchs sich innerlich fast wie zu einem Wunder aus, während wir äußerlich das Leben in getrennter Einsamkeit verbrachten. Ich war der forschende Geist und sie die berathende Seele. So gelang es mir, zu finden, was ich suchte, nämlich eben den Geist und die Seele, über die ich in meinen Werken einleitenden Anschauungsunterricht ertheile, um sie später in sichtbarer Gestalt vor die Augen der Menschen zu stellen.

   Doch, das klingt geheimnißvoll und ist es auch, wenn auch blos für jetzt, für nur noch kurze Zeit. Aber Geist und Seele gehören zusammen; es war nicht zu umgehen, daß aus Bruder und Schwester Mann und Frau wurde, nicht aus leiblichen Gründen, sondern aus Ursachen, die wohl sehr wenig irdisch sind. Wir beiden alten Leute legten unsern innern und äußern Besitz zusammen und streben nun nicht mehr getrennt, sondern Hand in Hand der Gegend zu, in welcher unser jetziges Leben aufhört, ein Räthsel zu sein. Und bitte, wollen Sie es uns glauben, wir behaupten, die zwei glücklichsten Menschen zu sein, die es auf Erden giebt! Eigentlich ein Rechenfehler, denn Seele und Geist bilden zusammen doch nicht zwei sondern nur einen Menschen. Daher wohl das Glück!

   Wir wollten Ihnen dies mündlich mittheilen, denn es stand ja fest, daß wir bei unserer nächsten Anwesenheit in München einmal auf fünf Minuten bei Ihnen anklopfen würden. Aber da Ihr seelisches Auge so scharf gewesen ist, es entdeckt zu haben, so beeile ich mich, Ihnen Frau Plöhn hiermit und schleunigst als meine Gattin vorzustellen und bitte Sie herzlichst, uns beiden alten Kindern ja nicht bös darüber zu sein. Alle übrigen Bekenntnisse und Geständnisse werde ich, ihrer Heimlichkeit wegen, in meinen nächsten Bänden drucken lassen.

   Mit aufrichtiger Hochachtung und herzlichem Gruß von Dschanneh

Ihr
ergebener
K. May


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Willy Einsle an Karl May · 28.4.1905

               Freitag, den 28. IV. 05

Du lieber, lieber Onkel!

   Hörst Du? Ich will, will jetzt endlich einmal raus aus diesem Sumpf und immer daran denken, daß ich ein Neffe zu werden habe, der seinem Onkel wohl in die Augen blicken darf. Was Du übrigens vom »Der Natur unter die Arme greifen« gesagt hast, das hast Du ja doch nur im Scherze gemeint, denn das weiß ich sicher, wie Du in allem soviel tiefer und höher denkst als so viele, so denkst Du auch über die Verwandtschaft ganz anders als die anderen.

   Wie ich Deinen lieben Brief bekommen habe, da hab ich zuerst einen riesigen Freudensprung gemacht, – dann aber bin ich ernst, sehr ernst geworden. – Doch dann, dann hab ich zum zweiten Mal einen Sprung gemacht, nicht nur vor Freude, daß ich einen so guten Onkel vom Osterhasen bekommen habe, nein auch gleich mitten ins kalte freie Wasser hinein. Anfangs zwar etwas ungewohnt, dann aber war mir so pudelwohl wie noch nie. Ich habe aber auch noch nie einen Onkel gehabt, der seine Onkelschaft auch gleich durch die Tat so bewiesen hat wie Du. Und ich kann Dir doch vorderhand so gar, gar nichts geben, was Dir Freude macht, denn trotz aller Liebesduselei, ja grade wegen dieser tatenlosen Schmachterei war ich in meinen Träumereien bis jetzt der allerärgste Egoist.

Hans Sachs war zwar ein Schuh-
Macher und Poet dazu,

aber ich bin eben kein Hans Sachs. Ja, wenn ich nur wenigstens ein guter »Schuhmacher« wäre! Aber da fehlts noch weit. Ja ich habe sogar schon fast zwei Poesie- oder Tage- oder Traumbücher, oder wie man es sonst nennen mag, vollgedichtet, gereimt und geträumt. »Entsetzlich«, denkst Du, »na Gott sei Dank muß ichs nicht lesen.« Ja, aber das Allerschönste wäre doch der Titel gewesen, den ich in schwachen Stunden gerne vor das erste Buch gesetzt hätte. Doch nun hast Du mir indessen die Augen gründlich aufgemacht und so hab ich denn die Geschichte in der Weise umgeändert:

– »Ein Menschenleben – ein Seelenleben« –
Den Titel wollte dem Buch ich geben; –
Einstweilen irrte der Mensch umher
Und fand seine Seele doch nimmer mehr. –

Gestern hat mich nochmal ganz plötzlich und unvorbereitet die Dichteritis befallen und das Ergebnis war: gleich zwei Widmungen in die


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»Himmelsgedanken« für zwei Basen von mir. Da michs doch drückt, so schreibe ich sie Dir lieber gleich jetzt, Du mußt halt denken, 's ist bald vorbei.

Also an die die* eine, die jung vermählt ist und die von einem Verwandten das Buch bekam:

Freue Dich im frohen Maien,
Wenn die Flur im Lenzeskleid,
Und sei nicht bang!

Doch willst Du es nie bereuen,
Denke an die Erntezeit
Dein Leben lang!

An die andere, die noch nicht vermählt ist, in die zukünftigen »Himmelsgedanken«, die sie von meinen Eltern oder, wenns Taschengeld reicht, von mir bekommen wird:

Bleib immer, wie Du warst und wie Du bist,
Bleib kindlich fromm, doch sei noch mehr – ein Christ!
Weißt Du, was das heißt?
Als Christ ererbtest Du die heilge Pflicht:
Nicht nur in Dir, auch um Dich werd es Licht!
Glücklich, wenn Dus weißt!

So und um nun auf die Zwickmühle zu kommen, in der ich sitze. Am besten ists, ich schreib halt, wie ich denke. Also einerseits kannst Du Dir natürlich selbst vorstellen, was das heißt, wenn bei mir ein Brief nicht von einem meiner vielen Onkels, nein, von meinem ganz besonderen Onkel ankommt. Es ist ein größeres Fest noch als wenn wir unerwartet Hitzvakanz bekommen. Aber andrerseits ist mirs natürlich auch durchaus nicht gleichgültig, wenn Du auch noch die kurze, Dir frei bleibende Zeit mit Briefschreiben ausfüllst. Jedenfalls will ich schon dafür nach Kräften sorgen, daß Du diesen Zeitaufwand für mich später nicht als vergäudet betrachten sollst. Im Übrigen bin ich ja auch schon so furchtbar froh, daß ich mit Dir hie und da so, wie ich mir denke, reden darf. Doch weil ich eben in dieser Zwickmühle war, drum hab ich meine Briefe bis jetzt womöglich immer so abgefaßt, daß eine Antwort, wenigstens direkt, nicht unumgänglich nötig war. Nur das »Ja«, das hab ich erwartet wie noch selten etwas. Nun ich aber weiß, daß Du und vielleicht auch Frau Plöhn, solange ich es wenigstens einigermaßen verdiene, mich auch ein bischen gern haben, nun, nun bin ich halt so riesig glücklich.

   Mein Ziel steht mir jetzt fest vor Augen. Zu allererst will ich noch


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möglichst viel im Gymnasium von dem retten, was ich bis jetzt versäumte. Dann aber werde ich mit ganzer Seele Arzt. Ich will zuerst den Körper kennenlernen, aber das ist nicht mein Ziel. Die Seele ists, nach der ich suchen gehe, die Seele, die im Leib nicht wohnt. Du warsts und bists und wirst es immer bleiben, ein Lehrer durch das Wort und durch die Tat. Das Wort ist mir versagt, doch durch die Tat in Deinem Sinn zu wirken, das sei mein einzges Lebensziel. Gott wird mir meinen Willen stärken, daß er nun endlich aus dem Wollen in die Tat hinüberreife, auf daß ich einstens vor El Mizan gut bestehen möge.

– – – – –

Da es jedoch ohne eine Bitte doch einmal nicht abgehen kann, so hätte ich halt noch eine riesige Bitte. Lieber Onkel! (captatio benevolentiæ.) Da Du Dir wohl selbst die Beschränktheit eines gymnasiastus communis, vulgaris in Bezug auf sein Taschengeld vorstellen kannst, – keine Angst, ich pumpe Dich nicht an –, und da ich Dir doch so gerne eine kleine Freude gemacht und Dir Blumen geschickt hätte, so bitte ich Dich, schneide Dir von Deinem Garten eine schöne Blume, aber eine duftende, ab und denk dabei, ich hätte sie Dir geschenkt! Wenn dann meine Mutter in der besseren Jahreszeit Dir und unserer lieben, lieben Frau Plöhn Blumen schickt, so will ich dann schon zwei besonders schöne Blumen dazulegen.

   Richtig, da fällt mir nochmal eine Bitte ein. Du hast uns geschrieben, daß Du uns – hurrah – besuchen willst. Bitte, bitte, sage Frau Plöhn, sie soll uns doch ja womöglich vorher schreiben, wann Ihr zu uns kommt. Hoffentlich habe ich nicht gerade Klasse. Das gäbe was! Ich bin so froh, so froh, daß ich mich nicht getäuscht habe, wenn ich in Schakara schon längst Frau Plöhn so lieb, so lieb gehabt hab.

   Also nichts für ungut und mit den allerherzlichsten Grüßen an Dich und
   Frau Plöhn
      Dein jetzt gern kalt und im Freien badender Neffe

               Willy.

Hoffentlich fällt mir jetzt nichts mehr ein, was ich Dir schreiben könnte, sonst wirds noch länger.

* von Willy doppelt geschrieben

captatio benevolentiæ: Einleitung einer Rede, die die Hörer günstig stimmen soll

gymnasiastus communis, vulgaris: einfacher, gewöhnlicher Gymnasiast


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Adele Einsle an Klara May · 26.5.1905

               München den 26./V.1905

Liebe, verehrte Frau Doktor!

   Wie froh ich bin Sie so nennen zu dürfen! Warum – das könnte ich nicht sagen. Vielleicht weil ich schon seit Sie und Herr Doktor bei uns waren das Gefühl hatte Sie müßten zusammengehören, nicht nur als Bruder und Schwester, nicht im körperlichen Sinn – Herr Doktor hat ja wie immer das einzig richtige Wort gesprochen, wie eben Geist und Seele eins sein müssen. Da diese Zusammengehörigkeit aber doch ganz unabhängig von den Segenswünschen des Priesters oder des Standesbeamten ist, deren Kitt allein nach meiner Ansicht weder hält, noch glückselig, noch reputierlich macht, haftet dieser meiner Vorahnung gewiß auch nichts an was verletzen könnte. – »Bis daß der Tod Euch scheide« – so heißt wohl der Spruch und muß also nur den Ehen gelten die aus materiellen, aus körperlichen Gründen geschlossen sind. Es gibt nach May doch keinen Tod der Seelen scheiden kann. Und wir glauben an May; – das heißt an alles glauben, was gut, edel und erhaben ist wie – sein Geist und »seine Seele«. – Irremachen gibt es nicht.

   Aber unglücklich bin ich darüber daß ich so tappig war Sie an trübe Stunden zu erinnern, ich hatte mir die Lösung ja viel einfacher gedacht. Daß Herr Doktor trotzdem so lieb geschrieben, wofür ich Sie vielmals zu danken bitte, zeigt daß ich nicht erst mich entschuldigen muß. Aber um ein anderes bitte ich von ganzem Herzen. Sie kommen in absehbarer Zeit wieder hieher – tun Sie es nicht ohne daß wir Sie sehen dürfen. Wir sind schon die letzten Jahre immer in Münchens Nähe geblieben; unser Dörferl ist, obwohl nur 1/2 Stunde vom nächsten Städtchen entfernt, doch so weltabgeschieden und lieb, daß wir immer wieder gerne hingehen. Aber es geschah wirklich auch in dem Gedanken sofort hier sein zu können wenn Sie vielleicht die Güte gehabt hätten uns zu rufen. Wir werden auch diesen Sommer etwa ab 20. Juli bis Ende August oder die ersten Septembertage dort sein und mit Hochgenuß alles liegen und stehen lassen und hieher eilen wenn Sie kämen. O bitte, seien Sie die gütige Vermittlerin und schreiben Sie uns gegebenen Falles ein paar Zeilen, mit Berücksichtigung daß die Post täglich nur einmal, Sonntags gar nicht zu uns kommt, nach Parsberg, Post Wiesbach. Vielleicht hören Sie dann den Juchschrei aus den Bergen schallen.

   Das zweite Exemplar der Dittrich'schen Schrift ist endlich in unseren Besitz gekommen. Da ich nicht weiß ob Sie das Heftchen nicht weiter ausgegeben haben wollen oder ob es Eigenmächtigkeit der Verlagshandlung ist, teile ich Ihnen die mir von unserem Buchhändler zur Ver-


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fügung [Verfügung] gestellte Correspondenz mit. Das erste Heft kam anstandslos. Bei Bestellung des zweiten Exemplares kam von Weiske retour: Vergriffen! Hierauf schrieb Finsterlin hier: »Ist die Broschüre wirklich vergriffen da sie doch vor vierzehn Tagen noch geliefert wurde?« – Antwort von Weiske: »Broschüre wird laut Börsenblatt nicht mehr ausgeliefert.« Finsterlin: »Bitte um gütige Auseinandersetzung warum die Broschüre nicht ausgeliefert wird, ich muß dies doch meinen Kunden begründen. Eventuell geben Sie mir die Nummer des betreffenden Börsenblattes an wo der Artikel steht.« – Antwort Weiske's mit Schriftchen: »Ausnahmsweise liefern Exemplar.«

   – Wir haben ja nun was wir wollten aber der Weg eines Schriftstellers scheint mir wirklich nicht dornenlos zu sein. Wie gut daß Dschanneh Himmelsblumen bringt.

   Die ergebensten Grüße von uns Dreien an liebe gnädige Frau und verehrten Herrn Doktor. Denken Sie gütigst meiner Bitte

Stets Ihre Adele Einsle


Klara May an Adele Einsle · Juli 1905

Verehrteste gnädige Frau!

   Von ganzem Herzen wünschen wir Ihnen guten Erfolg in R. – Wir kommen in diesem Jahre nicht nach München. Ich theile es Ihnen nur mit, damit Sie nicht auf uns warten. Viele herzliche Grüße von meinem guten Manne und Ihrer

K. M.

Bildkarte: Villa Shatterhand, mit drei (undeutlichen) Personen auf dem Balkon – Poststempel: weitgehend unlesbar, Juli 1905

Anschrift: Frau Oberamtsrichter Dr. Einsle, z. Zt. Bad Reichenhall, Villa Bellaria, Kurfürstenstr.


Willy Einsle an Karl May · 5.8.1905

               Parsberg, den 5. August 1905

Lieber Onkel!

   Da wollte ich Dir und Frau Plöhn zwei Rosen schicken und einstweilen – kommt ein Brief. Aber Mama meint, Du könntest verreist sein und fürchtet, die Blumen würden verwelken bei der Hitze; darum hat sie mich auf den Winter vertröstet, wo ich ja dann meine zwei Blumen beilegen kann.


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   Also statt dessen kommt jetzt auf einmal ein Brief aus Parsberg, der gar nicht nach Rosen duftet. Das erste Mal ohne vorgezeichnete Linien ist er auch geschrieben. Aber bitte lieber Onkel, nimm ihn trotz der beiden Übelstände nicht übel und wenn Du glaubst, daß es für mich gut ist, so hilf mir, bitte, bitte.

   Aber so gar arg notwendig ist es deshalb nicht, weil ich weiß, daß diese Periode der Extreme und Revolution gegen das Althergebrachte, bei der ein Zuweitgehen in irgend einer Richtung eben nicht zu vermeiden ist, notwendig und ganz gesund ist. Wenn die grünsten Jungen schon mit ihrer eingepaukten »gefestigten Meinung« herumlaufen und hohnlächelnd alles Hinzulernen abweisen und für überflüssig halten, dann spüre ich immer ein gewisses Jucken in der rechten Hand. Und da das Briefschreiben eben doch einmal erfunden ist, so wappne Dich mit Geduld und christlicher Nachsicht und laß die Geschichte über Dich ergehen.

   Herr Max Dittrich sagt:

   Neue Menschen werden einfach in die Konfessionsgesellschaft ihrer Eltern hineingetauft. Niemand kann sich dieselbe wählen, denn schon nach wenigen Tagen nach Eintritt in das Leben wird das Christenkind zur heiligen Taufe getragen und später in der Konfession unterrichtet und aufgezogen, nach deren Ritus die Taufe vollzogen worden ist. Die Konfession ist also nichts Selbstverdientes, worauf man stolz sein kann, sondern ein von den Verhältnissen Aufgezwungenes, dem man sich in kindlicher Onmacht fügen muß.

   Onmacht! Das ist das einzig richtige Wort. Jeden Sonntag werden wir in die Messe getrieben, keiner darf sich unterstehen am Weihwasserkessel vorbeizuschlüpfen. Wer kein Gebetbuch hat, wird gestraft, wer nicht in die Messe geht, bekommt Dimmissionsandrohung. Was einer aber alles während derselben zusammendenkt – na, wenn er nur die Kirche nicht schwänzt. Gleich dimmittiert wird der, der bei der gemeinsamen Kommunion auswischt, ebenso wenn er nicht auf Befehl reumütig beichtet. Denn wer ohne Bußgesinnung beichtet und also dann auch womöglich unwürdig kommuniziert, begeht eine gräßliche Todsünde, ladet »den schwärzesten Undank«, »den gräßlichsten Gottesraub« auf sich; Mitmenschen und den Staat betrügen, den Nächsten verdammen ist weit, weit nicht so schrecklich. Na also. Und zum Schlusse müssen wir über das ganze Zeug im Absolutorium »Die Tugend des Glaubens eines katholischen Christen« (einfach »Christ« ist viel zu ordinär!) beweisen und können uns das Absolutorium gewaltig verbessern oder verbösern wenn nicht ganz entscheiden. Und dabei hat unser Religionslehrer, den ich übrigens sehr gern hab, die Stirn zu sagen, er wolle keine Polizeireligion.


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   Lieber Onkel, manchmal möchte ich da schon ganz gern, ich wär ein Heide, denn dann würde es mir nicht so schwer gemacht ein guter Mensch und schließlich auch ein Christ zu werden.

   Neulich sprach Herr Oberamtsrichter Stauffer einen ganzen Nachmittag und Abend mit mir über diese Dinge. So gut ich es verstanden habe und mir es merkte, will ich Dir einiges davon sagen, zumal er auch über Dich viel sprach.

   Herr Oberamtsrichter schätzt Deine Schriften sehr, sehr hoch und stimmt in allem, was Du über Menschentum und Christentum denkst und schreibst, vollkommen mit Dir überein. Aber was Du über die Seele schreibst, hält er für Mystizismus und Spiritismus, der schließlich bei Deiner Phantasie, bei Deinen ungeheuren Studien nicht zu verwundern sei, von dem ich mich aber ja nicht anstecken lassen solle. Er ist eben hierin im richtigen Sinne aufgefaßt grasser Materialist, der im Gehirn den Sitz der Seele annimmt und dem ein Dasein der Seele außerhalb des Körpers einfach unmöglich wenn nicht gar lächerlich ist. In dieser Hinsicht hat er mich auch gewarnt mich von solchem Mystizismus, wie er es nennt, als Arzt einmal doch ja nicht hinreißen zu lassen. Ich sei von Natur aus etwas mystisch angelegt (d. h. nicht wissenschaftlich genug in seinem Sinne) und das werde durch Deine Bücher genährt. Du habest mir zwar in Deinem Briefe alles Weltschmerzliche gründlich beredet aber dabei übersehen, daß Du teilweise selbst daran schuld seiest. Wenn ich ehrlich sein soll, so muß ich dies in einem ganz, aber nur ganz kleinen Maße zugestehen, aber nicht, wie er meint, Deine Bücher sind daran schuld, sondern der Umstand, daß ich sie nicht richtig zu erfassen wußte.

   Und wenn ich ihm auch immer wieder sagte: ich glaube an Geister, nicht aber an Gespenster, er brachte es doch gleich wieder mit Spiritismus zusammen, den ich grad am allerwenigsten leiden kann, und hielt das Einwirken z. B. der gestorbenen Mutter auf das Kind nur durch die Erinnerung und das Gedächtnis für möglich, nicht aber durch die Stimme des Herzens, was er eben für spiritistisch hält. Leider bin ich nicht mehr dazugekommen, Herrn Stauffer weiterzufragen, wie er dann die nicht leugbare Gewissensstimme mit seinen Gehirntheorien in Einklang bringt. Der ganze Unterschied zwischen Herrn Oberamtsrichter und mir ist der, daß Herr Stauffer in den Gehirnfunktionen die Uhr und den Uhraufzieher sieht, während ich außer der Uhr, die ohne den letzteren bald stehen bleiben würde, noch an einen glaube, der die vom Uhrmacher gefertigte Uhr immer wieder aufzieht und im Stande hält, bis einmal die letzte Zwölfe schlägt, bis dann das Uhrwerk Körper nicht mehr nötig ist, weil die Zeit aufgehört hat den Menschen über die Ewigkeit hinwegzutäuschen.


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Herr Stauffer geht jedoch in seiner Konsequenz weiter, indem er die Bibel für Menschenwerk ansieht; Christus ist bei ihm Josephs Sohn, auch zweifelt er schließlich an einem Weiterleben. Aber das alles ist ja doch nicht so wichtig im Gegensatz zur Pflicht ein guter Mensch zu sein, und das ist Herr Stauffer wirklich und wahrhaftig, und wenn sich andere auch Christen nennen dürfen, bloß weil sie »an Christus glauben«, so darf man Herrn Oberamtsrichter trotz alledem für einen Staatschristen halten.

   Er kennt halt nur die Wissenschaft als das einzige Richtige auf dem Weg zur Wahrheit. Nur, meint er, lasse sich die Wahrheit überhaupt nie, nie ergründen. Er ist Pantheist und zwar im Goetheschen Sinne. Gott ist überall und überall ist Gott, ob er es jetzt Naturkräfte oder göttliches Wesen nenne. Im »Herrgottsglauben« sieht er nichts als Anthropomorphismus und er warnt mich, mir Gott nicht zu anthropomorphistisch vorzustellen. Sonderbar findet er es, daß Gott die Seele in dieses schmutzige Gewand, Körper genannt, überhaupt steckte oder ihm beigab. Die Sage vom eingemauerten Chodeh, die ich ihm erzählte, gefiel ihm sehr gut, doch hält er wie schon gesagt Deine Phantastereien über die Seele, wie er es nennt, noch dazu in orientalischem Gewande eben für viel zu phantastisch. – So, das ist Herrn Stauffers Anschauung, wie ich ihn verstand. Nun bitte ich Dich aber dringend, halte ihn in seinen Anschauungen doch ja nicht für so konfus wie das Zeug, das ich da über ihn zusammengeschmiert habe. Jedenfalls ist er ein guter und gescheiter Mensch, Gründe genug für mich, ihn gern zu haben, und dann noch ein egoistischer Grund, geistig profitieren kann ich auf alle Fälle von ihm, in negativer oder positiver Hinsicht.

   Ich habe mir von der Unterredung mit Herrn Oberamtsrichter sehr, sehr viel für mich erwartet und eben nicht daran gedacht, daß er in der Jugend protestantisch erzogen immer die katholische Konfession mißtrauisch mit feindseligen Augen angesehen hat und da er auch über sie scheinbar nur das weiß, was die Geistlichen von der Kanzel sprechen, – und das klingt leider nicht immer, wie es in den Lehrbüchern steht – so bin ich eigentlich über die Punkte, auf die es mir besonders ankommt, noch grad so dumm wie vorher, zumal Herr Oberamtsrichter nicht das scharfe Auge besitzt, die feinen Fäden zu erkennen, die mich an Dich fesseln und mich hoffentlich immer mehr zu Dir hinziehen werden. Dennoch hat er mich sonst sehr treffend beurteilt, indem er meinte, ich höre meine eigenen Worte gern.

   Glauben heißt für wahr halten, daß .... – so habe ich gelernt. Das ist aber falsch. Ich glaube, das heißt ich weiß daß Gott ist, daß er der Vater ist und wir alle, alle ohne Ausnahme und ohne Unterschied seine Kin-


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der [Kinder] und also alle Brüder sind. Also das Fundament zu allem ist und bleibt gewahrt und da Gott sicher mit dem Willen, nach Kräften nach dem Wahren zu streben, zufrieden ist und er nicht so barbarisch sein kann wie seine kath. Kirche, mich wegen Gewissenszweifeln, in denen ich mich freiwillig aufhalte, verurteilen zu wollen, so werde ich hoffentlich meinen königlich bayrischen Frieden bald wieder zurückhaben. Ich weiß ferner, daß Christus ist und daß die Bibel wenn auch in orientalischem Gewande das Buch der Bücher ist.

   Ich wage es sogar sie ohne katholischen Kommentar zu lesen und finde, daß man ganz schön durchkommt, Auslegung und wissenschaftliche Kritik überlaß ich anderen.

   Aber meine Bedenken habe ich auch. Denn in mir gibts zwei Stimmen, die des Verstandes und die des Herzens und die geben gar keine Ruhe nicht. Die eine sagt sicher Hüst, sobald die andere Hott sagt. Nun bin ich zwar kein Ochs, aber auskennen tu ich mich auch nicht. Also höre, was der Verstand sagt, vielleicht ists auch das Herz und ich habe keinen Verstand.

   Nehme ich die Bibel als Gotteswerk an, so muß ich auch als Tatsache annehmen: Christus wollte es und hat auch wirklich eine aber auch nur eine Kirche gestiftet: Du bist Petrus und auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen und die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen. Herr Oberamtsrichter tut sich da sehr leicht, indem er diese Stelle für interpoliert hält, das Priestertum Christi läugnet und ebenso seine Absicht eine Kirche, oder wie man es sonst nennen mag, auch für spätere Zeiten noch zu gründen. –

   Um nun für die große Menschheit zu passen muß Christi Kirche doch sichtbar und einheitlich sein und auf Petrus als den Felsen weiterbauen und braucht trotzdem noch lang nicht von dieser Welt sein, wenn sie in dieser Welt ist. So und nun kommt ein großer Sprung, indem ich die Behauptung der Konfession aufstelle, in der ich erzogen wurde und werde. Sie lautet: Die katholische Kirche ist diese einzige von Christus gestiftete Kirche, da sie allein jene Merkmale, Apostolizität, Katholizität (?), Sichtbarkeit und Einheit in Lehre und Oberhaupt nachweisen kann. Also ich sage hiemit nur, was ich gelernt habe, ohne weitere Untersuchung.

   Ist dies richtig, so darf diese Kirche nicht nur, nein sie muß sogar auf ihrer alleinseligmachenden Kraft und auf ihrer Unfehlbarkeit in betreff des Lehramtes beharren. Was diese »Alleinseligmachung« betrifft, so lehrt die Kirche darüber: Alle Menschen können selig werden aber nicht durch ihre nichtkatholische Religion sondern dadurch, daß sie, wenn sie rechtlich leben und möglichst nach Wahrheit streben, dem


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Geiste der katholischen Kirche angehören. Auch die so vielfach bestrittene »Unfehlbarkeit des Papstes« ist nicht so schlimm, wenn obige Hypothese angenommen wird, indem die Unfehlbarkeit nur dann in Wirksamkeit tritt, wenn er in Lehrsachen gezwungen ist eine Entscheidung zu geben. Christus hat ja seiner Kirche seinen Beistand bis ans Ende verheißen. Aber da gibts bei mir auch gleich schon ein Bedenken. Wenn Christus der Kirche Unfehlbarkeit des Lehramtes gab, warum läßt er dann zu, daß die Geistlichen von der Kanzel hie und da Zeug predigen, wofür der Ausdruck Blech noch viel zu gelinde ist?

   Auch das Recht Irrlehren zu verwerfen ist nach obiger Hypothese Pflicht der Kirche, nur wurden eben so und so oft auch die Anhänger derselben verdammt und soweit geht das Recht der Kirche nie. Und damit komme ich eben auf Mängel, die mir sehr unangenehm aufgefallen sind, die zwar jede »Konfession« hat, die aber bei der »alleinseligmachenden Kirche« nicht zu finden sein sollten. Auch mit dem Hirtenamt, d. h. mit der Macht Gesetze zu geben und zu strafen bin ich gar nicht einverstanden. Man beweist dies, indem man sie mit einer beliebigen Vereinigung vergleicht, die ja auch an ihren Mitgliedern eine Satzungen gebende Gewalt ausübt. Aber wie jeder solche Vergleich hinkt, so ist auch dieser etwas sonderbar, denn das ist ein Menschenwerk, die kath. Kirche aber ist nach ihrer eigenen Lehre Gotteswerk. Und doch hat Christus auch gesagt »Was ihr auf Erden binden werdet, sei auch im Himmel gebunden.« oder »Wenn er aber die Kirche nicht höret, so sei er auch wie ein Heide und öffentlicher Sünder.« – Ich kenn mich nimmer aus.

   Die Stimme in mir: Los von jeder Konfession, los von jedem beklemmenden Zwang! will eben auch nie schweigen und darum bitte ich Dich, weil ich weiß, daß es Dir ein Leichtes ist mir zu helfen; bitte ich Dich, erkläre mir die zwei Stellen, über die ich nicht wegkommen kann: »Du bist Petrus ....« in Betreff der katholischen Lehre und dann die Stelle: »Alles was ihr auf Erden vergeben werdet, soll auch im Himmel vergeben sein und was ihr auf Erden behalten werdet, soll auch im Himmel behalten sein

   Bei mir kanns eben leider kein Mittelding geben, entweder eifrig katholisch oder meiner »anerzogenen« Konfession ganz entfremdet. Und wenn sich die Unfehlbarkeit auch nur in einem der Dogmen als Schwindel herausstellt, so ist die ganze Lehre nichts als eine einzige Gotteslästerung – und das ist so furchtbar, daß ich kaum daran zu denken wage.

   Und doch glaube ich fast, daß es mir beschieden ist diese Mauer, durch die meine Konfession mich in die Schablone zwingen will, nach und nach über den Haufen werfen zu dürfen, und sollte auch mein Kopf


Brautbild (Foto) von Wilhelm Einsle und seiner Verlobten Olga Heumann aus dem Jahre 1910.


Wiedergabe der Bildkarte vom 7.3.1905 (s. S. 27). Das Foto zeigt Mays arabischen Diener Sejd Hassan.


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Beule über Beule bekommen. Ein Darüberklettern ist bei mir auf alle Fälle ausgeschlossen, denn das wäre feig. »Durch dick und dünn immer voran« ist meine Devise.

So kann ich zum Beispiel gleich nicht an die himmelöffnende Kraft des Wassers bei der Taufe glauben, indem nämlich die ungetauften Kinder nicht in den Himmel kommen können und ihnen deshalb auch das christliche Grab verweigert wird. Ebenso, finde ich, hört jedes Recht der Kirche nach dem Tode jemands auf, diesem auch noch z. B. als Selbstmörder die geweihte Gottesackererde zu verweigern. Sobald Gott der Richter ist, soll der Mensch – und das sind die Priester schließlich denn doch noch – sich scheuen in kleinlicher Intoleranz diesem Gott in sein Amt zu pfuschen. Pfui Teufel! Amen.

   Bitte, lieber Onkel, hilf mir aus diesen ewigen Gewissenszweifeln endgültig heraus, daß ich ruhig weiterschreiten kann.

Uns Armen aber schenk den Frieden,
Den uns kein Fürst, kein Weiser gibt!!

Du hast diesen Frieden gefunden, Du bist der einzige, der ihn mir geben kann. Und wenn einmal etwas aus mir wird, was ich ja doch hoffe, so hast alles, alles Du gemacht, Du und Deine, nein unsere liebe, liebe Frau Plöhn durch Dich.

      Dein jetzt erst recht kalt badender
               Neffe Willy
                  aus München.

Dimissionsandrohung: Androhung der Entlassung

dimittiert: entlassen

Absolutorium: Abiturprüfung

Pantheist: Mensch, der glaubt, daß Gott eine in der Natur allgegenwärtig wirkende Kraft ist

Anthropomorphismus: Glaube, der sich Gott nach menschlichem Muster vorstellt

Sage vom eingemauerten Chodeh: Im Reiche des silbernen Löwen, Band IV, Kap. II

Petrus: Zitat aus Matthäus 16, 18

interpoliert: nachträglich eingefügt

was ihr auf Erden: Matthäus, 16, 19


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Willy Einsle an Klara May · 5.8.1905

               Parsberg, den 5. August 1905

Liebe Frau Plöhn!

   Verzeihen Sie mir, daß ich noch immer so sage, aber »Liebe Frau Doktor« käme mir gar nicht recht vom Herzen. Nicht wahr, jetzt plage ich Sie auch noch, aber von unserem Buchhändler konnte ich leider nicht Auskunft erhalten über etwas, was mir sehr am Herzen liegt, nämlich Onkels »Geographische Predigten«. Bitte teilen Sie mir doch bei einer Ihnen passenden Gelegenheit mit, ob und bei wem dieses Werk zu haben ist und was vielleicht sonst noch von meinem Onkel zu haben ist. Bis die ges. Werke erscheinen, dauerts mir zulange und die Buchhändler wissen ja immer nichts. Und noch etwas. Wenn Onkel viel zu tun hat, so geben Sie ihm bitte den Brief doch ja nicht, ich bin sicher nicht beleidigt. Durch besagte konfessionelle Mauer werd ich mit der Zeit schon einmal durchkommen, wenns auch einige Beulen mehr gibt am Kopf wie so.

   Mit der Bitte auch weiterhin liebe, liebe Frau Plöhn schreiben zu dürfen ist Ihnen so dankbar
            Ihr
               Willy Einsle.


Karl May an Willy Einsle · 12.8.1905

Villa Shatterhand         12.8.5
Radebeul–Dresden

Lieber Willy

   Dein Schreiben hat mir große Freude gemacht. Nur immer hinein! Schwimmen lernt Jeder! Nur der geht unter, der dummer Leute Wasser schluckt. Speie es heraus!

   Leider ist grad jetzt meine Zeit sehr kurz. Nächstens wird sie, so hoffe ich, wieder einmal länger, wenn auch nicht ganz so lang wie Dein Brief. Da antworte ich Dir. Leider zwingst Du mich da zur Behutsamkeit. Wem es so schwer fällt, May anstatt Plöhn zu sagen, den kann man doch nicht in den Saïstempel schauen lassen! Wer zu meiner Frau nicht »Du« und nicht »Tante Klara« sagt, der bekommt von uns überhaupt nichts mehr zu sehen und zu hören!

   Ich bitte Dich, Herrn Oberamtsrichter Stauffer sehr, sehr hoch zu ach-


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ten [achten]. Dieser Herr gefällt mir. Er prüft. Ich wollte, Du lerntest das von ihm. Das wahre, gerechte Prüfen kommt nicht aus der Mißgunst oder Zweifelsucht, sondern es ist der freie, aufrichtige Blick des Geistes auf den Gegenstand, der ihm der Mühe werth zu sein scheint, ihn kennen zu lernen. Dieses wahre Prüfen ist stets ruhig und gütig, niemals gehässig.

   Wer das, was ich über die Seele sage, für Mystizismus hält, braucht doch kein Materialist zu sein. Glaube mir, Herr Oberamtsrichter Stauffer hat viel, sehr viel Gemüth. Ich drücke mich da eben anders aus; ich sage: Er hat Seele. Ist das etwa spiritistisch? Mit Mystik und Spiritismuß mag ich nichts zu schaffen haben. Aber mein Lieblingsstudium ist die Menschenseele. Sie ist die Materie, mit der ich mich beschäftige. In dieser Materie bin ich zu Hause, bin ich Materialist, und Herr Oberamtsrichter müßte mir da mystisch und spiritistisch vorkommen, weil es mir räthselhaft erscheint, daß der Geist eines so hochgebildeten Mannes die Seele nicht »an sich« erfaßt, sondern sie nur nach ihren Wirkungen, also nach ihren »Materialisationen« betrachtet wissen will.

   Du wirfst religiöse Fragen auf. Mein lieber Junge, warte damit noch ein Wenig; Du bist nämlich noch im Wachsen. Alles irdische Denken bedarf der Reife, und diese pflegt bekanntlich im Sommer, oft gar erst im Herbst des Lebens zu beginnen. Freue Dich, daß Du noch im Blühen stehst. Das Blühen bringt Liebe; das Reifen bringt Dank. Ich wünsche, es sei Dir beides im reichen Maße beschieden! Trachte nicht nach zu schnellem, geistigen Alter! Hüte Dich vor der Frühreife, vor der Nothreife. Auch ich habe gewartet. Ich beginne mein eigentliches Lebenswerk erst jetzt, im 63sten Jahre. Ich war noch nicht reif dazu.

   Aber so ganz ohne alle Antwort sollen diese Deine Fragen doch nicht bleiben. Du ringst redlich nach der Wahrheit, und da reicht Dir der Onkel gern die stützende Hand.

   Du bist als Katholik geboren und getauft und wirst als guter Katholik die Augen schließen, so hoffe ich! Aber es giebt, wie überall, auch hier ein Hoch und ein Niedrig. Bleib nicht unten, sondern erhebe Dich, steig auf! Du hast nicht Schatten zu bleiben, sondern Person zu werden. Die Thüren sind unten, aber die Glocken läuten oben. Unten bist Du eingetreten; nun steige innen auf, geh nicht heraus! Bist Du einst oben angekommen, so laß Dein Leben klingen für alle da unten, die ohne diesen Glockenton an keinen Sonntag glauben. Und nur da oben werden Dir die Augen geöffnet, daß Du die wahre Mutter Gottes schaust, von der man unten hört, ohne sie aber zu begreifen. Nenne sie Marie, Mirjam oder Marryam, es ist gleich. Sie ist die Liebe, durch welche der Gottesgedanke in Dir geboren wird, der Heiland und Erlöser im Sinne Jesu Christi, der Alles geistig meinte, auch sich selbst.


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Streite Dich nie um Äußerlichkeiten, um Formen, um Gebräuche. Gott ist nur Geist; kein Schema bringt Dich ihm näher. Behalte Dein Kleid, und gönne jedem Andern das seinige. Du hast gar nicht nöthig, zu tauschen, und wenn Du es thätest, so wäre es vergeblich, denn Du bleibst doch immer Du selbst!

   Tante Klara grüßt. Ich drücke Dir die Hand.
               Dein
                  alter
               Onkel Karl.

Saïstempel: Anspielung auf Schillers Gedicht »Das verschleierte Bild von Saïs«. Darin enthüllt ein wissensdurstiger Schüler die verschleierte Figur der »Wahrheit«, deren Schleier ohne Einwilligung der Gottheit zu heben verboten ist. Nach der Tat wird der junge Mann »besinnungslos und bleich« aufgefunden – »ihn riß ein tiefer Gram zum frühen Grabe«. Hier also im Sinn von: in ein Geheimnis einweihen.


Eheleute May an Adele Einsle · 17.11.05

Liebe gnädige Frau!

   Ja, sie kamen besser an als die früheren. Aber die lieben Köpfchen hängen welk und traurig am Stengel. So lange wollen die duftigen Kinder Floras nicht unterwegs sein und entberen, was sie zum Leben brauchen. – Sie sollen auch nicht solche Ausgaben für uns machen. Eine Rose in einen Brief ist ebensogut. Man sieht die Liebe und dankt sie Ihnen ebenso. – Also bitte, bitte, keine Ausgaben für uns machen. [Text von Klaras Hand]

Brief folgt. Herzl. Gruß!
Ihr alter May.
[Zusatz von Karl Mays Hand]

Ansichtskarte: »K. M. in Egypten« (Karl May und Richard Plöhn vor dem Hotel »Mena House« in Giseh (Bildansicht in Jb–KMG 1971, Hamburg 1971, gegenüber S. 176)) – Poststempel: Radebeul 17.11.05

Anschrift: Frau Oberamtsrichter A. Einsle


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Karl May an Adele Einsle 17.11.1905

Villa Shatterhand            17./11.5
Radebeul–Dresden

Meine liebe, gute Frau Oberamtsrichter!

   Das »Herzle« ist so beschäftigt, daß es Ihnen nur durch Karte antworten konnte. Und was da steht, das ist so nüchtern gerathen, so ganz und gar nicht, wie ich es für meine Frau Oberamtsrichter wünsche, und darum »greife ich« zu der bekannten, sprüchwörtlichen Feder, um Ihnen selbst zu danken und selbst zu sagen, daß die Rosen zwar noch lebend, aber doch ganz kurz vor ihrem Tode angekommen sind. Es blieb uns nur noch Zeit, sie sterben zu sehen und zu begraben. Und das, das thut mir wehe, denn die »Blumenseele« ist für mich eine ausgemachte, nicht anzuzweifelnde Sache.

   Zu einer so verständigen Freundin, wie Sie mir sind, darf ich doch aufrichtig sein, nicht wahr?

   Wenn Sie einen Damenkaffee von 12 Personen bei sich haben, so müssen Sie sich allen widmen und können keine recht genießen. Ist aber eine dabei, die Sie lieb haben, die lassen Sie sich mal einzeln kommen, und da, da können Sie der Stimme Ihres Herzens folgen und haben Freude dran. Grad so mit mir und mit den Blumen.

   Meine Leser wissen, wie gern ich Blumen habe, und darum bekomme ich sehr oft welche geschickt. Aber meist ist die Sorte falsch gewählt, oder die Verpackung reichte nicht aus, oder die Rosen sind gar bereits zum zweiten Male verpackt. In allen diesen, meisten Fällen verwandelt sich die Freude, die man mir machen will, ins Gegentheil – – in ein Begräbniß. Das Schlimmste dabei ist, daß ich das verschweigen muß, um ja nicht zu kränken oder gar zu beleidigen. Die Folge davon ist bei nächster Gelegenheit eine neue Sendung, die genau so ankommt wie die vorige. Diese Herrschaften berücksichtigen nicht, daß auch die Blumen beseelt sind und daß es ihnen bei Massentransport, wenn man sie nicht zu behandeln versteht, genau so ergeht wie uns Menschen: Je mehr man sie beim Transport zusammenpreßt, desto mehr haben sie zu leiden.

   Hierzu kommt, daß ich in Allem individualisire, besonders die Seele. Die Seele einer Rose ist etwas geradezu Herrliches. Bitte, suchen Sie nach ihr! Aber, in einer Kaffeegevatterschaft bleibt sie unentdeckt. Die steckt man in eine Vase und behandelt sie in Kompagnie, also überhaupt. Aber denken Sie sich eine einzelne, etwa so in Form, Farbe und Duft wie Marschall Niel, apart, hell, ungequält und unberührt, gesund, von ächtem Adel. Das ist für mich eine Blumenfürstin, der ich mich tagelang hin-


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gebend [hingebend] widme. So eine Fürstin fährt natürlich nur erster Klasse, ein Coupee für sich allein, wo nicht dran steht »40 Mann oder 6 Pferde«. Man hilft ihr ein- und aussteigen. Man breitet ihr Decken, Tücher und Shawls unter. Kurz, man behandelt sie mit ganz derselben Auszeichnung, als ob sie, die zu mir reisende Rose, niemand Anders wäre, als meine liebe Frau Oberamtsrichter Einsle in eigener Person! Und kommt sie bei mir an, so gebe ich ihr meine Lieblingsrose und stelle sie nicht zu den Dutzendblumen, sondern auf meinen Arbeitstisch, grad vor mich hin und freue mich so still, so still, aber doch von ganzem Herzen, wenn dann der Kelch sich unter meinen Augen leise öffnet und hierauf das duftende, heilige Zwiegespräch beginnt zwischen meiner Seele und der wie eine Gottesoffenbarung hervortretenden Seele dieser hochgeborenen unter Allen, die da beten, ohne Worte zu machen.

   Verstehen Sie mich, meine liebe, hochgeehrte Freundin? Wenn Sie mir eine einzelne Rose senden, so kommen Sie selbst zu mir, und es ist mir möglich, Sie trotz aller Entfernung doch bei mir zu wissen und zu fühlen. Im Strauß und Busch aber suche ich Sie vergebens.

   Und nun noch einen herzlichen Gruß an Sie und Alle bei Ihnen!

            Ihr
               alter, dankbarer
                  May.

40 Mann oder 6 Pferde: Aufschrift auf den für Militärtransporte bestimmten Güterwaggons im Kaiserreich


Adele Einsle an Eheleute May · 22.12.1905

Vorderseite: Aufdruck »Fröhliche Weihnachten!«

wünschen wir alle von ganzem Herzen verehrten Herrn und Frau Doktor. Vielen Dank für die letzten lieben Zeilen. Marschall Niel habe ich wohl einige wenige entdeckt, aber so daß ich sie nicht auf die Fahrt nach dem Krematorium schicken wollte – die Nelken vertrauten mir an, daß sie die Reise wohl überstehen und gerne in Ihrem Zimmer duften würden – wenn Sie's erlauben wollten??? – Ich habe sie lieb weil sie von allen Blumen am dankbarsten sind.

   Frau Doktor war wieder ganz »Seele« – Ein neues May Buch gibt's vorerst leider nicht, da kam so recht als Fingerzeig heut der Radebeuler Anzeiger und ist Herr Fehsenfeld flink, gibt's am Weihnachtsabend ein doppelt frohes Gesicht. Das wird gut tun auf die vielen trüben Tage die


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meines Vaters Tod aus allerlei Gründen im Gefolge hatte. Ich hätte Sie manchmal wirklich gerne wie ein Kind den Lehrer gefragt: Genügt es zu wissen im Falle der Not würde ich auch denen helfen die es nicht um mich verdient haben oder muß ich diese weil's Verwante sind fühlbar lieben – muß ich jeden Eigennutz, jede Lüge freundlich lächelnd quittieren, oder darf ich beides mit Verachtung strafen?

   Aber wir sind ja beim frohen, lichten Weihnachtfest, also weg mit allen Gespenstern, Schatten und schwarzen Gedanken: Friede auf Erden!

   Mit viel tausend herzlichen Grüßen auch von Gatten und Sohn an Sie beide

M. d. 22./XII.05               stets die Ihre
Brief von Willy folgt.               Adele Einsle

Radebeuler Anzeiger: Möglicherweise der mit »Eg« gezeichnete Artikel »Kunst und Wissenschaft« in der Beilage des »Radebeuler Tageblatts«, Nr. 295, 20.12.1905 (vgl. Hermann Wiedenroth: Karl May in der zeitgenössischen Presse. Ein Bestandsverzeichnis. Langenhagen 1985, Nr. 248,3.)

Fehsenfeld: Es war wohl die Sascha-Schneider-Mappe bestellt worden; vgl. Willys Brief vom 2.1.1906.


Karl May an Adele Einsle · 24.12.1905

Villa Shatterhand               24./12.5.
Radebeul–Dresden

Meine hochverehrte, liebe Frau Oberamtsrichter!

   Draußen klares Wetter, nirgends Schnee; bei mir aber schneit es Weihnachtsbriefe. Die guten, guten Menschen!

   Ich nehme eine Zwischenminute wahr, um Ihnen zu danken.

   Auch ich habe Verwandte. Diese Gattung ist überall dieselbe – – Gewicht für Jeden, der sich befreien und erheben will. Früher klagte ich über sie, jetzt nicht mehr. Warum? Ein Bild:

   Der General, der sich im Kampfe des Lebens vom gewöhnlichen Soldaten zum Führer emporgeschwungen hat, wird zwar die Kompagnie, in der er einst stand, niemals vergessen und ihrer im Allgemeinen gern hülfreich gedenken, von dem Einzelnen aber duldet er weder Brüderschaft noch sonstige Familiaritäten. Er wird nicht zanken, wird nicht strafen, wird nicht hassen, sondern er sieht und hört das Alles einfach nicht.

   Meine Seele entwickelte sich erst nach meiner Geburt, mein Geist noch viel später. Und mein Körper wurde durch den Stoffwechsel ein so voll-


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ständig [vollständig] anderer, daß ich sowohl körperlich als auch geistig und seelisch schon längst nicht mehr zu denen gehöre, die noch heut so fälschlich behaupten, ich sei mit ihnen verwandt. Den Eltern war ich es, die aber sind todt. Den Kindern wäre ich es; ich habe aber keine; für die Uebrigen bin ich ein nachsichtiger, gütiger Bekannter, weiter nichts! – – –

   Nelken sind ein dauerhaftes, lustiges und dankbares Völkchen. Gut eingehavelockt kämen sie vielleicht ganz glücklich hier an.

Schnell noch tausend Grüße; es klingelt! Ihr alter

May.


Klara May an Willy Einsle · «24.12.1905?»

Hast Du die »Leipziger-Illustrirte-Zeitung« vom 21.12.05 gelesen? Ein recht guter Artikel. Hoffentlich drucken den die Zeitungen nach. Wo ich kann, werde ich dafür sorgen!

   Herzlichen Gruß, Dir und Deiner lieben, guten Mamma, und vielen Dank für die prachtvollen Nelken, sie kamen sehr gut hier an.

               Tante Klara

Bildkarte: Ehepaar May mit Ehepaar Bernstein (siehe Bildteil – die gleiche Karte am 31.12.1904) – ohne Anschrift – ohne Poststempel (möglicherweise Karl Mays Brief vom 24.12.1905 beigelegt)

Leipziger Illustrirte-Zeitung: Vgl. Wiedenroth, a. a. O. , Nr. 176,1.


Klara May an Adele Einsle · 1.1.1906

Die Nelken sind prachtvoll! Sie erfreuen uns und alle die sie sehen. Vielen, herzlichen Dank!

Innige Glückwünsche für das neue Jahr Ihnen und Ihren Lieben von d. U. (rechts)

Diese beiden sind liebe, liebe Freunde, Rechtsanwalt R. Bernstein & Frau. [Vermerk Klaras unter dem Bild]

Bildkarte: Ehepaar May mit Ehepaar Bernstein (wie 31.12.1904 u. 24.12.1905) – Poststempel: Radebeul 1.1.1906

Text von Klaras Hand

Anschrift: Frau Oberamtsrichter Einsle


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Willy Einsle an Karl May · 2.1.1906

            München, den 2. Januar 1906

Lieber Onkel!

   Also nachdem dem Brief lange genug Reklame voraus geschickt worden ist, kann er ja endlich einmal von Stapel gehen. Verzeih, aber ich habe es von vornherein als fruchtloses Beginnen aufgegeben Dir in den letzten beiden Monaten zu schreiben. Wo ich dann sowieso noch zu jedem Brief eine halbe Ewigkeit brauche, bis er für den Postschalter reif ist.

   Während der Seelenwannenbäderzeit war ich ein Hanswurscht. Ich schäme und ärgere mich, so oft ich dran denke. Immer nur mit Märchenaugen die fremde Welt anstarren und nur immer furchtsam betteln: Ihr großen Menschen, tut mir nichts! – Pfui Teufel, ich laß mir schon nichts tun. Ach und so unschuldsvoll, so weltentrückt und kindlich! – Ja sehr verrückt und kindisch! – Und obendrein ein fauler, nichtsnutziger Bengel und, wenn auch nicht mit allen, so doch mit vielen Wasserln g'waschen. – – – – – – – – –

   Ich hab nämlich eine Heidenangst, Du könntest am Ende, wenn Du mich näher kennen würdest, bei mir gewaltig enttäuscht sein. Bei allen anderen Leuten ist mir das vollständig egal (Leider!), aber bei Dir und der lieben Tante wenn mir das begegnete, Onkel, das wäre schrecklich.

   Ja die Zeit bisher im Gymnasium habe ich gründlich gefaulenzt. Gefreut hats mich auch nie sonderlich. Religion, Geschichte, (Wir hören meist nur »Geschichten«), Deutsch und die mathematischen Fächer solange es nichts zu rechnen gibt, haben mich gefreut und da ist mirs auch immer gut gegangen. Und das ist auch der Grund meiner Faulheit: Etwas, was mich nicht freut, kann ich nur sehr schwer und widerwillig lernen und natürlich auch nur höchst mangelhaft, denn Leichtsinn und mangelhaftes Pflichtbewußtsein haben mich die Sache immer von der leichten Seite nehmen lassen.

   Also um es kurz zu machen, ich habe heuer das ehrenvolle Vergnügen, mich in in[*] dieser kurzen Zeit von 3/4 Jahren zu einem wissensdurstigen jungen Mann heranzubilden, der vermöge seiner eifrigen humanistischen Studien, ausgerüstet mit dem Segen seiner Lehrer, die (obgleich sie bezahlt werden) sich abmühten und sich Tag und Nacht unparteiisch aufopferten, um aus ihm ein nützliches Glied der menschlichen Gesellschaft zu formen (d. h. ihn möglichst in die Schablone des Philistertums hineinzupressen), der also so ausgerüstet erfolgreich und dankbar die Früchte seiner Erziehung zeitigt. Verzeih, ich bin ungerecht, denn sogar unter den Professoren habe ich einige vernünftige


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Menschen lieben lernen dürfen. – Na, absolvieren tu ich heuer sicher, das versprech ich Dir, aber nur, weil ich nicht noch ein Jahr in diesem Kasten voller Spieße sitzen mag.

   Bitte verzeih mir, dieses mein Dummer-Jungenraisonnement – ich bin ein Kamel.

   Das bin ich wirklich. Aber nicht nur insofern, als es meinen rein menschlichen Eigenschaften als Taugenichts einerseits und als Hochmutspinsel andrerseits, als zeitweilig sehr krasser Egoist hüben und als ängstlicher Feigling ohne Selbstbewußtsein drüben zukommt, nein ich bin auch ein großes Kamel, weil ich in letzter Zeit die peinlichste Selbstbeobachtung bis auf die Spitze trieb. Und das ist das dümmste, was es gibt. Man verweichlicht dabei in lauter Selbstanklagen und anstatt die Kraft zum Bessermachen dadurch zu erhalten, verliert man die letzte Spur von Selbstbewußtsein und versimpelt.

   Das war die letzte Zeit her. Es war mit einem Wort ein unausbleiblicher aber den richtigen Anschluß versäumender Katzenjammer. Bin ich froh, daß ich jetzt doch raus gefunden habe aus dieser Vertrottelung. Endlich! Ich fühle mich so wohl. Mir ist, als hätte ich in mir einen festen Halt gefunden, an den ich mich nun langsam aber unbekümmert weiterhanteln könnte, immer höher hinauf. Und weil diese Stütze, dieser Haltpunkt in mir ist, so kann ihn mir auch niemand mehr nehmen. Ich werde mich hüten ihn mir selbst zu rauben.

   Gottseidank ist mir unter solchen Umständen die Laufbahn eines Gelehrten, tiefen Denkers und skeptischen Sternguckers von Grund auf verwehrt. Meine Ruhe will ich, meinen Frieden. Klarheit suche ich in mir, Klarheit nach Kräften über das, was meine Pflicht ist, Klarheit über mich und über die Welt um mich, denn ich bin mir wohl bewußt, daß dies mein Einzelleben immer nur das Spiegelbild des Menschheitslebens bleibt, daß ich dies mein Ich niemals aus der Gesamtheit aller Ichs herausnehmen darf noch kann. Philosophieren und allgemeine Sätze aufstellen tu ich fürs Leben gern, doch die Philosophie als Wissenschaft mit ihrem gelehrten und komplizierten Apparat kann ich nicht ausstehen. Denn wenn Philosophieren nichts anderes als ruhig sterben lernen heißt, so kann ich das einfacher haben, wenn ich lieber weniger gelehrt bin und dafür lieber so zu leben mich bemühe, daß ich dann wenigstens nicht ganz umsonst gelebt habe. Dazu brauch ich wenigstens keine so vielen Fremdwörter.

   Früher habe ich vor dem sogenannten »Still und ruhig durchs Leben gehen (Verzeihend auf die andern sehen)« einen gewaltigen Respekt gehabt. Doch ist meine ganze Hochachtung über die damit verbundene etwas »verschnupft« und leidenvoll klingende Dissonanz vom Mensch-


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heitskatzenjammer [Menschheitskatzenjammer] darüber hinübergestolpert. – Ich will kein Mitleid. Ich werde mich hüten mich selbst zu bemitleiden oder zu bewundern, aber ebensowenig lasse ich mirs von andern gefallen. Ich verbiete mir alle Mitleidsbezeugungen, ich brauche weder das noch ihr Lob. Wer nicht soweit Persönlichkeit werden kann, daß er auf beides verzichten kann und darf, nun ja, der verdient auch vollauf die schwerste Strafe die ich kenne, das Mitleid der so mitleidsbereiten Mitmenschen. Du schreibst in Deinem letzten Brief, daß ich Dich leider zur Behutsamkeit zwinge, so daß man mich doch nicht in den Saïstempel schauen lassen könne. Und ich habe doch schon von Anfang des Briefes an immer nur »Tante« und »Du« gesagt und auch früher schon, schon seit ich Euch kannte, denn wenn man innerlich mit einem lieb gewordenen Gestalten und Menschen so oft spricht, wie ich es tue, so sagt man ganz unwillkürlich »Du«. Leider zwingt einen dann meist irgend eine Äußerlichkeit »Sie« oder etwas noch Zeremonielleres zu sagen. Ich zwinge Dich also ganz und gar nicht. Werde mich schön hüten. (Zum dritten Mal in diesem Brief.) Übrigens weiß ich eine Stelle [**] beim Saïsbilde, wo die Hülle etwas fadenscheinig ist. Ich könnte zwar nun nach böser Jungen Art mit dem Finger nachbohren. Aber ich will sittsam und bescheiden warten, bis sich die Hülle senkt. Einen Fleck lasse ich mir aber auf der Universität auf keinen Fall auf die fadenscheinige und mir so liebe Stelle setzen. Da wehre ich mich mit Händen und Füßen. [***]

   Das Bild von der lieben, lieben Tante Klara, die sich nun von einem so bösen Jungen liebhaben lassen muß, steht ebenfalls wie Deines auf meinem Schreibtisch, mir gerade gegenüber und zwar so, daß ein hinter dem Schreibtisch stehendes Schlinggewächs seine grünen Arme um das Bild herumranken läßt. Nicht mehr lang, so hat es auch Deines erreicht.

   Heuer gabs zu Weihnachten eine ganz besondere Freude: Schneiders Titelzeichnungen. Selbst rein zeichnerisch genommen, so wunderbare männliche Akte wie bei Blatt 1, 2, 12 und 22 habe ich noch nicht gesehen und Lichtwirkungen wie die bei Blatt 9 und 12 nur sehr selten. So sehr mich bei Blatt 9 der Idealismus der Auffassung fesselte, ebensosehr packte mich beim Bild zum Silberlöwen I. dessen gerade durch seine Einfachheit und auf alle Kunstmittel verzichtende Nüchternheit in der Darstellung wirkender Realismus. Weniger – ich rede von der zeichnerischen Darstellung – gefallen mir Blatt 5 und 6, wenigstens vorderhand. Über den Inhalt der Bilder so mir nichts Dir nichts ein endgültiges Urteil zu fällen werde ich schön bleiben lassen, denn das wäre Anmaßung und ich hab nicht Lust mich zu blamieren. Da muß ich vorher die Bilder noch oft, sehr oft studieren, grad wie Deine


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Bücher auch. Da findet man immer wieder etwas Neues, Ungeahntes, immer weitere Aussichten und Fernblicke eröffnen sich. Und das allein ist doch die einzige wahre Kunst. Ich habe nur solche Bilder in meinem Zimmer hängen und habe nur solche Bücher gern. – – – – – – –

   Ich hätte jetzt so beinahe in einem Trumm weitergeschrieben, denn damit berühre ich gleich ein paar Lieblingsthemen von mir. Aber ich habe mir gelobt Dich heute wirklich nicht länger zu plagen und – halt – beinahe hätte ich die Hauptsache vergessen: Ich soll Dir und der lieben Tante ja feierlichst im Namen meiner Eltern und im meinigen alles Gute zum neuen Jahre wünschen (als ob man das noch ausdrücklich aussprechen muß), was ich hiemit in aller erdenklichen Feierlichkeit tue.

   Nicht so feierlich aber sicher ganz so herzlich wünscht Dir und der lieben, lieben Tante recht, recht dankbar sein zu dürfen

               Euer Neffe
                  Willy aus München.

* doppelt von Willy geschrieben

** Am Kopf der Seite Notiz Mays, bezogen auf das Wort »Stelle«: habe es erst noch zu sagen. [oder: segnen?]

*** Am oberen Rand der Seite, auf dem Kopf stehend, Notiz Mays: Habe nur gebeten, er soll sich vor Gemeinem hüten.


Willy Einsle an Karl May · 3.1.1906

Lieber Onkel!

   Das mit dem Neujahrswunsch war dumm, sehr dumm. Es kommen im Brief viele Kamele vor. Hier langt ein »Erzkamel« nicht.

Nichts für ungut
Dein Willy.

Bildkarte: Landschaftsbild – Poststempel (Ankunft): 4.1.06

Absender: W. E., München, Pilotystr 4/II


Karl May an Willy Einsle · 10.1.1906

Villa Shatterhand               d. 10.11.6
Radebeul–Dresden

Mein lieber Junge!

   Jetzt schüttle ich Dir die Hand. Fühlst Du es? Ich bin mit Dir zufrieden. Doch erlaube, daß ich mich heut kurz fasse! Ich bin derart mit Gra-


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tulationen [Gratulationen] überfluthet, daß es mir fast unmöglich ist, dem Einzelnen mehr als nur einige Worte zu senden. Du gehst mit Dir sehr streng in das Gericht, so mach es mit mir, dem armen Onkel, gnädiger!

   Auf die Einzelheiten Deines Briefes kann ich also erst später eingehen. Für heut habe ich nur einen ganz allgemeinen und doch aber auch so ganz besondern Wunsch. Nämlich mit dem Saïsbilde irrst Du Dich; da kannst Du die betreffende Stelle ganz unmöglich gefunden haben, denn es hat ja gar keine Stelle. Umso richtiger aber ist es, daß Du kein Mitleid haben willst. Auch hierüber sprechen wir später. Mein Ziel, welches ich zu erreichen strebe, ist

      ! ! ! Der Edelmensch ! ! !

Dieses Allerhöchste auf Erden aber kann Einer, der nach Mitleid jammert, ganz unmöglich erreichen. Still tragen, keinem Menschen etwas davon sagen, das bringt vorwärts! In dem eigenen Innern steigen, es nach außen aber nicht zeigen, das adelt, und das hebt!

   Darum nun meine Bitte, lieber Junge! Die Sünde ist oft stärker als der Mensch, aber in Einem ist er stärker als sie, nämlich: Thu von heut an, wo Du diesen Brief bekommst, nie mehr etwas Gemeines, weder im Worte noch in der That. Vermeide das Ordinaire selbst im gewöhnlichen Sprechen. Gelingt Dir das, so wirst Du große Macht gewinnen, über Dich und auch über Andre.

   Willst Du?
Dein geheimnißvoller Onkel


Karl May an Adele Einsle · 11.1.1906

Villa Shatterhand               d. 11./1.6
Radebeul–Dresden

Meine liebe, gute Frau Oberamtsrichter!

   Sehen Sie, das war eine Freude, eine schöne, reine, große Freude, als die Nelken hier ankamen. Herzle, welches Blumen fast noch mehr liebt als ich, war ganz begeistert über dieses duftende Geschenk, und Jeder, der da kam, mußte es sehen. Wir waren besonders von den herrlichen blauen entzückt, und ich bitte, mir gelegentlich mitzutheilen, ob und wo man von dieser Sorte Samen oder Fechser bekommen kann. Wenn in einer dortigen Gärtnerei, so werde ich sofort eine Bestellung machen.


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Vielleicht freut es Sie, zu hören, daß einige von diesen Ihren Nelken zu Professor Sascha Schneider gegangen sind, um Herz und Auge dieses großen, unübertrefflichen Künstlers zu erquicken. Er beherrscht das Gewaltige wie kein Anderer und hat doch auch für das Liebliche ein so tiefes, sinniges Empfinden, daß ihn eine solche Blume in kindlich rührendes Entzücken versetzen kann. Sie sehen, meine liebe, liebe Freundin, daß Ihre Güte weiter reicht, als Sie selbst gedacht haben.

   Gestern Abend ging ein Brief an Willy ab. Ich konnte nicht viel schreiben, weil ich, wie immer zu dieser Festeszeit, mit Gratulationen überfluthet werde, die alle beantwortet werden müssen, was wochenlang dauert. Er wird diesen Brief zunächst nicht ganz begreifen. Sollte er sich hierüber äußern, so bitte, sagen Sie ihm, daß jedes Wort nur Liebe sei und dazu wohlerwogen.

   Ich schaue tief in seine Seele. Es grünt. Köstliches will da erblühen, will duften und reifen. Und vor allen Dingen regt sich unter diesem Grün der Geist, zum ersten Mal in Willy's Leben. Glauben Sie mir, meine Freundin: Das Größte und das Wichtigste, was im Innenleben Ihres Kindes geschehen kann, vollzieht sich eben jetzt: Es wird der Geist in ihm geboren, der Geist, den Gott für ihn, für ihn allein bestimmte. Erlauben Sie, daß ich hierzu Hülfe leiste! Lassen Sie keine Pfuscher heran, keine erzieherischen Dummköpfe, keine knöchernen Pedanten! Der Geist, der jetzt erscheinen will, soll nicht als ordinäre Raupe durchs Leben kriechen. Er soll Flügel bekommen, Flügel, die ihn tragen, so wie der Tag vom Morgen- und vom Abendroth zu Gott emporgetragen wird. Sie haben die Ewigkeit Ihres Kindes in der Hand, grad jetzt, grad jetzt!

   Herzle sendet Ihnen ihr Herzle. Ich grüße hierzu und bin und bleibe

Ihr
stets treuer
alter May

Fechser: Schößlinge, Ableger


Adele Einsle an Karl May · 9.2.1906

               München den 9./II.1906

Lieber verehrter Herr Doktor!

»Den guten Herrn Doktor doch einmal aufatmen lassen« – hieß die Parole die Willy ausgab und deren Berechtigung mich abhielt früher für alle erhaltenen lieben Zeilen und Karten zu danken. Zudem kam ich mit den blauen Nelken leider nicht zu dem gewünschten Resultat. Das einzige was ich trotz aller aufgebotenen Liebenswürdigkeit und List


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erfahren konnte ist, daß die Blumen in Frankfurt gezüchtet werden. Angeblich wurde auch dorthin – mit negativem Erfolg – um Samen oder Ableger geschrieben und dann hier auf eigne Hand Züchtungsversuche vorgenommen. Sie ergaben aber noch negativeres Resultat obwohl man eingestand daß man's sogar mit Farben probiert habe. So viel stehe fest daß die blauen Nelken aus einer weißen Sorte gezogen seien, daß wohl der Erde verschiedene Chemikalien zugesetzt würden, wahrscheinlich die Blume auch im Gewächshaus unter einem bestimmten Lichte stehe.

   Ich wäre wirklich glücklich gewesen lieben Herrn und Frau Doktor einmal einen Wunsch erfüllen zu können und doch, nachdem ich den ärgsten Ärger über meinen Mißerfolg überwunden, bin ich so schlecht, im dunkelsten Herzenswinkel etwas wie Freude zu fühlen, daß ich zum 25. dM. wenigstens ein paar Blumen schicken kann die Sie nicht haben und die Ihnen Freude machen und für uns sprechen sollen. – Weiß ja ohnehin nicht wo ich das Danken anfangen und aufhören soll wenn ich meinen verträumten Jungen aufwachen und zu einem Menschen mit ernstem Willen Tüchtiges zu leisten werden sehe. – Wenn er so fortstudiert ist ein gutes Absolutorium sicher. Von uns hört aber auch jedes [???] wem wir das Verdienst daran zumessen. Dafür steht Willy auch nichts höher als Onkel und Tante in Radebeul, so sehr daß mir's manchmal scheint als wäre er sogar auf seine Mama ein bischen eifersüchtig wenn sie Briefe von dort bekommt. Vielleicht scheint es mir aber wirklich nur so.

   Zuweilen will mir wirklich bange werden wenn ich denke: »Was wird die Welt [*] einst aus meinem guten Jungen machen?« Denn jetzt – mit all seinen Fehlern die er hat wie jedes Kind – jetzt ist er noch gut! – Aber es tröstet mich stets der eine Gedanke: Wem May Führer und Freund war und ist, der kann nicht zu Grunde gehen. Er wird vielleicht einmal einen leichtsinnigen Streich machen – nie einen schlechten, und immer den rechten Weg finden. Darum bitte auch ich Sie und die liebe Frau Doktor, so wie ich glaube daß Willy selbst es tut. Behalten Sie ihn lieb – was er dafür geben kann gehört Ihnen – sein ganzes Herz! Vieltausend Grüße von uns allen

Stets Ihre dankbare Adele Einsle.

* Unterstreichung des Satzes mit dickem Stift; sicher nicht von Adele Einsle; vgl. folgenden Brief.

25. dM.: 25.2., der Geburtstag Karl Mays


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Karl May an Adele Einsle · 11.2.1906

Villa Shatterhand         d. 11./2.6
Radebeul–Dresden

Meine liebe Frau Oberamtsrichter!

   Bin sehr beschäftigt, will also nur ganz kurz auf die Sorge Ihres Mutterherzens eingehen, die sich in dem Schrei ausdrückt: »Was wird die Welt einst aus meinem guten Jungen machen?!

Meine Antwort ist:

!Nix soll sie aus ihm machen!

   Sie kann doch nur das aus ihm machen, was er aus sich machen läßt!

   Sie hat sich z. B. die größte Mühe gegeben, aus mir einen in jeder Beziehung todten Mann zu machen. Da habe ich die Zähne zusammengebissen und ihr gezeigt, daß der Mensch, wenn er nur will, stärker sein kann als alle Andern zusammen. Nun habe ich in voriger Woche beim Königl. Oberlandesgericht meinen großen Prozeß gegen meine Feinde glänzend gewonnen, und die Welt, vor der Sie so Angst haben, hat das Gegentheil erreicht von dem, was sie wollte.

   Sorgen wir nur, daß Willy fest werde! Ein Character! Dazu gehört eine Hand, die die [*] ihm imponirt. Deren giebt es in München genug, hoffentlich auch für ihn! Nur dadurch, daß man einem jungen Manne imponirt, bildet man ihn zum Character, anders nicht!!!

   Die Welt aber soll ihm gar nicht imponiren. Wer ein Mann ist, der steht nicht unter, sondern über ihr!

               Herzlichen Gruß!
                  Ihr treuer
                     May

* doppelt bei neuem Seitenbeginn

Prozeß: Am 5.2.06 war Termin im Münchmeyer-Prozeß

Karl May an Adele Einsle · 25.2.1906

Text: Gedrucktes Geburtstagsdankschreiben: An meine Gratulanten[;] Zusatz von Mays Hand:

Für Sie, meine liebe Freundin, noch extra herzlichen Gruß und Dank. Mehr ist mir selbst heut noch nicht möglich.

Ihr alter May.


Bildkarte vom 7.3.1905, siehe S. 27f.


Visitenkarte Karl Mays, s. S. 79.


Foto des Ehepaars May mit Emmy und Rudolf Bernstein. Bernstein war Mays Anwalt in den meisten seiner späten Prozesse. Vgl. S. 56.


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Willy Einsle an Klara May · 26.6.1906

Liebe Tante!

   Herzlich grüßt meine Mama.

   Ich bin so froh, weil Deine letzte Sendung mir gesagt hat, daß Ihr mir wegen meiner Schreibfaulheit nicht zürnt und daß ich zu denen gehören darf, welche, solange sie gut sind, von Euch nimmer vergessen werden – Onkels Drama hat nur den einen Fehler, daß es bei Fehsenfeld noch nicht zu bekommen ist. Gleich morgen soll unser Buchhändler nochmal nachfragen. Ich stehe gerade in der fadesten Zeit – mitten im Absolutorium. Dann will ich meinem Onkel aber gleich schreiben.

Dein so dankbarer Willy in M.

Bildkarte: Landschaft mit Bäumen – Poststempel: München 26.6.06

Anschrift: An Frau Doktor Klara May

Absender: W. Einsle, München, Pilotystr. 4/II


Willy Einsle an Karl May · 5.9.1906

               Krumbach, den 5.IX.06

Du lieber, alter, treuer Onkel!

   Bitte nicht böse sein! Aber Du bist teilweise selbst schuld, wenn ich Dir noch nicht schrieb; denn Du schicktest mir den gemessenen Befehl: »Nun ruhe Dich aus.« Und was ich tue, möchte ich gerne gründlich tun. Da kam vor ein paar Tagen Dein liebes Geschenk und da sagte meine Mama: »Es ist wirklich eine Schande, daß Du noch nicht schriebst« und da hat sie wirklich recht. Und doch hat sie nicht ganz Recht; denn ich weiß, Du hältst mich deshalb nicht für undankbar und daß ich Dir schriftlich danken würde, das wußtest Du auch. Ich habe Dir ja gedankt, jeden, jeden Tag und werde es tun, solange ich lebe. Und da wir ja auf keinen Fall einen Backfisch-Briefwechsel eröffnen wollen, weder was die Schnelligkeit des Bombardements, noch was den Umfang der Briefsendungen anbelangt, so weißt Du, daß es wirklich von Herzen kommt, wenn ich Dir ein herzliches Dankschön sage, Dir und der lieben guten Tante Klara.

   Da die Gymnasial-asinus- und Froschzeit glücklich vorbei ist, will ich nimmer über sie raisonnieren. Nur dumme Menschen können über Dinge sich aufhalten, die längst vorbei sind und zu den Dummen will ich nicht gehören. Die Zeit, wo man vom goldenen Sonnenlicht nur immer bloß quaken durfte und dabei nur immer Sumpfwasser zu schlucken bekam oder wo man im gleichmäßigen Eselstrott, eines hinter dem


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andern, keines aus der Reihe oder gar ohne Zaumzeug, immer nur das altbewährte und so sehr erprobte I-a, I-a brüllen durfte, ist ja Gott sei Dank vorbei. Jetzt soll nicht mehr viel gequakt und gebrüllt werden, jetzt soll nur noch die Tat gelten.

   Da ich nicht »Karriere« machen will, so lasse ich mich auch nicht zum philiströsen Staatsbürger und zahlreichen Familienvater mit »Trampeltritt und Bombenbauch«, wie es so schön im Liede heißt, heranbilden, der den ersten Zettel nimmt, den man ihm hinreicht. Ich habe kein Wachsziehergeschäft und brauche also nicht »kirchlich« gesinnt zu sein, ich habe auch keinen Onkel im Ministerium. Rücksichten gibts nicht.

   Es ist drollig, wie nun auf einmal alles einstimmt vom höchsten lyrischen Tenor bis zum tiefsten Bierbaß in das hehre Lied: »Freiheit, die ich meine« und dabei jeder doch nur seine eigene Trompete bläst: »Freiheit, die ich meine.« Ich will dem löblichen Gebrauche folgen, dabei aber nicht wie die andern die Torheit begehen und mit Gewalt andere zu meinen Ideen zu bekehren suchen. Freilich ich verlange die gleiche Rücksicht und Toleranz.

   Bis jetzt habe ich ein sehr mannigfaltiges Ferienprogramm absolviert. Zuerst hatte ich Mandelentzündung und Fieber, dann war ich auf dem Land und erholte mich, d. h. ich faulenzte. Dann kam auf 10 Tage ein lieber Besuch nach unserer idyllischen Landbehausung, nämlich mein Freund, Klassenprimus, Musiker, Komponist und Realist Robert Heumann (nicht Haimann) mit seiner jüngeren Schwester, dann spielte ich auf dem nahen Schlosse »Wallenburg« fleißig Tennis, dann machte ich auf 8 Tage bei Heumanns in Lenggries Gegenbesuch und dann gings auf einen Tag nach München, gerade an dem Tage, wo das Buch ankam. Jetzt sitze ich in Krumbach und esse, esse, esse und treibe Verwandtenkultus. Ich habe sie ja sehr gerne, aber wenn das noch lange dauert, so wird mein Idealismus alle, ganz und gar alle. –

   Robert und ich sind trotz mancher scharfer Gegensätze der Ansichten die besten Freunde, die es geben kann. Seine Schwester, die meine Freundin ist, mildert, wo sie nur kann. Sie ist eine Seele. Sie heißt Olga und ich habe sie sehr gerne. Das sage ich jedem, der es hören will. Weil sie gerne »May liest« und ich ihr eine große Freude so von Herzen gönne, so habe ich eine große Bitte an Dich: Hast Du noch eine Karte mit Deinem Bild? Wenn ja, so schicke sie ihr bitte, bitte mit Deiner Unterschrift, aber wenn möglich im Kouvert. So wie ich Dich kenne, hältst Du mich wegen dieser Bitte nicht für geringer in Deinen Augen. Ich weiß, Du verzeihst mir, es soll auch das erste und letzte Mal sein, daß ich Dir mit so etwas komme.


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Die beiden haben so unendlich Trauriges durchmachen müssen. In einem Zwischenraum von 14 Tagen sind ihnen Vater und Mutter gestorben und das war, als Robert mit mir das Absolutorium machen mußte. Und trotz alledem hat er so gearbeitet, daß er höchst wahrscheinlich ins Maximilianeum kommt. Robert geht seinen Weg auch so, aber seine Schwester! Die lange Krankheit der Mutter hat auch einiges vom Vermögen verschlungen. Ihre Großmutter zieht nun zu ihnen nach München. Sie hat ihr Haus in Lenggries verkauft und die 72jährige Frau, die 47 Jahre dort lebte, wird sich in München eingewöhnen. – –

– – – – – – –

Robert und ich haben vor in die Studentenverbindung »Apollo« einzutreten, da mein Vater in ihr Philister ist. Doch vor allen Dingen tue ich, was Du für gut hältst und solltest Du Bedenken haben, so bleibe ich eben Obskurant. Sie ist eine nichtfarbentragende Verbindung mit unbedingter Satisfaktion. Dies ist mir sehr angenehm und dann glaube ich, daß mir etwas mehr gesellschaftlicher Schliff nicht schaden kann. Das ist mein Hauptbeweggrund. Mein zweiter ist der, daß ich zu sehr zur Zurückgezogenheit und Vereinsamung neige, was für junge Leute auch nicht gut ist. Um 11 Uhr ist ja jeder Zeit Schluß der offiziellen Kneipe und Trinkzwang herrscht auch nicht, wenigstens lasse ich mir dadurch nicht imponieren.

   Also ich werde Arzt! Bis zur ärztlichen Vorprüfung bleibe ich auf alle Fälle in München, dann gehe ich sicher auf ein Semester nach Kiel. Meine Abituriumsreise mache ich erst nächsten Sommer, weil ich sie erst verdienen möchte. Dabei klopfe ich sicher bei Villa »Shatterhand« an und schau, daß ich Dich auf 5 Minuten stören kann. Vielleicht kommst Du auch durch München. Dann bleibe ich natürlich da. Doch das hat alles noch gute Wege. Einstweilen will ich fest studieren und dabei nicht vergessen, daß ich so bald, so bald reif sein möchte für Deine Universität, Du lieber, lieber Mit- und Nebenmulus. Ach wenn ich nur schon recht, recht bald so weit wäre! Tante Klaras Auftrag habe ich getreulich erledigt. Es grüßt Euch beide recht von Herzen

Euer dankbarer Neffe
Willy

Fräulein Olgas Adresse ist:

M. Steinsdorfstr. 3/4.

Da Du vielleicht jetzt nicht zu Hause bist, so teile ich Dir so bald wie möglich ihre neue Adresse vom 1. Oktober mit.


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Geschenk: Zum Abitur bekam Willy von Mays eine Elfenbeingemme, die May von seiner Orientreise mitgebracht hatte (vgl. den Brief vom 10.9.1909 im nächsten Jahrbuch)

asinus: Esel

philiströs: spießbürgerlich, spießig

Lenggries (Oberbayern): Besuch bei der verwitweten Großmutter Emilie Weiß, die ihre beiden Enkelkinder alljährlich in den Ferien im »Doktorhäusl« beherbergte – und viele Freundinnen und Freunde dazu. Häufig zu Besuch waren dort auch die Maler Joseph (Anton) Weiß und seine ebenso begabte Tochter Olga Weiß, der Schwager und die Nichte der Großmutter Emilie.

Maximilianeum: Stiftung, die bayerischen Schülern mit hervorragenden Abiturnoten ein Stipendium sowie Kost und Wohnung gewährt.

Philister: Mitglied einer Studentenverbindung nach Abschluß des Studiums

Obskurant: Student, der keiner Verbindung angehört

Satisfaktion: Genugtuung in Ehrensachen

Mit- und Nebenmulus: Mulus (Maultier): hier scherzhaft für Student


Willy Einsle an Ehepaar May · 18.11.1906

               18. Nov. 1906

Dem lieben Onkel und der lieben Tante unseren herzlichsten Dank und die besten Grüße. Sobald ich nur ein ganz klein wenig Zeit herausbekomme, will ich einen Brief schreiben. Wenn Ihr einmal nach M. kommt, müßt Ihr meine Freundin kennen lernen. Ich freu mich schon so darauf. Die Kritik in den M. N. Nachrichten ist sehr gut. Nochmals Dank und Gruß von Eurem Neffen

Willy.

Lieben Gruß und Dank Olga Heumann

Bildkarte: Segelschiff – Poststempel: München 18. Nov. 06
Anschrift: Herrn u. Frau Dr. May
Absender: W. E., München, Pilotystr. 4/II

M. N. Nachrichten: Münchener Neueste Nachrichten v. 18.11.06
(Reprint in Kosciuszko, a. a. O. , S. 146ff.)


Willy Einsle an Klara May · 22.11.1906

               22. November 1906

Liebe Tante!

   Ich bin so froh, daß ich Dir auch einmal einen kleinen Gefallen tun kann. Wir müssen Dir ja so dankbar sein für Deine lieben Sendungen. Also bitte, gönn mir die Freude und sei mir nicht bös. an den guten


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lieben Onkel schreibe ich, sowie ich etwas Zeit herausbekomme. Mein Studium und der Beitritt zu Vaters Studentenverbindung »Apollo« fordern sehr viel Zeit. Doch tut mir Stubenhocker etwas Aufrüttelung und Hineinziehung ins gesellschaftliche Leben sehr gut.

   Von meiner Freundin die herzlichsten Grüße. Liebe Tante! Daß sich zwei junge Menschenkinder lieb haben können, wirklich lieb haben, so, wie zwei echte Freunde sich lieb haben, ohne deshalb »für einander zu schwärmen« oder etwas Unschickliches dabei zu finden, kannst Du das verstehen? Ich weiß, daß Du es verstehst und weil Du es verstehst wirst Du ahnen, wie glücklich ich bin. Nur schade, daß die andern Leute so dumm sind. Wir müssen uns furchtbar zusammennehmen, daß wir nirgends anstoßen. Gott sei Dank, daß wenigstens meine Eltern und ihr Bruder es begreifen. Es ist so traurig, daß ihre Eltern tot sind. Ihr Bruder ist ein sehr taletvoller [!] Mensch, ich habe ihn sehr lieb, aber um seine Schwester wirklich verstehen zu können, ist er zu oberflächlich. Ihre Großmutter, bei der die beiden wohnen, ist eine sehr liebe alte Dame, aber um ihrer Enkelin Mutterstelle vertreten zu können, zu alt und altmodisch. Und ich, ich kann nicht so mit ihr verkehren, wie ich möchte, denn ich will sie um keinen Preis bei den Leuten einem dummen Gerede aussetzen. Ist das ein Kreuz. Wir wollen einander wert werden. Und so bemühen wir uns immer und immer besser zu werden, so daß sich keines vor dem andern zu schämen braucht und daß wir uns immer offen und ehrlich in die Augen schauen können. Ich hab ihr die »Himmelsgedanken« gegeben. Ich schrieb ihr:

»Wir wollen gute Menschen werden.
Wir wollen beide den Höhen zustreben.
Dann bleiben die Niederungen des Lebens ganz
von selbst tief unter uns zurück; droben aber
werden wir die Pforten des Gartens Eden finden.
Das ist unser Bund.
Das ist das Geheimnis unserer Freundschaft.«

Warum ich Dir das alles so erzähle? Weil ich weiß, daß es Dich freut, wenn Du erfährst, daß ich nun jemand in München habe, in dessen Augen ich recht, recht gut sein möchte. Ich bitte Dich, hab sie ein wenig lieb, sie ist es schon wert. Sie wird Lehrerin und muß sehr viel lernen. Auch darin will ich mich vor ihr nicht schämen müssen.

   In den Auslagen der M. N. Nachrichten sind jetzt vier Schaukästen mit »Aufnahmen von Dr. Karl May u. A. Abels (München)« gefüllt.

   Dir und meinem guten Onkel einen recht herzlichen Gruß

Dein Neffe Willy


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Willy Einsle an Karl May · 31.12.1906

München, den 31. Dezember 1906, abends.

Lieber Onkel!

   Ich wollte Dir schreiben, was ich alles seit meinem letzten Brief erlebt habe und daß ich hoffe ein gutes Stück vorwärts gekommen zu sein. Ich wollte Dir schreiben, daß ich noch so viel, so viel zu steigen habe, bis ich endlich einmal wenigstens so hoch über der Tiefe stehe, daß ihre Nebel nicht mehr bis zu uns dringen können, – daß mir aber dieses Steigen viel leichter fällt, weil wir zu zweien sind. Ich wollte Dir sagen, daß ich nun endlich, endlich jenen Brief von Dir begriffen habe, in dem Du mich mahnst, in der Religion, in der ich erzogen wurde, auch auszuharren, weil es ganz unnötige und vergäudete Arbeit ist sein Kleid zu wechseln.

   Das alles geschieht, wenn ich Dir die Verse abschreibe, die ich meiner Freundin zu Weihnachten gab. Es war ein ernstes Weihnachten, das wir beide getrennt und doch nicht getrennt verbrachten. Die heutige Silvesternacht ist für uns wohl noch ernster. Wie ernst wir es meinen, werden Dir die Verse sagen, die uns zweien Trost und Mut geben sollen, wenn es uns manchmal recht schwer wird stark zu bleiben. Drum sagen wir auch keinem Menschen etwas davon. Doch Dir sind wir so sehr, so sehr dankbar. Bitte, nimm diese Verse, wie sie gemeint sind. Sie sollen ja kein Gedicht sein. Also bitte nicht kritisieren; ich will sie ja nirgends einschicken und mir bedeuten sie so viel. Fehlt es noch an Klarheit, so wird das schon besser werden, wenn ich ruhig weitersteige.

(An meine Freundin)               Weihnacht 1906

Laß unsern Mut sich nun in Taten zeigen!
Zu lange schon hielt uns die Welt zurück.
Zur lichten Höhe laß empor uns steigen,
Dort winkt uns Paradieses Erdenglück.

*

Die Schwachen, denens bangt vor Sonnennähe
Und ganz an jenem klaren Mut gebricht,
Der nimmer ruht, bis er am Ziele stehe –
Sie mögen bleiben – wir, wir bleiben nicht!

*

Im Gottesfrieden kreisen alle Sterne;
Des guten Willens Frieden bricht hier an,
Hier laß uns sein in selger Erdenferne,
Des Glaubens Schwingen tragen uns hinan.

Doch unser Haus ruht ja auf festem Grunde
Und gute Geister uns zur Seite stehn. –
So wird doch auch in solcher ernsten Stunde
Das Unheil glücklich wohl vorüber gehn.

*

Dann lacht die liebe, liebe Sonne wieder
Herab auf unser kleines Märchenreich
Und süßer Friede senkt auf uns sich nieder.
Wir sind so glücklich froh, dem Kinde gleich!

*

Das lang die Fremde hielt mit starken Banden,
Doch das den Weg zur Heimat endlich fand.
Und endlich hat die Mahnung es verstanden:
Steig auf!! Dort oben liegt Dein Heimatland!


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Ein kleines Haus; – und Du sei seine Seele
Und gehe leise waltend aus und ein,
Daß nie der lieben Sonne Licht ihm fehle.
Denn hier bei uns heißt es: »Im Sonnenschein.«

*

Ein starker Geist soll dieses Haus beleben,
Der Geist der Liebe, aller Schwäche fern.
Der soll ihm ernstes Ziel und Richtung geben,
Dann strahlt auch uns von Bethlehem der Stern.

*

Hier wohnen alle, alle, die wir lieben,
Vereinigt durch ein wunderbares Band.
Auch unsre Toten sind bei uns geblieben,
Die man so fälschlich immer »tot« genannt.

*

Von hier aus laß uns dann die Welt betrachten. –
Bei uns ists licht, ist immer Sonnenschein;
So können wir des Lebens Markt verachten,
Wir haben nichts mit seinem Trug gemein.

*

Wir sehen drunten dichte Nebel wallen
In schemenhaft veränderter Gestalt
Und hören blinden Hasses Stimmen schallen,
Daß es in ewgem Echo widerhallt.

*

Vor solchen Nebelschatten ist uns nimmer bange.
Denn ihre Kraft zerschellt am Felsgestein,
In ihrer Ohnmacht dräuen sie nicht lange
Und plötzlich werden sie verschwunden sein

*

– Doch wenn in grimmer Lust die Winde saußen
Und Tannenriesen selbst entwurzelt stehn,
Wenn starke Wetter unser Haus umbraußen,
– dann – laß uns mutig in die Zukunft sehn!

*

Das ist das oft verkannte Leid der Erde,
Von Gott als unsre Führerin gesandt,
daß es zum Gegenteil uns einstens werde,
Zum echten Glück, auch schon in diesem Land.

Drum mags auch wettern, nimmer kanns uns rauben
Das Gottvertraun und unsern Sonnenschein;
Denn jetzt bewährt sich erst die Kraft im Glauben:
Gott ist der Vater – alle sind wir sein.

*

Noch heißt es kämpfen, ringen, überwinden,
So viel Gefahren dringen auf uns ein.
Da gilt es unser Ich, uns selbst zu finden!!
– So laß uns treue Kampfgenossen sein!

*

Kopf hoch, das Auge fest aufs Ziel gerichtet!
Geht es auch oft durch finstern, dichten Wald,
Wir wissen ja, daß es sich einmal lichtet;
Vergessen ist dann alle Mühsal bald.

*

Der Weg ist steil und ist nicht leicht zu finden,
Doch gutem Willen öffnet er sich gern.
Verwehrt bleibt er nur jenen Ewigblinden,
Die nimmer glauben an den Weihnachtsstern.

*

Kopf hoch, ein hohes Ziel gilts zu erstreben! –
– So laß uns beide fest zusammenstehn!
Und wie wir jetzt uns Mut und Trost gegeben,
Werden wir beide auch die Heimat sehn.

*

Dann soll erklingen unser ganzes Leben,
Bis es verglüht im letzten Abendrot,
Getragen von dem tiefen, ernsten Streben:
Empor zum Licht, wo ewge Klarheit loht!

*

Wie Glockenton soll unser Leben klingen,
– Nicht so, wie Frömmelei dort unten schnaubt.
Hinab zur Tiefe soll er machtvoll dringen,
Die ohne ihn an keinen Sonntag glaubt.

*

Ein heiliges Gebet sei unser Leben,
Vom festen Willen edler Tat verschönt,
Das rein harmonisch soll nach oben schweben
Und das der Herr mit seinem Segen krönt.

– – – – – – – – – – – – – – – – –


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Du lieber Onkel, ich hab Dich so lieb. Es ist Sylvesternacht, ich wollte, ich könnte bei Dir sein. Wie muß ich Dir doch so dankbar sein. Aller Sonnenschein, der in meinem Herzen strahlt und tausend Knospen zu dankbarem Blühen und Sprießen erwecken möchte, der ist von Dir, den hast Du in mein Herz gelegt. Das grühnt und blüht nun und will dankbar sein. Du lehrtest mich empor zur Sonne schauen und hoffnungsfreudig in die Zukunft sehn, Du lehrtest mich auf Gott allein vertrauen und jene ernste Mahnung ganz verstehn:

»Das Eden« hieß die ganze Erdenrund,
Als noch die Menschen Gottes Kinder waren.
Tritt diese Gotteskindschaft wieder ein,
Dann wird das Paradies geöffnet sein.«

Behalte uns beide ein bischen lieb.

Dein Neffe Willy.

Onkel Stauffer ist Dir so dankbar. Wie er so krank war und alle Kraft zusammen nehmen mußte um sich aufrecht zu erhalten, da bist Du es gewesen, der ihm Mut und Ausdauer und Charakterstärke gegeben hat. Das soll ich auch von Dir lernen, hat er gesagt.

         Der lieben Tante einen recht herzlichen Gruß.

»Das Eden«: Schlußzeilen von Mays Gedicht "Die Ehe" aus "Himmelsgedanken"


Klara May an Familie Einsle · 3.3.1907

Herzlichsten Dank! Die lieben Blumen kamen frisch und duftig hier an. Der ganze Zauber ihrer Seele lag noch über sie ausgebreitet.

[Text Klara May]

Leider nur kurz, weil Allzuviele warten.
Ihr alter, treuer

Karl May.

[Am oberen Rand der Karte, auf dem Kopf stehend, Text Klara:]
Herzlichste Grüße auch von Ihrer

Klara May

Bildkarte: mit Erläuterungstext Klara Mays »Karl May in seiner Wohnung in Jericho« – Poststempel: Radebeul 3.3.07

Anschrift: An die liebe Familie Einsle. Oberamtsrichter


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Willy Einsle an Karl May · 11.4.1907

München, den 11. April 1907

Lieber Onkel!

   Also nun ists doch endlich Frühling geworden! Weißt Du, so ein echt deutscher Frühling: Er kommt so allmählich, ganz langsam, man merkt es kaum; aber kommen muß er – das ist Naturgesetz –, trotz Märzenschnee und Aprilregen. Jetzt ist erst Frühling. Damals, weißt Du, wo der große Mayrummel (Hetze auf der einen Seite, Fanatismus auf der andern) war, damals hat wohl die Wintersonne viel Schnee und Eis geschmolzen, das hat aber ein großes Chaos von Schlamm und Schmutz gegeben. Gott sei Dank, jetzt wird das alles weggeschwemmt und nun kann es endlich grünen. Endlich? Hat nicht vielleicht schon hie und da eine Anemone ihr Haupt aus dem Schnee gesteckt? Deine Dschamikun, ich weiß, Du hast sie so lieb.

   In meiner Verbindung ist einer, der hat gesagt: »May?! Das ist doch ein längst überwundener Standpunkt. Der ist tot, mausetot!«

   Dem guten Mann erlaubte ich mir zu erwidern: »Der, und tot? Der fängt ja erst an! Wartets nur ab, der wird euch allen mit einander noch ganz unangenehm lebendig!«

   In unserer Verbindung hat sich ganz von selbst aus uns jungen Füchsen eine Art von Literaturecke zusammen gefunden. Ganze fünf Mann! (In einer Studentenverbindung!) Und wir lassen über den echten Karl May nichts kommen! Auch andere (Burschen) lesen gerne May, sogar der Verbindungsdiener Franz. Ich muß ihm immer auf die Konvente, wo er draußen sitzen muß, einen Band mitbringen.

   Und doch und doch bekomme ich immer wieder die Frage vorgelegt: Hat May das wirklich alles selbst erlebt? Ich persönlich kann ja diese Fragestellung überhaupt nicht begreifen. Ich könnte mich darüber auch keine Viertelstunde lang aufregen. Aber ist den andern diese Frage wirklich so sehr zu verübeln? Daß diese Frage für die Leser scheinbar Wichtigkeit haben muß, zeigen ja sämtliche Broschüren, die über Dich geschrieben wurden. Die einen (auch Dittrich) äußern sich darüber mit Vorsicht. Erst Wagner äußert sich klar, indem er das betont, was ich zu Robert und andern sagte, wenn ich die »Himmelsgedanken« gegen den Vorwurf des Predigertons verteidigte:

   »Ja das wäre richtig, wenn sie nicht alle, alle selbst erlebt wären, es sind aber nicht Kanzelworte für die sonntägliche Gemeinde schön erdacht, sondern erlebt und mit dem eigenen Herzblute geschrieben.«

   Und doch hat Wagner, mein ich, nicht ganz Recht, wenn er, wie ich glaube, daß er es tut, auf einmal alle realen Erlebnisse leugnet. Er sagt


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zwar, das Bild im 19. Bande sei gegen Deinen Willen erschienen, aber daß es überhaupt vorhanden ist, das beachtet er nicht.

   Doch das ist ja alles Blech. Wie die Leute – ich meine die Leser – sich nur über solche Dinge den Kopf zerbrechen können! Aber so ists immer. Über Gott, über den Glauben, über die Liebe da streiten sie bis zum letzten Augenblick, da kommen sie sich immer wieder in die Haare, denn das ist billiger als diesem ihren Gott zu gehorchen, diesem Glauben und der Liebe gemäß zu leben.

   Ich wollte Dir nur einmal darüber schreiben, weil die Leute immer und immer wieder fragen. Du sagst im Silberlöwen IV: Du habest es den Leuten zu leicht gemacht, Dich zu verstehen. Das sei der einzige Fehler, den Du Dir vorzuwerfen habest. Ich glaube aber, Du hasts den Leuten doch zu schwer gemacht.

   Lieber guter Onkel, bitte schreib mir über diese Punkte nicht!! Sie sind für eine Antwort zu dumm. Und ich wäre so stolz darauf, wenn Du mich zu denen zähltest, die sich über solche Nebensächlichkeiten den Kopf noch lange nicht zerbrechen.

   Soviel an den Schriftsteller Dr. Karl May. Und nun kommt mein lieber, lieber Onkel May an die Reihe. Über den disputiere ich nie. Dazu hab ich ihn viel, viel zu lieb. Ich wache eifersüchtig darüber, daß mir der unangetastet bleibt. Nur die, die mir am aller, allernächsten stehen (eigentlich überhaupt nur noch meine Freundin) dürfen teilhaben an meinem Onkel May. Möchten doch recht viele Menschen so wie ich ihren Onkel May haben!!

   Über mich selbst brauche ich Dir nicht viel Neues zu schreiben. Was ich gerne erreichen möchte, daß ich es einst erreichen werde, daß das aber noch viel Arbeit und Mühe kostet, das habe ich Dir ja alles im letzten Brief gesagt. Ich würde heute nur noch gern über Deinen Brief vom 12.8.5. reden. Bitte, bitte werde nicht böse! Du sagst da:

   »Du wirfst religiöse Fragen auf. Mein lieber Junge, warte damit noch ein wenig. Du bist nämlich noch im Wachsen. Alles irdische Denken bedarf der Reife und diese pflegt bekanntlich im Sommer, oft gar erst im Herbst des Lebens zu beginnen.«

   Schau, Onkel, wenn ich ehrlich sein soll, dann muß ich eingestehen, daß ich diese Stelle ganz nie verstanden habe.

   Ich behaupte ja nicht, daß das, was ich durch Nachdenken finde, richtig ist, richtig sein muß, ich weiß, in meinen Ansichten über religiöse Dinge, über ethische und andere Fragen, wird sich gar vieles klären, vertiefen, verändern und abstoßen. Aber ist denn das wirklich geistiger Hochmut, daß ich überhaupt schon »Ansichten« hab, oder doch solche bekommen möchte, daß ich nicht immer ja und Amen sag zu dem, was


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mich ältere Leute lehren wollen, weil sie sich durch ihre Erfahrung dazu berufen fühlen. Ich glaube die Erfahrung der Alten hat die Jugend noch niemals anders gemacht. Das ist es ja gerade, daß jede Generation ihre eigenen Erfahrungen bekommen muß.

   Meinem Freund Robert sind zwar alle religiösen und philosophischen Fragen höchst gleichgiltig – er ist zu phlegmatisch dazu –, aber Musik, das ist sein Element, da ist er mit Leib und Seele dabei. Und nun denk Dir, er sollte darauf verzichten müssen und auf eine spätere Zeit sich vertrösten müssen, wo er reifer sei. Meine Freundin (seine Schwester) und ich dagegen, wir können uns lange, stundenlang über solche Fragen unterhalten ohne auch nur im geringsten zu ermüden, nein, wir sind grad wie verjüngt und erfrischt darnach. Wir bekommen zwar viel Spott zu hören deswegen, aber das macht nichts. Und nun sollen wir diesen Drang in uns unterdrücken und warten, wo doch alles in uns nach Wahrheit und Klarheit schreit und dürstet? Nein, nicht wahr, so hast Du es nicht gemeint? Wir werden nie unsere Pflicht darüber versäumen und wir werden auch nie unsere Ansichten als maßgebend und unumstößlich richtig hinstellen, als ob sie sich vielleicht nicht von Grund auf verändern könnten mit der Zeit und im Laufe unserer Entwickelung.

   Und nun zum andern Punkt. Auf meine religiösen Fragen und Bedenken gabst Du mir im gleichen Brief die Antwort: »Du bist als Katholik geboren und getauft und wirst als guter Katholik die Augen schließen, so hoffe ich! Aber es gibt wie überall auch hier ein Hoch und Niedrig. Bleib nicht unten, sondern erhebe Dich, steig auf!

   Ich weiß, mein Brief war damals ziemlich katholisierend gehalten und zu meiner Beruhigung war dies damals die einzig richtige Antwort.

   Nominell bleibe ich ja bei meiner Konfession, ebenso wie Du nominell der Konfession angehörst, in die Du getauft wurdest. Aber, wenn ich einst jene Höhe erreiche, wenn ich, wie ich im letzten Brief schrieb, so hoch über den Alltag und das Marktgetriebe hinaufgewandert bin zur reinen, lichten Höhe, daß nicht mehr einzelne Stimmen dissonierend zu mir dringen können, sondern daß ich nur mehr das Ganze, die Gesamtheit in ihrer reinen Harmonie vor mir ausgebreitet sehe – bin ich denn dann wirklich noch ein »guter« Katholik. Ich glaube, daß das nicht möglich ist.

   Denn wenn ich sage: Was knechtet ihr den Geist mit Glaubensdogmen? »Zuerst suchet nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit.« Das Reich Gottes aber liegt in der Tat, nicht im Worte. – Bin ich dann noch ein Katholik?

   Ich kenne niemand, der sich zwischen mich und meinen Gott stellen


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dürfte. Deshalb kann ich auch heuer nicht zum Beichten gehen, denn wenn ich sagte: Ich habe niemehr am Sonntag eine Messe vollständig besucht, aber ich bereue das nicht – nicht aus Hochmut, sondern weil ich es wirklich für keine Sünde halte, ich lasse mir weder vorschreiben, wann und was ich zu beten habe noch wann und wielange ich in der Kirche zu sein habe, – dann würde ich ja doch nicht absolviert.

   Ach, könnte man doch über allen Kirchen anschreiben: Laßt das viele Beten, geht heim und tut eure Pflicht. Werdet Persönlichkeiten, aber keine Heerdenschafe, die blau für grün halten, wenn es die Obern wünschen!

   Berechtigtes Selbstvertrauen, harmonisch zu werden, das ist die schwerste Kunst im Leben. Und die gelingt uns nur, wenn wir zwar dem Schatten neben dem Lichte Daseinsberechtigung gönnen, wenn wir aber auf eigenen Füßen stehen, – ohne eigene Verantwortlichkeit bleiben wir Schwächlinge unser Lebtag.

Dein Brief, den Max Dittrich veröffentlichte, der hat mir gefallen, so möchte ich werden:

   »Der aber, der sich einst den Weg und die Wahrheit nannte, der wird noch sein, was er war: Jesus Christus gestern und heut und in alle Ewigkeit! An diesen glaube ich und an diesen halte ich mich, an ihn und keinen andern! Denn wenn einst jemand kommt, vielleicht der Vater selbst, und mich fragt, so wünsche ich, daß ich gefunden werde. So nämlich wills der Herr und Vater haben! Also ich bin Christ, nur Christ!«

   Lieber Onkel, bitte, halt mich nicht für recht hochmütig. Du tätest mir Unrecht. Es gibt nur einen Punkt. Da kann ich aber schon unausstehlich hochmütig werden. Nämlich wenn mir einer damit kommt, daß man etwas hochhalten müsse, weils die Eltern und Voreltern auch getan haben, daß man etwas für richtig halten müsse, weil mans halt einmal so für richtig halte, daß man alte (veraltete) Sitten und Gebräuche hoch halten müsse und beibehalten müsse – aus Pietät.

   Ich sag Dir, ich bin so furchtbar pietätlos.

   Nur eins möchte ich so gern lernen. Das wirst Du auch in diesem Brief vermissen – den ruhigen, klaren Ton. Darüber hast Du mir einmal geschrieben:

   »Das wahre, gerechte Prüfen kommt nicht aus der Mißgunst oder Zweifelsucht, sondern es ist der freie, aufrichtige Blick des Geistes auf den Gegenstand, der ihm der Mühe wert zu sein scheint ihn kennen zu lernen. Dieses wahre Prüfen ist stets ruhig und gütig, niemals gehässig.«


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   Wenn man wie ich noch über die Ohren drin steckt in der Sache, ist das sehr schwer, aber ich will und werde es lernen.

Dem lieben Onkel und der guten Tante recht herzliche Grüße
               von ihrem Neffen
                  Willy.

Meine Freundin grüßt recht, recht freundlich.

   Täglich hab ich während des Semesters an den Fenstern des Hotel Leinfelder hinaufgeschaut, ob Du nicht vielleicht den Kopf zufällig herausstreckst, aber es war nichts.

   Unser Buchhändler bekommt von Passau nach dreimaliger Anfrage sogar bei bezahlter Rückantwort keinerlei Antwort und noch viel weniger die bestellten Exemplare von Wagners Broschüre. Man sollte meinen, es sei in des Verlegers eigenem Interesse gelegen, Exemplare abzusetzen. Ähnlich ging es auch im Anfang mit Dittrichs Schrift. Jetzt bekommt man sie anstandslos.

Der lieben Tante für all ihre Freundlichkeit recht herzlichen Dank.

Wagner: bezieht sich auf die Broschüre des Chefredakteurs der Passauer »Donau-Zeitung« Heinrich Wagner (Karl May und seine Werke; sie erschien ursprünglich als Zeitungsserie und 1907 als Buch (Reprint in: Schriften zu Karl May, a.a.O.))

Bild im 19. Bande: 1896 erschien »Old Surehand III« mit einem Kostümfoto Mays als Frontispiz: »Old Shatterhand (Dr. Karl May) mit Winnetous Silberbüchse«.

Brief Max Dittrich: vgl. Anm. zum Brief vom 17.4.1905; das Briefzitat findet sich in Dittrichs Schrift, S. 202 – statt »mich fragt« steht dort allerdings »nach mir fragt«.

»Das wahre, gerechte Prüfen«: Zitat aus Mays Brief vom 12.8.1905


Karl May an Willy Einsle · 16.4.1907

Villa Shatterhand               d. 16. 14. 7
Radebeul–Dresden

Lieber Willy.

   Dank für Deinen Brief! Ich kann Dir heut nur diesen Dank senden. Meine Zeit ist kurz.

   Bitte, streite Dich nicht mit dummen Jungens, die gegen mich sind! Wenn Frösche quaken bleibt man doch höchstens stehen, um über ihre Breitmäuligkeit zu lachen, nicht aber um mit ihnen zu streiten.

   Grüße mir die Literaturecke, und gieb dem Verbindungsdiener die inliegende Karte.

               Dein alter
                  Onkel Karl


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Klara May an Adele Einsle · 23.5.1907

Herzliche Grüße Ihnen Allen
            Ihre
               Mays.

Salzbrunn
Villa Belvedere

Farb-Bildkarte, Motiv: zwei Kinder unter einem blühenden Baum (Flieder), rechts Straßenlaterne (evtl. Bad Salzbrunn) – Poststempel: Bad Salzbrunn 23.5.07

Anschrift: Frau Oberamtsrichter Adele Einsle


Klara May an Adele Einsle · 1.10.1907

Meine liebe Frau Oberamtsrichter!

Vielen Dank für die lieben Blumen. Sobald ich kann schreibe ich mehr. Für heute Ihnen und unserem lieben Willy tausend herzliche Grüße von
Ihren alten, Sie
         herzlich liebenden
                  May's

Bildkarte: beschriftet von Klara »Karl May am Siloahteich bei Jerusalem« – Poststempel: Dresden 1.10.07

Text von Klara geschrieben

Anschrift: Frau Oberamtsrichter Einsle.


Karl May an Willy Einsle · September 1907

Du hast keine Zeit für uns, haben wir auch keine Zeit für Dich. Wir wissen ja gar nicht, ob Du uns noch willst.

Onkel Klara.
Tante Karl.


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Visitenkarte Karl Mays: rückseitig beschrieben, ohne Datum – abgeschickt offenbar während des Münchner Aufenthalts der Mays Mitte September 1907 (evtl. 2 Tage vor der Abreise aus München, vgl. die folgenden Briefe und den Brief Klaras von März/April 1908)

Text und beide Unterschriften von Karl May.


Willy Einsle an Klara May · 5.10.1907

               München, den 5.X.07

Liebe Tante!

   Verzeih, daß ich Dir Mühe mache, aber, ich halts in diesem unklaren Zustand einfach nicht länger aus. Bis jetzt glaubte ich, Ihr seid auf Reisen und würdet sicher auf dem Rückweg wieder über München kommen. Onkels Karte hielt ich für Scherz oder vielmehr ich redete es mir ein. Nun ist aber von Radebeul aus die Sendung an meine Mama angelangt. Da wurde ich irre und nun weiß ich gar nicht mehr, wie ich mir Euer Schweigen erklären soll, denn – – einer Schuld bin ich mir nicht bewußt. Und sollte Onkel wirklich einen Grund haben, mir ernstlich böse zu sein, einen Grund, der Euch veranlassen kann durch München zu kommen und dann bei der Abfahrt mich davon zu benachrichtigen, daß Ihr hier gewesen waret, einen solchen Grund kann ich mir nicht als gerechtfertigt denken.

   Am 18. IX. schrieb ich sofort einen Brief, damals hielt ichs noch für Scherz. Nun bitte ich Dich, wenn Du nicht willst, daß mein Studium


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unter dieser Unklarheit leidet, schick mir eine Karte, ob Onkel den Brief vom 18.IX. erhalten hat. Ein kurzes »Ja« oder »Nein« ist ja gleich geschrieben und Klarheit muß ich haben und wenn ich hören müßte, daß Onkel gar nichts mehr von mir wissen wollte.

   Zu meiner Freundin hab ich noch vor kurzem gesagt: Ich besitze etwas, um das mich so viele, viele beneiden würden, wenn sie wüßten, nämlich: Wenn mich auch alle andern falsch und ungerecht beurteilen würden, ich hab meinen Onkel, der mich immer verstehen würde. Das Herrlichste, was es auf Erden gibt, ist das Vertrauen, das unerschütterliche Vertrauen zweier Menschen, die sich kennen, die sich nie, niemals entfremden und wenn sie jahrelang körperlich getrennt waren und nur die Erinnerung sie noch verband.

   Schau, wenn Ihr glaubt, ich hätte keine Zeit für Euch, so ist das bittere, bittere Ironie, denn ich hab ja immer nur das Bemühen Euch nun und nimmer zur Last zu fallen. Ich bin ja schon so stolz darauf gewesen, daß ich Onkel und Tante sagen durfte und daß Ihr mir erlaubtet, Euch recht, recht lieb haben zu dürfen. Einmal hab ich Onkel gebeten, meiner lieben Freundin sein Bild zu schicken, weil diese Postkarte nicht zu haben war. Wenn Ihr wüßtet, was mir das Skrupel gemacht hat. Wenn Ihr meine Freundin fragen könntet, die könnte Euch sagen, wie sehr und wie oft ich mich darnach sehnte, mit Euch wieder einmal reden zu dürfen.

   Aber jetzt. Soll ich ganz ehrlich sein? Dann muß ich bekennen, daß ich mich eigentlich schon geärgert habe und mich jetzt noch ärgere. Denn wenn Onkel mir böse war, aus einem mir unbekannten Grund, dann konnte doch jedenfalls meine Mama nichts dafür. Und jetzt bin ich so furchtbar stolz. Schau, jetzt reuts mich schon wieder, daß ich das alles geschrieben habe. Eigentlich wollte ich Dich bloß bitten, mir mitzuteilen, ob der Brief angekommen ist. Bitte, bitte, seid mir nicht böse, daß ich offen bin, aber das kommt davon, daß ich nie, nie mir über mich selbst etwas vor machen will, selbst auf die Gefahr hin deshalb mißverstanden zu werden.

   Zur Strafe für diesen meinen Hochmut lege ich meine neueste Photographie bei, denn es ist ja möglich, daß nun Ihr es seid, »die mich vielleicht nicht mehr wollen.«

   Im Stillen, weißt Du ganz im tiefsten Winkel meines Herzens, da hoff ich immer noch ein bißl, daß es vielleicht doch nicht so ist.
            Im Voraus dankt Dir
               Dein treuer
                  Neffe Willy aus M.

18.IX.-Brief: nicht erhalten

Scherz: Bezieht sich auf die Karte vom Sept. 1907.


Wiedergabe der Bildkarte vom 1.1.1908 (Ehepaar May; vgl. S. 86).


Karl May am Morgen des 25.2.1908, seines 66. Geburtstages, vgl. S. 87.


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Adele Einsle an Klara May · 6.10.1907

               München, den 6. Oktober 1907

Verehrte liebe Frau Doktor!

   Nun ist mir Willy richtig zuvorgekommen und hat Ihnen geschrieben! Ich weiß zwar nicht was, aber es wird wohl über das, anläßlich Herrn Doktor's letzter, niederdonnernder Karte, öfter erörterte Thema von der Bescheidenheit sein, ohne die man wirklich weiter zu kommen scheint, – selbst in der Villa Shatterhand. – Ja wenn ich nur wüßte wie man es fertig bringt, in dieser Villa, für 1/4 Stündchen, nicht nur Frau sondern auch Herrn Dr. May zu Gesicht zu bekommen? – Wie gerne wäre ich schon längst nach Dresden gefahren, aber – unbescheiden wollte ich nicht sein, doch Sie nicht »Beide« zu sehen, wenn auch für die kürzeste Zeit, wäre eine derartige Enttäuschung, daß ich lieber auf ganz Norddeutschland inklusive Sachsen verzichte! – Vielleicht dürfte man Ihnen einmal in einer Ausruhstation à la Salzbrunn einen kurzen Besuch abstatten? Aber dort wollen Sie eben Ihre Ruhe haben –. Und da fahren Sie durch München, – ohne uns wenigstens an die Bahn zu bestellen, wenn Ihre Zeit wirklich nicht zu längerem Verweilen reichte! Das ist grausam, – marterpfahlig! Wenn Willy gesündigt hat, – bin nicht ich furchtbar mitgestraft? Ob ich mein Gewissen auch vor und rückwärts durchforsche – ich finde höchstens einige Briefe die Sie nicht erreichten, – aber ich wollte Sie eben nicht belästigen. Ich denke Sie mir so ungefähr auf der obersten Sprosse der Himmelsleiter; – darf ich kleines hier tief unten herumwimmelndes Erdenmenschlein Ihre kostbare, Ihre heilige Zeit ungebührlich für mich in Anspruch nehmen? Umsomehr als es schon Willy tut? Er hütet seine Correspondenz als größtes Geheimnis! Wie leicht würde ich Ihnen also genau dasselbe schreiben, Sie dasselbe fragen wie er!

   Ich hoffe aber daß er Ihnen doch berichtet hat wie sehr wir alle uns über die Rechtfertigung freuten die der endlich glücklich zu Ende gegangene Proceß brachte, wie über die Anerkennung die verehrten Herrn Doktor von allen Seiten gezollt wird, selbst von Blättern die ganz andere Ansichten vertreten als die »Reiseerzählungen«. Die »Neueste« davon wird wohl auch in Buchform heraus kommen? Für alle diese Notizen, die wir mit großem Interesse verfolgen, herzlichen Dank.

   Seit langem schon lese ich täglich May; – es hat mir über arg Unangenehmes und viele Schmerzen hinweg geholfen. Es ist mir dann manchmal wirklich als ob ich mit Ihnen beiden sprechen würde. Aber es weckt auch die Sehnsucht, daß dies tatsächlich wieder einmal so sein


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möge! Wenn ich jetzt fort könnte, ich glaube ich käme doch statt meines Briefes selber an, – und Sie sind hier durchgefahren – – – – – – – – – – Trotzdem die herzlichsten Grüße lieben Frau Doktor und verehrten Herrn Gemahl

Ihre Adele Einsle.

Neueste: "Der 'Mir von Dschinnistan" im "Deutschen Hausschatz"


Klara May an Willy Einsle · Mitte Oktober 1907

Villa Shatterhand
Radebeul–Dresden

Mein lieber Willy!

   Vielen Dank für Dein Bild. Du scheinst die Absicht zu haben, ein Prachtkerl werden zu wollen. Nun, uns kanns recht sein!

   Daß wir Dir zürnen, glaubst Du doch selbst nicht. Du schreibst solche Gedanken jedenfalls nur, um etwas zu schreiben, was uns zum Schreiben veranlassen soll? Du hast in Deinem jungen Leben Alles gethan, um Dir unsere Liebe zu erringen, und Du weißt, das Errungene hat Ewigkeitswerth.

   Offen gestanden, wir hätten Dich und Deine gute Mama in München gern gesehen. Wir erwarteten Dich bestimmt. Wie man Dir bei Leinfelder sagen konnte, daß wir nicht da sind, verstehe ich nicht. Wir hatten viel Besuch; keinem begegnete Dein Mißgeschick. Nun, Du holst die Sache im kommenden Sommer nach. So Gott will.

   Hier hat sich in der Zwischenzeit auch viel und Wichtiges zugetragen. Der große Fischerprozeß ist für uns siegreich zum Ende geführt worden. Sobald ich sie habe, erhältst Du die Veröffentlichungen, die nun den Abschluß der Mayhetze herbeigeführt haben. Ich danke Gott aus vollster Seele, daß nun endlich, endlich Frieden ist. Nun kann der liebe, gute Onkel froh und in Ruhe weiter arbeiten.

   Grüße Deine kleine Freundin recht herzlich von uns und empfange Du viele, innige Wünsche für Dein ferneres Wohlergehen, von Deinen in Liebe Deiner gedenkenden

Onkel und Tante
May


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Willy Einsle an Karl May · 17.11.1907

               München den 17.XI.07

Mein lieber, lieber Onkel!

   So sehr hab ich mich schon lang nimmer gefreut als unlängst, als ich die Veröffentlichung in der Zeitung las. Nun ist also der leidige Prozeß wirklich, wirklich aus der Welt geschafft und Du stehst endlich gerechtfertigt da vor allen denen, die Dich so gern verdunkelt hätten, weil sie sich beim Licht nicht wohlfühlen. Vielleicht ahnst Du, wie stolz es uns macht und wie froh wir sind, daß wir nicht zu denen gehören, die jetzt erst, vielleicht oft genug zu ihrem großen Mißvergnügen, die eigentliche »Wahrheit über Karl May« ans Licht kommen sehen.

   Für den Brief meiner lieben, guten Tante danke ich recht herzlich. Ich bin so froh, daß das mit München, mit dem Besuchen, ein allgemeines großes Mißverständnis war. Du ahnst gar nicht, wie mich das aufgeregt hat. Denn bis Tantes Brief kam mußte ich doch glauben, Ihr wolltet mich nicht sehen und Ihr wäret mir böse. Wie mir dieser Mensch von einem Portier nur sagen konnte, Ihr seid nicht da! Gott sei Dank, Ihr seid mir nicht bös und mit dem Umstand, daß ich Euch nicht sehen konnte, muß ich mich halt abfinden in der Hoffnung auf nächstes Jahr. Eure Grüße an meine Freundin haben mich so sehr gefreut. Der arme Kerl muß so viel durchmachen. Ihr Bruder Robert ist hier im Maximilianeum und sie ist seit September in Memmingen, weil sie Lehrerin werden will. Kaum daß sie hier bei Ihrer Großmutter ein neues Heim gefunden hatten, mußten sie schon wieder auseinander. Robert ist wenigstens hier, aber die Olga. Mit 17 Jahren so mutterseelenallein nach auswärts, das ist so furchtbar. Aber ich hab jetzt nicht mehr so viel Angst um sie, weil ich weiß, daß sie stark genug ist es zu ertragen.

   Mein lieber Onkel, ich weiß, daß Du mich ein bissel liebhast und drum weiß ich auch, es freut Dich, daß ich eine so gute Freundin gefunden habe. Und damit Du siehst, wie gut wir zueinander stehen, schreibe ich Dir die Verse, die ich ihr zum Abschied gab. Doch damit Du sie nicht falsch verstehst: außer ihr und mir hat kein Mensch eine Ahnung davon. [Es folgen 23 Vierzeiler, die hier aus Raumgründen nicht abgedruckt werden.]

Von meiner Freundin recht viele, viele Grüße und sie hat Dich so lieb.

   Mein Studium gefällt mir sehr; ich bin jetzt fleißig, dies um so mehr, als ich voriges Semester als Senior meiner Verbindung nicht viel arbeiten konnte. Aber ich glaube doch nicht, daß es mich später reuen wird, aktiv geworden zu sein. Concors Amicitia vitae decus ist unser Wahlspruch und das entschädigt einen für vieles. Ich hab schon drei Leib-


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füchse [Leibfüchse]. Mein Freund Robert ist ja auch bei der Verbindung. Er ist ein vorzüglicher Musiker, mein einer Leibfuchs auch. Ende des fünften Semesters, also in fast drei Semestern, heißts die ärztliche Vorprüfung ablegen. Das gibt noch ein Gebüffel. Leider habe ich so wenig Zeit für meine allgemeine Ausbildung. Wenns nur später besser wird.

   In meinen religiösen Grüblereien bin ich zum Stillstand gekommen. Als Nichtfachmann werde ich über diese theologischen Dinge doch nie zu voller Klarheit kommen, das kann ich gar nicht ohne Verletzung anderer, wichtigerer Pflichten, ergo kanns unser Herrgott von mir auch nicht verlangen und ergo kann von der Lösung solcher Fragen auch nicht der wahre Herzensfriede abhängen, denn sonst wäre es nur verhältnismäßig wenigen Menschen, den Fachgelehrten, möglich glücklich zu werden und Klarheit zu haben.

   Ich hab den guten Willen nach Möglichkeit die Wahrheit zu suchen und ein guter Mensch zu werden und das genügt. Sollte ich also aus Berufspflichten nicht Zeit haben, herauszudifteln, wo die Wahrheit steckt, – im Katholizismus oder im konfessionslosen Christentum – wenn ich mich nach Kräften bemühe ein guter Mensch zu werden, so wird mich der Herrgott einmal nicht aus dem Himmel werfen, bloß weil die rechte Glaubensform, die alleinseligmachende, gefehlt hat. Amen.

   Das ist mein Trost, wenn dumme Gedanken kommen, die einem seine Gemütsruhe rauben wollen.

Ein guter Mensch will ich werden:            25. Juni 07

1. Lerne Dich im Ganzen finden,
Dessen Du ein Teil nur bist.
So nur wirst Du überwinden,
Was in Dir voll Selbstsucht ist!

*

3. Und voll Weltschmerz kleinlich klagen,
Weil Du so viel leiden mußt,
Weil kein Mensch Dir hilft ertragen
All das Leid in Deiner Brust,

*

Einmal lernst Du doch entsagen. –
– Wenn der größte Sieg gelang,
Wunschlos, still und ohne Klagen –
– Bist Du stark voll Lebensdrang.

*
2. Doch nun sollst Du nicht verzichten
Auf Dein Ich; – nein, wahr es wohl –
Nur nicht Götzendienst verrichten
Vor dem eigenen Idol!

*

Solches Jammern laß den Schwachen;
Starke Menschen halten still,
Und befreiend klingt ihr Lachen,
Wenn der Schmerz sie läutern will.

*

Stark und frei formt sich das Leben,
Wer sich selber niederrang;
Andre dann zur Sonne heben
Sei Dein Werk Dein Leben lang.

*


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»Treu und wahr«, dies die Devise –
Treu und wahr bis in den Tod;
Treu – wenn alles Dich verließe,
Wahr – wenn auch Verderben droht!

*

Wo die Bergesspitzen glühen,
Sonnen leuchten auf den Höh'n,
Funkelnd dann ins All versprühen,
Noch ersterbend groß und schön.

Treu dem Freund und wahr dem Leben,
Mutig ihm ins Aug geschaut!
Selber wunschlos steig Dein Streben
Dorthin, wo die Ferne blaut,

*

Wie die Berge, einsam ragend
Sei Dein Leben, still und klar,
Weltbejahend, weltendsagend,
Lebensmutig, treu und wahr!

– – – – –

So und nun ganz zum Schluß will ich noch den Backfisch spielen und Dir als tiefstes Geheimnis anvertrauen, das ich Dich schon einmal, der 1. Juni 1905 ist das Unglücksdatum, angedichtet habe. Es klingt zwar so albern, immer wieder zu sagen, daß ich Dich so lieb habe, denn das sagen Dir ja so viele, viele, aber die bewußten Verse will doch noch herschreiben teils des Kuriosums wegen, teils um mein Gewissen zu erleichtern. Mach halt wie schon so oft auch jetzt den geduldigen Onkel.

1. Juni 05

Recht wie ein Epheu seine schlanken
Gezweige um die Eiche schlingt,
Will ich an Dir empor mich ranken,
Wohin nicht Haß, nicht Mißgunst dringt.

*

In meinem Herzen stehts geschrieben:
Dies böse Herz hat Dich so lieb
Und wird Dich immer, immer lieben
Und bettelt nur: Du, hab mich lieb!

So heiß, so dürstend war mein Sehnen
Nach nur ein ganz klein wenig Licht;
Kaum durfte ich Erfüllung wähnen,
Doch Gott, der Herr, vergaß mich nicht!

*

Recht wie ein Epheu will ich ranken
An Dir empor, zum Licht, zum Licht!
Der liebe Herrgott soll Dirs danken
Was Du mir tust; ich kann es nicht.

– – – – – – – – – – – –

Dich und die liebe Tante grüßt recht, recht herzlich

Euer alter, treuer, dankbarer Willy aus M.

Concors amicitiae vitae decus: Einträchtige Freundschaft (ist) des Lebens Zier

Leibfüchse: Studenten in den ersten beiden Semestern, die einem älteren Verbindungsstudenten zugeordnet sind


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Klara May an Adele Einsle · 27.12.1907

Vielen Dank für Ihre lieben Wünsche!

   Hoffen wir auf ein frohes Wiedersehen in Radebeul. Kommen Sie aber auch alle zusammen, und schreiben Sie so rechtzeitig, daß ich Ihnen antworten kann, ob mein Herzensmann frei ist. Von ganzem Herzen wünschen wir Ihnen Allen ein gesegnetes neues Jahr

Ihre alten
May's

Bildkarte: »Souvenir d'Athènes. Acropole avec le temple de Thesée« – Poststempel: Radebeul 27.12.07

Text von Klara

Anschrift: Frau Oberamtsrichter Einsle & Familie


Familie Einsle an Eheleute · May 31.12.1907

Die herzlichsten Neujahrswünsche sendet mit bestem Dank für die schöne Karte und für die lieben Wünsche

die gesamte Familie Einsle
Adele und Julius Einsle

Olga Heumann
      Euer Willy   Robert Heumann

München, den 30. XII. 07.

Glückwunschkarte mit Aufdruck »Prosit Neujahr!«

Text (außer den Unterschriften) von Willy geschrieben


Karl und Klara May an Familie Einsle · 1.1.1908

Bildkarte mit Bild Karl und Klara May (siehe Bildteil) – Poststempel Radebeul, 1.1.08

Anschrift: Frau Oberamtsrichter Einsle & Familie

[Gedruckter Text: ] Herzlichen Glückwunsch zum Neuen Jahre!

Unterschriften: Karl May. – Klara May

Auf der Anschriftseite [von Klaras Hand]: u. herzlichste Grüße Ihre May's


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Karl May an Familie Einsle · 1.3.1908

Herzlichen Dank und tausend Grüße!

Ihr alter, treuer
         Karl May.

Aufnahme am Morgen d. 25. Februar [von Klaras Hand]

Bildkarte: »Aufnahme am Morgen d. 25. Februar« (siehe Bildteil) – Poststempel: Radebeul 1.3.08

Text von May, Bilderläuterung und Anschrift von Klaras Hand

Anschrift: Frau Oberamtsrichter Einsle & Familie.

Auf dem Foto Markierung unten rechts (x); Erläuterung Klaras: »x Ihre Nelken«


Klara May an Adele Einsle · undatiert, wohl März/April 1908

Villa Shatterhand
Radebeul–Dresden

Meine liebe Frau Oberamtsrichter!

   Nochmals vielen Dank für den lieben Blumengruß. Es war mir nicht möglich, Ihnen früher zu schreiben. Sie glauben nicht, wie manigfältig die Abhaltungen und Verpflichtungen sind, die uns oft am freien Handeln hindern.

   In München hätten wir Sie gern gesehen; wir waren auch noch einen vollen Tag im Hotel Leinfelder nach Absendung jener Scherzkarte. Wir nahmen an, Sie seien nicht daheim. Unsere Zeit war übrigens diesmal in München arg besetzt, trotzdem wir alle Freunde und Bekannte vermieden haben, um so bald als möglich wieder fort zu kommen.

   Nun aber zu Ihren Besuchsgedanken. Ja, liebste gnädige Frau, hierher kommen doch alle Jahre Hunderte von May-Lesern, warum sollen Sie da nicht auch einmal kommen? Heute und gleich hier, lade ich Sie und Willy – falls Ihr Herr Gemahl Sie begleitet, selbstverständlich auch ihn – ein, uns an einem schönen Sommersonntag Nachmittag 4 Uhr zu besuchen. Wir nehmen dann den Kaffee zusammen im Garten ein und bleiben zum einfachen Abendessen beisammen. Dann plaudern wir über alles, was uns tief im Herzen bewegt, und lassen uns von Karl May in sein schönes, warmes Sonnenland führen, wo wir den Hauch der Ewigkeit spüren und wo Himmelsblumen blühn und duften.


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Solch ein Ausflug in sein liebes Reich giebt neue Lebenskraft und neuen Lebensmuth.

   Bitte, schreiben Sie mir dann rechtzeitig, damit Sie in die Besuchsliste kommen und ich Ihnen sagen kann, an welchen Tagen mein Herzensmann frei ist.

   Viele, herzliche Grüße von uns beiden

Ihre ergebene
Klara May


Klara May an Hetty Heide · April 1908

Sie liebes, liebes Wesen! Einen innigen Kuß! Habe so viel Arbeit. Nach Ostern schreibe mehr. Frl. Mahrl ist Frau Lange in Leipzig. Auch ein liebes, herziges Wesen. Wir haben sie auch sehr lieb.

K. M.

Bild Karl Mays, mit zwei Hunden, auf Bärenfell (siehe Frontispiz) – Poststempel schwer lesbar, wohl »Radebeul«; als Datum nur »4. 08« erkennbar

Anschrift: Frau Hetty Heide, Göttingen, Bergstr. 17

Hetty Heide: Verehrerin Mays, verheiratet mit dem Schriftsteller Hans Karl Heide, der unter dem Pseudonym Ewald Silvester publizierte (weitere Briefe und ausführliche Angaben im nächsten Jahrbuch)


Willy Einsle an Karl May · 8.6.1908

Würzburg, den 8. Juni 08

Lieber Onkel!

   Also das Schicksal hat mich tatsächlich für zwei Semester nach Würzburg verschlagen, wie ich hoffe, nicht zu meinem Schaden. Und das geschah aus zwei Gründen. Was in meiner Verbindung zu lernen war, gesellschaftlichen Schliff (denn ich war ein ganz gräßlicher Waldmensch und Sonderling) und Verkehr mit andern jungen Leuten, was mir bis dahin, geschwisterlos wie ich war, sehr fehlte, hab ich nun drei volle Semester gehabt, und daß ich dabei dem Studium nicht so obliegen konnte, wie es mir als Obskurant möglich gewesen wäre, ist zwar an sich sehr bedauerlich, kann aber nicht in Betracht kommen, wenn ich daran denke, was ich ohne meine Verbindung für ein Stubenhocker und Bücherwurm geworden wäre. Aber nun hab ich für einige Zeit genug an Kommersliedern und Kneipbetrieb. Zum Corporationsstudenten hab ich


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mich nie recht geschaffen gefühlt, was mir not tat, hab ich zu lernen versucht, und da mich alles andere noch nie besonders angezogen hatte, mich dagegen die notwendige Vernachläßigung meiner Studien auch nicht gerade sehr entzückte, (d. h. direkt gefaulenzt hab ich auch nicht), so erlaubte ich mir, meinen Bundesbrüdern auf zwei Semester Valet zu sagen und mich mit meinen Büchern nach W. zu flüchten, um nach hoffentlich bestandener ärztlicher Vorprüfung heimzukehren als alter Inaktiver, den man dann überhaupt gar nicht mehr meinen kann. Somit sitze ich also schon ein volles Monat hier und fühle mich als freier ungebundener Mensch, der sich sein Leben einrichten kann, so behaglich als es ihm nur gefällt. Das wirklich Ideale und Schöne an meiner Verbindung, das, was dauernden Wert besitzt, habe ich auch hier nicht zu vermissen; unser erstes Prinzip, die Freundschaft, denn meine Bundesbrüder, insbesondere meine Leibfüchse, schreiben mir fleißig, was freilich zur Folge hat, daß ich auch wieder schreiben muß.

   Außer einem verwandten jungen Ehepaar, das ich öfters besuche, habe ich hier keine näher bekannte Menschenseele und das ist mir gerade recht, denn der zweite Grund meiner freiwilligen und sehr gemütlichen Verbannung: Ich wollte mal ein bissel von Mutters Schürzzipfel weg und schmecken, wie das ist wenn einem die gebratenen Tauben nicht mehr so ganz von selbst in den Mund fliegen. In diesem »Für sich selbst sorgen dürfen« liegt ja für mich ein ganz neuer Reiz und ich kann Dir versichern, daß ich dabei blühe, wachse und gedeihe. Studiert wird mit Hochdruck.

   So viel über meinen Würzburger Aufenthalt. – – – – – – – – – –

   Bevor ich diesen Brief anfing, hab ich den Silberlöwen IV. weggelegt – ausgelesen zum siebenten und noch lang nicht letzten Mal. Ich kenne überhaupt nichts von dem vielen, das ich schon gelesen habe, was mich so packt als dieses Buch, höchstens Goethes Faust, wie ich denn überhaupt den alten Herrn Goethe furchtbar lieb habe. Auch von allen Deinen Sachen, »Und Friede auf Erden« nicht ausgenommen, hat keine einen so gewaltigen Einfluß auf mich bekommen wie dieses Buch. Gleich darnach kommen aber das Drama und das letztgenannte Werk. Bei jedem neuen Lesen verstehe ich mehr und mehr und doch gibt es noch so vieles, das ich noch nicht begreifen kann.

   Onkel, nun sind es bereits an die 14 Jahre, daß ich mit Deinen Büchern bekannt wurde. Zuerst war es »Old Shatterhand«, dessen kraftvolle, lebensmutige Individualität mir imponierte, wenn ich sie auch noch lang, lang nicht begriff. Aber was mir auch damals schon Deine Bücher waren, das kann ich erst jetzt im vollen Umfang ermessen und begreifen. Kein einziger Mensch auf der Welt hat auf mein Innenleben


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einen so gewaltigen Einfluß gehabt als Du. Dann kam die Zeit der Weltschmerzduselei und der »Ustadschwärmerei», weißt Dus noch? Mein Gott, das waren Zeiten, die man auch lieber hinter sich hat. Wenn ich Dich nicht gehabt hätte, wer weiß wies jetzt um mich stünde! Mein Ideal bist Du immer noch, aber jetzt eins von Fleisch und Blut, das in der Realität existiert, das wohl auch Fehler haben darf; ohne deshalb etwas einzubüßen und vor allem eines, das man als »Onkel« herzlich lieb haben und auch mal sehen kann, keins jener ätherischen Ideale, die wegen ihrer Zerfließbarkeit jeden Lufthauch einer gesunden scharfen Briese vermeiden müssen.

   Und doch nennen sie mich einen Idealisten, der sich im Leben »seine Hörner schon noch abstoßen werde.« Das ist aber nicht wahr. Jener Idealismus, der nach den ersten grossen Enttäuschungen des Lebens so gern zum grassesten Pessimismus hinüberschwenkt und sicher zwei Drittel aller Pessimisten ausmacht, ist mir wegen seiner charakterlosen Schwäche und Lebensunfähigkeit verhaßt wie nicht leicht etwas. Aber ein wahrer, echter Optimist zu werden, den das Leben freut, auch wenns ein mal schief geht, das möchte ich von Herzen gern lernen.

Hat auch mal der Strumpf ein Loch,
Freut mich's Leben aber doch,
Und es wird nicht gleich gegreint,
Weil die Sonne mal nicht scheint.
Dumme Weltschmerzalbernheiten
Kann ich halt schon gar nicht leiden;
Seh ich so das Leben schänden,
Zuckt mirs immer in den Händen. –

Gewiß hab ich meine Ideale, aber die sind meine Welt in die ich mir von andern nicht dreinpfuschen lasse. Ich geb mir redlich Mühe ein guter Mensch zu werden, was andere tun, kann doch mich nicht beeinflussen und meine Ideale und Ansichten andern aufoktruieren zu wollen, fällt mir auch im Traum nicht ein, ich verlange nur, daß ich auch in Ruhe gelassen werde. Ist ja doch sogar Toleranz im Sinne von »Duldung« im höchsten Grade unmoralisch denn wo sollte ich das Recht zu der Anmaßung hernehmen, meinen Nächsten nur »dulden« zu wollen, wies die Konfessionen unter einander machen. Nicht bloße »Duldung« sondern wirkliche Gleichberechtigung ist die wahre, echte Toleranz. Zur eventuellen Zerstörung meiner Ideale ist also nicht wohl Gelegenheit vorhanden und einer der in seinen Idealen nicht enttäuscht werden kann, ist gar kein richtiger Idealist. id quod erat demonstrandum.

   Aber etwas anderes macht mir schwere Sorgen. Die moderne Naturwissenschaft mit der ganzen Fülle ihres für mich noch unübersehbaren


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Beweismaterials dringt so auf einmal auf mich ein, daß ich geblendet bin und nah daran bin meinen Kopf zu verlieren. Ich sehe die männliche Samenzelle unter dem Mikroskop, ich sehe die weibliche Eizelle, sehe beide verschmelzen und eine einzige bilden, sehe durch allmähliche Selbstteilung den hochentwickelten »Zellenstaat« sich entwickeln »Mensch« genannt. Ich verfolge ihn und die höchsten Wirbeltiere in seinen Entwicklungsstadien. – Befruchtung, Blastula, Gastrula, Keimblätterbildung u. s. w. und bin gezwungen, im großen und ganzen Häkels »Biogenetisches Grundgesetz«, daß die Ontogenie eine kurze Rekapitulation der Phylogenie sei, zuzugeben, daß der Mensch also – wenigstens anatomisch und physiologisch das letzte Glied der Wirbeltierreihe sei.

   Ferner sehe ich mikroskopisch die Nervenbahnen und erkenne im Experiment ihre Funktion. Viele Sinneszentren und motorische Zentren im Gehirn sind bekannt u. erwiesen. Dann das Kind in seinen ersten Jahren bis zum Erwachen seiner Vernunft! Ferner die großen Rätsel der Vererbung, deren Grundlagen bereits in Ei- und Samenzelle (in den Chromosomen?) vorhanden sein müssen. Dann der Mensch, der so oft nicht viel besser, ja schlechter ist als ein Tier. Und dann auch wieder die Tatsache einer unüberbrückbaren Kluft zwischen Mensch und Tier in geistiger Beziehung (psychische Entwicklungsfähigkeit, Sinn für Kunst, Schönheit u. s. w.) Ethische Gesichtspunkte können hier weniger in Betracht kommen, da Geselligkeitstrieb, Mutterliebe u. s. w. auch bei Tieren vorhanden sind.

   Somit geht also bei mir alles, was ich bisher über Schöpfungsgeschichte lernte, in die Brüche, nicht daß ich am Dasein Gottes zweifelte, nein, Kants Postulat vom Dasein Gottes mit allen Konsequenzen bleibt für mich so erhalten, daß es gar nicht angetastet werden kann und damit habe ich schon etwas, was mit der realen Wissenschaft nichts zu tun hat. Dagegen die eigene leibliche Erschaffung des Menschen durch ein Allmachtwerk Gottes kann ich nicht fassen. Aber ich will mich hüten voreilig zu urteilen und aller Hochmut soll mir fern sein. Onkel, wenn Du mir helfen kannst, bitte tus, es hängt ja so viel, so viel davon ab. Eins aber kann mir durch keinen Umstand geraubt werden, die Überzeugung: Wies auch kommen mag, die Verheißung der Engel: »Friede auf Erden den Menschen die eines guten Willens sind,« kann nicht zuschanden werden. Wenn ich mich bemühe ein guter Mensch zu werden, so wird Gott nich zu streng mit mir ins Gericht gehen, weil ich nicht Zeit hatte endgültig zu erforschen, wo die eigentliche Wahrheit sei.

   »Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst«. Und wenns ein Atheist wäre, wenn er so handelt, wird Gott ihm gnädig sein. – – – – –


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   Ich werde wohl auch über diese Periode wegkommen u. wieder ruhig u. klar denken lernen. Was Du aber mir warst, werd ich nie, nie vergessen.

Recht wie ein Epheu will ich ranken
An Dir empor zum Licht, zum Licht, –
– Der liebe Herrgott soll Dirs danken,
Was Du mir tust – ich kann es nicht.

Dein alter, treuer Willy.

Wie geht es der lieben, lieben Tante? Bitte, bitte, nur eine Zeile, ob es ihr gut geht. Kommt Ihr im Sommer durch München? Vielleicht ahnst Du, wiesehr ich mich nach Euch sehne.

14 Jahre: Willys erster Kontakt mit Mays Büchern erfolgte demnach bereits 1894!

id quod erat demonstrandum: das, was zu beweisen war (Schlußformel bei mathematischen Beweisen)

Blastula, Gastrula: Phasen in der Entwicklung der befruchteten Eizelle

Häkels Grundgesetz: Der im 19. Jahrhundert äußerst einflußreiche Naturwissenschaftler Ernst Haeckel (1834–1919) war ein energischer Verfechter der (von der katholischen Kirche weitgehend abgelehnten) Entwicklungslehre Charles Darwins. Sein »biogenetisches Grundgesetz« besagt, daß die Entwicklung des Individuums (Ontogenie) die Entwicklung der gesamten Art in verkürzter Form (Phylogenie) wiederholt.

Kants Postulat: Nach dem Philosophen Immanuel Kant (1724–1804) beruht der Glaube an Gott nicht auf beweisbarer Erkenntnis, sondern ist eine sittliche Forderung.


Karte Karl und Klara May an Willy Einsle · 3.7.1908

Bildkarte: »Gruss aus Berlin« (Bird »Königl. Schloss«) – Poststempel: Berlin 3.7.08

Anschrift: Herrn Willy Einsle stud. med., München

[Text Karl May:] Gruß von der Reise!

[Text Klara:] Dir und Deinen Lieben herzliche Grüße vom alten Onkel und Tante.


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Eheleute May an Adele Einsle · 28.9.1908

[Text Klara:] Werden wir Sie noch nach unserer Rückkehr in diesem Jahre bei uns begrüßen können? Wir hoffen, gegen Weihnachten heimzukommen. Tausend herzliche Grüße

Ihre alten Mays

[Text Karl May:] Gruß aus Amerika, wo ich bin, um »Winnetou«, Bd. IV vorzubereiten.

Ihr alter
K. May.

Bildkarte: "No. 6. Prospect Point, Niagara Falls.", – Poststempel: Niagara Falls SEP 28 1908

Anschrift: Frau Oberamtsrichter Adele Einsle.


Klara May an Adele Einsle · 1.12.1908

Meine liebe Frau Oberamtsrichter!

   Gegen Weihnachten hoffen wir, daheim zu sein. Wann gedenken Sie nun zu kommen? Wir befinden uns auf der Heimreise von dem schönen, reichen Amerika, wo wir eine Überfülle von Liebe fanden. Das Land und die Indianer haben auf mich einen tiefen Eindruck gemacht. Viele, herzliche Grüße Ihnen Allen

Ihre ergebene
Klara May

Bildkarte: von Klara May beschriftet: »Karl May am Grabe des grosser Indianer Häuptlings Sa-go-ye-wat-ha. (He keeps them awake.)« – Poststempel: London DEC 1 08

Anschrift: Frau Oberamtsrichter Adele Einsle.


Karl May an Willy Einsle · 1.12.1908

Herzlichen Gruß aus Old England!

Dein alter
            noch nicht ganz veronkelter und verneffter
               Karl May.
London.

Farb-Bildkarte: von Klara beschriftet: »Karl May bei den Tuscarora Indianern« – Poststempel: London DEC 1 08

Text von Karl May geschrieben, Anschrift von Klara

Anschrift: Herrn Willy Einsle.


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Willy Einsle an Karl May · 22.12.1908

            München, den 22. Dezember 08.

Mein lieber, guter Onkel!

   Schon längst hätt ich was von mir hören lassen, aber »Amerika« war mir doch ein bissel zu ungenau als Adressenangabe und etwas Näheres wußt ich ja nicht. Dir und der lieben Tante vielen, vielen Dank für die schönen Karten.

   Bei uns ists schon ganz weihnachtlich. Mutter schmückt grad den Baum, dessen Harzduft bis in mein Zimmer herüberdringt. Vater brummt über die vielen Weihnachtsbesorgungen, die man ihm aufbürdet und ist doch froh, daß er sich »brauchbar« zeigen kann. Als ein riesiges Kind freu ich mich furchtbar auf den Abend, nur eines macht mich betrübt, von Dir wird kein neues Buch dort liegen. Onkel, Du solltest Dir an mir ein Beispiel nehmen. Außer in der Frei- und Schlafenszeit arbeite ich gewaltig. Im Ernst, ich hab jetzt einen Haufen zu tun, weil ich entweder kurz vor den Osterferien oder unmittelbar danach ins Examen steige und unsere ärztliche Vorprüfung ist kein Pappenstiel. Wie gern wär ich in den Weihnachtsferien zu Euch gekommen um meinen Onkel endlich, endlich wieder einmal zu sehen. Es ist ja schon solange her, daß mir der Klang seiner Stimme bald ganz verloren ist. Nur seine Augen, die weiß ich noch auswendig, die hab ich mir gut gemerkt.

   In der Christnacht, wenn die Glocken zur Mette rufen, da will ich mir denken, ich wär bei meinem Onkel, ich seh ihn dann ganz deutlich, und die liebe Tante auch und so können wir unser Weihnachten zusammen feiern, nicht?

   Und Du wirst mir dann Klarheit geben, daß aller Haß der Welt vor einem einzigen lieben Wort verschwinden muß. Und ich werde endlich tief im Herzen jenes Himmelswort erfassen: Friede, Friede allen Menschen, die da lieben statt zu hassen. Armen Hirten ward die Kunde, ihnen ward es offenbar aus der Engel reinem Munde, daß der Herr geboren war. Wenn auch heut um Nichtigkeiten Christen gegen Christen toben, unser Herrgott wirds schon leiten, heilig klangs ja einst von oben: Gutem Willen sei beschieden, wenn wir wieder Kinder werden, echter, wahrer Gottesfrieden und – das Himmelreich auf Erden.

   Es ist ein Kreuz, wenn man nicht weiß, woein, woaus. Mein Studium bringt es mit sich, daß ich mich mit Descendenztheorie und ähnlichen Dingen beschäftigen muß. Nun wackelts von Grund auf und ich sehe das Ende nicht voraus. Mein einziger Trost bleibt immer: Wenn ich als guter Mensch zu leben mich bemühe, so wird unser Herr im Himmel nicht zu streng mit mir ins Gericht gehen. Aber dieses Gefühl, wie alles


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unter einem wankt, Onkel, manchmal möcht ich ohne Besinnung einfach davon laufen, immer grad aus, bis ich wo liegen bleib. Das sind aber Gottseidank nur die schwachen Augenblicke, bei ruhiger Überlegung sag ich mir: Zeit zum ewigen Rumsinnieren und Grübeln hab ich nicht. Ich studiere weder Theologie noch Philosophie sondern Medizin. Und ich habe da grad genug zu tun um ein tüchtiger Mensch zu werden. Und das ist ja doch der Punkt um den sich alles dreht. Jeder Mensch hat zu zeigen, daß er als ein ganzer Mensch Daseinsberechtigung hat, daß er imstande ist für seine Mitmenschen etwas zu leisten. Ob er als Christ oder als überzeugter Atheist dann die Augen schließt, ob er an dieses oder jenes Dogma geglaubt hat oder nicht, das ist doch gleichgültig, denn wenn schon wir sie »an den Früchten erkennen« sollen, um wieviel mehr wird es der Heiland tun, der uns das gelehrt hat.

   Nun muß ich aber schließen, denn ich hab noch alle Hände voll zu tun und übermorgen ist schon Weihnacht. Zum Schluß noch eine dringende Frage: Onkel, bist Du im August oder September besuchbar? Mit dem dummen Examen! So sind die Weihnachtsferien und wahrscheinlich auch die Osterferien verpfuscht. Und ich möcht Dich doch so gern, so gern wieder einmal sehen.

   Dir und der lieben guten Tante die herzlichsten Grüße und eine recht frohe Weihnacht
            von Euerm alten treuen Neffen
               Willy aus München.

Deszendenztheorie: Charles Darwins Lehre von der Abstammung der Arten


Adele Einsle an Klara May · 22.12.1908

               München, d. 22./XII.08

Sehr verehrte, liebe Frau Doktor!

   Weihnachtsarbeit in Hülle und Fülle für die eigne Familie und sonstige einsame Menschenkinder die mir das Christkind als Gäste bringt. So ist es mir leider nur möglich, lieber gnädigen Frau und verehrten Herrn Gemahl, für das freundliche Gedenken während Ihrer schönen, großen Reise zu danken und recht, recht frohe Feiertage in der Heimat zu wünschen. Wie gerne würde ich von all dem Schönen hören und Intressanten, das Sie erlebt haben, aber eine Reise jetzt, das gehört zu den Unmöglichkeiten.

Darum nochmals tausend Dank und viel herzliche Festgrüße von meinem Mann und mir lieber Frau und Herrn Doktor.
            Stets Ihre ergebene Adele Einsle


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Karl May an Adele Einsle · 26.12.1908

Kolorierte Karte »Prag. Fontaine im Kaisergarten. Lustschloss Belvedere.« – Poststempel: Prag 1, 26.XII.08

Adresse von Klara, Text von Karl May, beides mit Bleistift

Anschrift: Frau Oberamtsrichter Einsle

Herzlichsten Gruß!
Ihr alter
   Karl May.


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