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WOJCIECH KUNICKI/NORBERT HONSZA


Unterhaltungsliteratur im europäischen Realismus · Karl May und ›Winnetou IV‹



I.


Das Wort ›Realismus‹, das im 19. Jahrhundert erstmals häufiger auftaucht, ist im 20. zu einem der dehnbarsten literaturwissenschaftlichen Begriffe geworden, wobei bei aller Fülle der Interpretationen doch meistens vom literarischen Realismus als einer Methode der Wirklichkeitserfassung gesprochen wird. Daß dabei für jede Epoche ›Realismus‹ inhaltlich und ästhetisch etwas anderes bedeutete, braucht an dieser Stelle kaum erörtert zu werden. Eine grobe Simplifizierung läge in der Illusion, daß in der literarischen Praxis einer einzigen Epoche und eines ähnlichen kulturellen Kontexts keine Differenzierungen dieses Begriffes möglich und notwendig wären: Manchmal wird es da schon genügen, wenn wir uns näher das Verhältnis des einzelnen Autors zur Realität ansehen, ein anderes Mal werden wir ein theoretisches Instrumentarium und programmatische Äußerungen heranziehen müssen, um einer präzisen Bestimmung des Realismus näherzukommen.

   Im Kontext der Unterhaltungsliteratur trifft der Begriff »Realismus« zwar nur die Oberfläche, aber er lebt in einer erstaunlichen Vielfalt und zeigt eine enorme Lebensfähigkeit. Realismustheoretiker sprechen oft von »Angemessenheit« oder »Wahrscheinlichkeit«, wenn sie ein verbreitetes Merkmal der trivialen Literatur benennen wollen, und manchmal wird das Genre damit pejorativ von der sog. »hohen« Literatur abgegrenzt. Daß etablierte Wirklichkeitsbilder und konventionelle Realitätsvorstellungen in der Unterhaltungsliteratur wesentlich häufiger auftreten, ist auch durch das Publikum bedingt, das seine Lektüre in der Regel zum Vergnügen betreibt. Der Übergang von der empirischen zur literarischen Wirklichkeit ist für solche Leser schwierig und kompliziert, da sie die Frage nach dem spezifischen Realitätsgehalt des Literarischen nicht beantworten können.

   Die von Richard Brinkmann aufgestellte These, Realismus sei »Wirklichkeit und Illusion«, scheint auch für die der Unterhaltungsliteratur zuzurechnenden Werke Karl Mays teilweise wegweisend zu sein. Seine Romane nähern sich zwar deutlich einer »Wirklichkeitsillusion«1, doch ließe sich auf sie kaum Wolfgang Powroslos Feststellung


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anwenden, daß »einem Werk Realismus zuzusprechen, heißt, ihm Erkenntniswert zuzubilligen«.2

   Wir würden nicht die These wagen, daß die Unterhaltungsliteratur - vielleicht mit Ausnahme der Detektivgeschichte ­ der Logik realistischer Literatur entspricht. Das »wahrscheinliche« Geschehen, oftmals auf metaphysischer Ebene konstruiert, überwuchert intensiv die empirische Dimension.

   Wir wollen nun aber in den weiteren Ausführungen nicht allzu energisch auf dem Wort Realismus im Zusammenhang mit den Werken Karl Mays beharren. Gewiß: May war kaum imstande, einen Trennungsstrich zwischen seiner manchmal etwas skurrilen Weltauffassung und einer weltoffenen Darstellung zu ziehen. Da gibt es in seinem Schaffen zu viele Ungereimtheiten. »Der Realist« - meint Peter Demetz - »schafft eine epische Welt, indem er umfassend, einkreisend, einschließend erzählt: die erste Geste seiner Erzählung ist eine Umarmung, in der er Menschen, Dinge, Landschaften und Geschichtsepochen an sich zieht. Deshalb ist er der welthungrigste aller Erzähler . . . «3 Eine solche Formulierung bezieht sich zwar zunächst auf Cooper, Balzac, Tolstoi oder Dreiser ­ doch könnte man einige dieser Elemente auch Karl May zuschreiben.

   In der May-Forschung wird immer wieder die naive Ansicht vertreten, daß Realismus mit Faktentreue gleichzusetzen sei, obwohl doch - wie gleichzeitig vielfach behauptet wird - eine überflüssige Wiederholung der Realität gegen das Kunstwerk spricht. »Freiheit im Umgang mit den Tatsachen und Dingen der äußeren Wirklichkeit macht es erst möglich, daß das realistische Kunstwerk Ordnung und Deutung der Welt zu leisten vermag. Sein Inhalt kann daher bescheidener und eingeschränkter sein als das Panorama der äußeren Wirklichkeit, ist es doch durch diese geistige Leistung wesentlicher und bedeutungshaltiger als diese«.4 Trifft diese von Stephan Kohl ausgesprochene These nicht auf Karl Mays Schaffen zu? Wir machten es uns zu einfach, würden wir den Umstand, daß Mays Helden auf außerliterarische, »reale« Verhältnisse reagieren, als eine Übereinstimmung zwischen literarisch vermittelter Realität und empirisch feststellbarer Wirklichkeit interpretieren.



II.


Die wichtigsten Vorwürfe, die von seiten der meisten Karl-May-Kritiker formuliert wurden, bezogen sich auf die Realität (bzw. den Realis-


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mus ­ man setzte die Gleichheit jener beiden Begriffe voraus) seiner Werke. Mit heiligem Zorn betonte man nach 1899, daß die von May konstruierte Welt lediglich einen »Schein von Realität«5 enthalte, einen lügenhaften Schein dazu, der den intuitiven und oft falschen Vorstellungen über die Wirklichkeit entgegenkomme.

   So glaubte man, gestützt auf eine strenge Moral und eine positive Weltanschauung, die Reiseerzählungen als Inbegriff des »vollsten Optimismus in der Rekonstruktion des sündenlosen Zustandes vor Adams Fall« zu entlarven.6 Und das mythische »Wehen jenes Pferdehaares«, »Hufschlag« und »Feuergeruch« wurden als »schwindelhafte Wirklichkeit«, als »unsachlich-sachliche Welt, die in vier Wänden zusammengeträumt wird«, als »gedankliche Realität« abgelehnt.7

   Der falsche Realismus schien notwendig dem Leben eines Pseudologen zu entspringen. Denn einzig ein Mensch, der sein ganzes Leben lang die engen Schranken einer kleinbürgerlich-proletarischen Wirklichkeit überwinden wollte, der die Realität aus für die etablierte Moral höchst uneinsichtigen Gründen aufzuheben beabsichtigte, war imstande, eine solche Traumwelt zu schaffen. So bewegte sich die frühe Karl-May-Debatte um die Frage nach dem Realitätsgehalt. In unzähligen Aufsätzen versuchte man sich zu überzeugen, die Maysche Welt sei entweder aus verschiedenen Geographiewerken zusammengestohlen worden oder sie entspringe einem visionären Erlebnis, das dem Schriftsteller Kräfte zum Schaffen einer totalen Welt verliehen habe. Es ist dabei bezeichnend, daß sich jene spätere Karl-May-Rezeption, die den Schrifsteller und sein Werk positiv beurteilte, an dem Traumhaft-Unwirklichen seiner Werke orientierte. Das früher gängige In-Frage-Stellen seines Realismus verwandelte sich in Lob: »Berauschung des Traums ist Karl May wie alle Kolportage, Berauschung gewiß aus Blut, doch ebenso aus Ferne: womit der doppelsinnige Fluß auch hier erscheint, der dialektische Fluß, der auch durch den See der Kolportage fließt. Nicht um ihn zu predigen, durchstieß Karl May den heimischen Muff seiner Zeit: und zweischneidig wie ein malaiischer Kris ist die unterdes wieder so verbreitete, ertüchtigte, ›arisch‹ ausgewertete Heldenlektüre. Ist auch Old Shatterhand nicht das ›Menschheits-Ich‹, wozu ihn Karl May zuletzt erhöht hatte, so ist er erst recht nicht die Autarkie und Winnetou, sein roter Bruder, nicht der Rassenhaß. Nur widerwillig kann Kolportage nach Hause abgebogen werden, um aus dem Ferntraum, der sie ist, zu Deutschland zu erwachen, nämlich zu einem Deutschland der Stockigkeit unter sich. Der Rappe Rih ist kein Militärpferd, sondern ein Geschenk des arabischen Scheiks Mohammed Emin, und er reitet ins Morgenland, nicht nach Sachsen«.8


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   Die Maysche Welt ist also für Bloch nicht die des Realen, sondern »letzthin Revolution, Glanz dahinter«, das Allerrealste von der Welt. Der Blochsche Ansatz, das Allerrealste hinter dem Werk Mays zu finden, das Träumen und die Sehnsucht nach der sozialen Freiheit, hat aber nur unvollkommen die Frage beantwortet, wohin das Pferd Kara Ben Nemsis reitet. Manche behaupten sogar, es reite doch nach Sachsen9, in die etablierte Welt der bürgerlichen Existenz, und manche gar, daß es auch nach Osten traben will, als Komplize der SS-Horden, wobei Kara als Musterbeispiel eines Unteroffiziers mißverstanden wurde, der in polnischen oder russischen Wäldern die Partisanen bekämpft. Es ist offensichtlich, daß  h i n t e r  den Werken Mays das Allerrealste doch steckt, und dazu noch ein solches, das nicht nur auf die zeit- und situationsbedingten Leserreaktionen zurückzuführen wäre. Es gilt also, die nicht belanglose Frage zu beantworten, ob sich auch  i n  seinen Werken das Allerrealste manifestiert, und noch darüber hinaus, was dieses Allerrealste mit dem Realismus zu tun hat.

   Zuerst muß der Meister selbst befragt werden: Meine »Reiseerzählungen« haben . . . bei den Arabern von der Wüste bis zum Dschebel Marah Durimeh und bei den Indianern von dem Urwald und der Präirie bis zum Mount Winnetou aufzusteigen. Auf diesem Wege soll der Leser vom niedrigen Anima-Menschen bis zur Erkenntnis des Edelmenschentums gelangen. Zugleich soll er erfahren, wie die Anima sich auf diesem Wege in Seele und Geist verwandelt.10 In dieser Aussage aus ›Mein Leben und Streben‹, die sowohl als ein großangelegter Deutungsversuch (Allegorese) der früheren Reiseerzählungen als auch als ein Programm der künftigen, aber schon in Entstehung begriffenen Werke zu verstehen ist, fällt besonders der pädagogische Ansatz auf: ein an sich nicht störendes Element der Trivialliteratur, dessen Ursprünge in der Aufklärungszeit zu suchen wären. Das Neue, das hier zum Vorschein kommt, ist also nicht die traditionelle Belehrung, sondern die Erkenntnis, sie sei kaum mit Hilfe der so oft von May hervorgehobenen Wissenschaft zu vermitteln; May vertraut vielmehr dem einzigen Mittel, das ihm zur Verfügung stand: den besonderen Verfahrensweisen der Unterhaltungsliteratur. Ich erzähle also rein deutsche Begebenheiten im persischen Gewande und mache sie dadurch für Freund und Feind verständlich.11 Dieses persische Gewand ist hier als das so hoch von Karl May gepriesene Märchen zu verstehen, und noch darüber hinaus als das gesamte Schaffen eines Menschen, der sich Hakawati (Märchenerzähler) nannte. Die begriffliche Verwirrung in ›Mein Leben und Streben‹ ist im Hinblick darauf vielsagend. Der Schriftsteller weiß nämlich nicht genau das Märchen, das Symbol und die Allegarie zu unterschei-


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den. Für uns geht es aber in erster Linie darum, daß er auf der Suche nach einem passenden Begriff für sein Schaffen war, und seine Bemühungen lassen sich tatsächlich als Bewältigung rein deutscher Begebenheiten mit Hilfe des Literarischen verstehen. Einerseits das Symbolische, das Märchenhafte und das Erzählte - andererseits rein deutsche Begebenheiten. Dies scheint uns ein ergiebiger Ausgangspunkt für die Analyse der Wirklichkeitsgebundenheit und darüber hinaus des Realismus seiner Erzählungen zu sein.



III.


Mit dem oben angedeuteten Problem wollen wir ganz einfach darauf hinweisen, daß Karl May sich auch der sozialen Rolle seines Schaffens bewußt war und auch jene Wünsche und Haltungen, die für den Leser seiner Schriften, »den bildungsbeflissenen Bürger« (Schulte-Sasse), typisch waren, mitreflektieren wollte. Die interpretatorische Methode, die von Schulte-Sasse in seiner Analyse des Geld-Motivs in Mays Reiseerzählungen vorgeschlagen wurde und die auch die Rolle der um die Jahrhundertwende maßgeblichen ideologischen Komplexe des bürgerlichen Denkens berücksichtigt, wollen wir auf den Altersroman ›Winnetou IV‹ anwenden, um manche Korrekturen, gerade im Hinblick auf das Problem Wahrscheinlichkeit ­ Realismus, vorzunehmen.12

   Der Roman selbst, als Frucht der ersten und einzigen Amerika-Reise des Schriftstellers geschrieben, scheint in bezug auf die angesprochene Problematik von besonderem Gewicht zu sein. An sich bedeutet er eine Rechtfertigung des Wirklichkeitsgebundenseins der früheren Werke Mays schon dadurch, daß ihm eine wirkliche Amerika-Reise zugrunde lag, deren Vorbereitungen mit dem Korrespondenzauftakt des Romans zusammenfallen. Denn das Clifton-House, der Niagarafall, das Denkmal des großen Häuptlings und viele andere Einzelheiten gemahnen an die wirklichen Eindrücke der Amerika-Reise des Schriftstellers.

   Im Hinblick auf die Biographie des Verfassers stimmt alles, auch das, was er erleben  k o n n t e. Auf einer höheren Bezugsebene, im Werk selbst, wird dieses Gefühl noch bewußt verstärkt. Es taucht nämlich noch einmal das Personal seiner früheren (klassischen) Reiseerzählungen auf; es werden manche Orte geschildert, die meine Leser alle kennen. Wir sind also gezwungen, mit Klara zu rufen: »Wie das so stimmt!«13 Was dann geschah, das ist im letzten Kapitel von »Winnetou«, Band III, zu lesen.14


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   Wenn wir aber diese naive Wahrscheinlichkeitsebene, auf der May mit seinen Werken und seinen Lesern spielt, verlassen wollen, müssen wir uns noch einmal die Reisevorbereitungen des Helden näher anschauen. Dann können wir vielleicht feststellen, daß er nicht in den heute nicht mehr wilden Westen reiten will, sondern daß der Westen zu ihm nach Radebeul in seine geordnete, sichere bürgerliche Welt (»Ich habe nichts als mein gutes, für mich und meine Zwecke grad so zureichendes Auskommen«)15 eingedrungen ist, und zwar in zweifacher Gestalt.

   Erstens handelt es sich um Briefe sowohl von alten Feinden (lies: vom alten Personal seiner Werke), die wiederum eine Rebellion gegen den Helden vorzunehmen beabsichtigen, als auch von neuen Freunden, wie Tatellah-Satah. Zweitens geht es um die beiden Enters (der Name scheint hier nicht ohne Bedeutung zu sein, denn das englische »to enter« bedeutet »eintreten«), die der jeglichen Spurenlesens kundige May-Shatterhand als psychisch belastete Nachkommen Santers sofort entlarvt. Winnetou steht also auf dem Spiel, und es gilt, die Gefahren abzuwenden, die die Existenz seiner Idee bedrohen. Das sind wiederum zwei Gefahren, und sie scheinen mit den rätselhaften Einladungen und mit den nicht weniger merkwürdigen Besuchern in der guten Stube des Helden einherzugehen. Zunächst: »Man will ihn (Winnetou) falsch verstehen«16, und wahrscheinlich droht dabei, wie der pfiffige Shatterhand meint, eine falsche Ehrung. Eine andere Gefahr ist mit dem Vorschlag der Gebrüder Enters verbunden, die alle Verlagsrechte für Amerika kaufen wollen, um die Verbreitung von ›Winnetou‹ zu verhindern. Sie haben sicher gute Gründe dafür, und nicht zuletzt reizt sie der Schatz, der am Nugget-Tsil und am Dunklen Wasser verborgen sein soll.

   Diese Polarisierung im Hinblick auf die Winnetou-Gestalt und das ›Winnetou‹-Werk fällt verblüffend mit der kritischen Lage Mays um 1909 zusammen. Er fühlte sich von seiten sowohl der falschen Verehrer als auch der auf sein Geld neidischen Kritiker bedroht, wobei sich die zweite Gegner-Kategorie in Lebius-Cardauns-Pöllmann finden läßt.17 Zu der Kategorie von Lesern, die zwar sein Werk lieben, aber nicht verstehen, zählen wir in ›Winnetou IV‹ Young Surehand und Young Apanatschka, die das »kopflose« Denkmal zur Schau gestellt haben. In Mays Biographie heißt es: Selbst »Winnetou«, der so leicht zu lesen zu sein scheint, bedarf, wenn er sich im vierten Bande zum Schlusse neigt, eines Nachdenkens und eines Verständnisses, welches doch gewiß keinem Quartaner und keinem Backfisch zuzutrauen ist!18

   Diese Projizierung der ›wirklichen‹ Biographie Mays auf das Werk


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läßt nur diejenige der vielen Ebenen von ›Winnetou IV‹ erschließen, die der Autor als das Karl-May-Problem im persischen Gewande umschreiben und »symbolisch« darstellen wollte. Allerdings geht es uns jetzt nicht um die Deutung einer der zahlreichen Allegorien Mays, sondern um die Feststellung, daß der Wilde Westen in ›Winnetou IV‹ de facto rein deutsche Begebenheiten in sich birgt und daß Karl May nicht in den Wilden Westen reitet, sondern in seinem Zimmer sitzenbleibt und der Wilde Westen zu ihm als deutsche Realität kommt. »Ich habe gesagt, schon wenn man hinüber will, verstanden, will! Uebrigens brauchen wir, um schweigsam sein zu müssen, gar nicht erst hinüber, denn er ist schon hier hüben bei uns.« »Wo?« »Unten bei dem Amerikaner. Dieser Mr. Hariman F. Enders ist der amerikanische Westen.« »Meinst du?« »Gewiß! Du wirst bald sehen, daß dies richtig ist. Mag er sein, wer er will, und mag er wollen, was er will, wir spielen jetzt Amerika.«19



IV.


Der Gehalt an Realismus, den wir in ›Winnetou IV‹ aufzuweisen hoffen, wird durch offenkundig gegensätzliche Tendenzen keineswegs gemildert. Es geht dabei um jene Signale, die die dargestellte Welt als »fiktional« entlarven und somit die Bezugssphäre (eben die deutsche Wirklichkeit) hervorheben. Merkwürdig ist, daß manche Handlungssequenzen traumhaft-unwirklich erscheinen. In diesem Kontext muß man auf die Ur-Szene des Werkes verweisen, deren gleichnishafter Charakter unverkennbar ist: auf das Ardistan-Dschinnistan-Märchen, das den Kampf des Guten und des Bösen veranschaulicht. Der »junge Adler«, der im Roman den Dschinnistan-Mythos reproduziert, befindet sich in jenem Moment unter starkem Einfluß von Nikotin, das seine geistigen Kräfte nicht lähmt, sondern eher aktiviert: Er rauchte zwar nicht selbst, aber seine Hand spielte mit den Ringeln und Ringen, die der neben ihm sitzende Pappermann seinen Lippen entgleiten ließ. Er sog den Duft von dessen Zigarre mit Behagen ein und schien hierdurch eine ganz andere Gedankenrichtung und Ausdrucksweise zu bekommen.20

   Das Rauschhafte jener Szene, die die Erzählung über den Untergang der (einst) großen Rasse einleitet, hebt den Mythos auf eine Ebene, aus der es kein Zurück in die imaginäre Prärien-Wirklichkeit gibt. Solche Momente kommen in ›Winnetou IV‹ öfters vor: entweder das Hypnotische oder das Traumhafte; sie leiten z.B. die allegorische Schlüsselhandlung ein: Ich wartete noch eine Stunde, dann ging ich nach Winnetous Schlafzimmer und legte mich nieder. Wie lange ich geschlafen hatte,


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das weiß ich nicht. Da wachte ich auf. Ich fühlte ihre frische, gesunde Körperatmosphäre. Sie war da (Klara).21

   Der Traum und das scheinbare Erwachen führen in der Tradition der allegorischen Dichtung jene Gestalt ein, die den Gedanken oder die Welt als Werk eines ordnenden Prinzips darstellt. So wie sich Dante u. a. Beatrice mit auf den Weg nahm, so begleitet auch Klara den alten Helden sowohl in den »dunklen und blutigen Gründen« als auch auf dem letzten Schauplatz seiner Werke: am Mount Winnetou. Wenn wir das allegorische Darstellungsprinzip hervorheben, das von May bewußt angewandt wird, dann müssen wir das Zentrum seines ästhetischen Konzepts, das er mit Hilfe des Allegorischen zu erreichen versucht, in Erinnerung rufen: »Sie sollen die wahre Kunst kennen lernen, welche nicht darin besteht, das Irdische abzukonterfeien, sondern das Himmlische im Irdischen nachzuweisen.«22

   Es scheint, als hätten wir einen sonderbaren Punkt erreicht. Wir haben zunächst hervorgehoben, daß in Mays Werk die deutsche Wirklichkeit lebt. Daß sie allerdings nur im Privat-Besonderen des Schriftstellers zu suchen wäre, der um das ›wahre‹ Bild seines Werkes und seiner Helden kämpfen muß, ist kaum anzunehmen, da sich die Perspektive des Werkes ins Allegorische weitet. Somit muß man zu dem von Karl May selbst formulierten Kunstverständnis gelangen: die Kunst sei als Nachweis des Himmlischen im Irdischen zu erfassen. Ob dieses Kunstverständnis lediglich als Ausdruck falschen Bewußtseins anzuprangern ist, läßt sich nur dann beantworten, wenn wir uns den Inhalt des Himmlischen, vor allem aber des Irdischen vergegenwärtigen.



V.


Die Äußerungen Mays in ›Mein Leben und Streben‹ und sein Kampf um die Wiedererlangung seines bürgerlichen Rufes lassen ganz deutlich erkennen, daß wir es hier mit einem Schriftsteller zu tun haben, der auch die gesellschaftlichen Mechanismen des Literaturbetriebs zu begreifen versuchte. Der Mythos von einem problemlosen Jugendschriftsteller muß besonders im Blick auf sein Lebensende einem anderen, von ihm selbst geprägten Bild weichen, und zwar dem des Propheten, der mit seinem Werk nicht nur auf bloße Unterhaltung zielt, sondern auch eine richtungsweisende Menschheitsidee zu zeigen beabsichtigt. Es ist anzunehmen, daß als Rezipient seiner Ideen auch die deutsche Gesellschaft fungieren sollte, die ihn ständig brüskierte und aus ihren Reihen auszustoßen versuchte. Eine Rettungsmöglichkeit sah May


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nicht nur im Kampf gegen die  f a l s c h  Gebildeten, sondern auch in der Übernahme der Lebenshaltung des Bildungsbürgertums. Zugleich versuchte er, jene Ideologeme, die in einem hohlen Raum der krisenhaften bürgerlichen Unsicherheit erzeugt wurden, als die seinen auszugeben, um damit verschiedene Konflikte zu entschärfen, die seine Lage bedrohten. So formulierte er ausdrücklich seine politische Meinung in Briefen an das bayerische Königshaus, indem er betonte, er sei kein Sozialdemokrat und der Geist des Mammonismus sei ihm fremd. Es ist schon richtig, daß die von Schulte-Sasse so genau beschriebene Abhängigkeit der bürgerlichen Ideologien von antikapitalistischen und antisozialistischen Affekten in ›Winnetou IV‹ bewußt in das private Erlebnis des Schriftstellers hineingewoben wurde, wobei wir sie nicht unbedingt auf die Langbehnsche Gold-Ideologie zurückführen möchten. Uns geht es aber eher um ein Phänomen, das schon Gurlitt angedeutet hat, als er Karl May zu einem der Urheber der »jüngsten romantischen Bewegung«23 abstempelte. Gurlitt meinte hier die um 1890 einsetzende Gebildeten-Revolte, die sich vor allem in verschiedenen Oppositionsbewegungen manifestierte: »Bei der Gebildeten-Revolte« ­ behauptet Ulrich Linse - »handelt es sich also um die Kultur- oder Geist-Revolution der sozial und wertmäßig verunsicherten Teile des wilhelminischen Bildungsbürgertums. Gleichgültig, ob sie soziale Abstiegsängste hatten oder in ihrem sozialen Aufstieg blockiert waren, diese Personen waren sich ihrer prekären Lage zwischen dem Mammonismus des ›Organisierten Kapitalismus‹ und dem ›Materialismus der Organisierten Arbeiterschaft‹ bewußt . . . Anders aber als etwa der gewerbliche Mittelstand reagierten sie auf diese Situation nicht primär mit der Gründung von politischen Parteien und Interessenverbänden, sondern mit der Symbolschöpfung einer Gegenkultur, die sich gegen den ›Materialismus‹ der hochindustrialisierten technischen Zivilisation des Reiches richtete, und mit der aktivistischen Gründung von Weltanschauungsbewegungen.«24

   Wohlverstanden: Karl May zu einem aktiven Ideologen der deutschen Jugendbewegung zu stilisieren oder zum geistigen Anführer einer der damals zahlreichen Gruppen der Lebensreformer zu stempeln, wäre kaum angebracht. Wenn wir uns aber seine Lage vergegenwärtigen, die Lage eines Schriftstellers, der einerseits der kapitalistischen Struktur der Gesellschaft seinen Erfolg verdankt und andererseits sein Schaffen in die (auch ihn selbst) entfremdenden Mechanismen der kapitalistischen Wirtschaft (Kolportage!) mit hineingezogen sieht, dann können wir uns auch leicht sein großes Verlangen nach einem Werk


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vorstellen, das trotz seines marktorientierten Charakters dem Leser auch eine Menschheitsidee vermitteln will.


VI.


So steht im Zentrum von ›Winnetou IV‹ der Mythos vom Tod einer großen Rasse, die nur deshalb unterzugehen drohte, weil sie auf ein moralisch bedingtes Gesetz verzichtete: »Wir waren ja Rote! Wir waren Indianer! Wir wollten glücklich und selig sein, doch ohne Mühe und Anstrengung.«25 »Dem Gesetz von Dschinnistan fehlte die bisher von Generation zu Generation bewirkte Erneuerung der Heimatskraft. Es wurde schwach; seine Wirkung ging verloren. Die Engel wurden wieder zu Menschen. Der Himmel verließ die Erde. Das Paradies verschwand. Die Liebe starb. Der Haß, der Neid, die Selbstsucht, der Hochmut begannen wieder, zu regieren.«26 Das hochgelobte paradiesische Land, das keine Impulse mehr aus Dschinnistan empfing, wurde langsam zu Ardistan, wo die Herrscher »zu Despoten, die Patriarchen zu Tyrannen«27 geworden sind. Jetzt blickt die rote Rasse sehnsuchtsvoll nicht nach Westen (denn die Dschinnistan-Boten kamen aus Asien durch die Bering-Straße), sondern nach Osten und erwartet von den ›Bleichgesichtern‹ die wohlverdiente Rettung, die zugleich alle Ungerechtigkeit der Weißen wiedergutmachen soll.

   Der Vorbote der künftigen Vereinigung ist Old Shatterhand, der seinen roten Brüdern die Winnetou-Idee geschaffen hat: »Es ist ein wunderbarer Samen, den Old Shatterhand in das Herz seines Bruders Winnetou legte. Dieser Same trug köstliche Früchte. Die Blüten duften weiter und weiter, und die Körner keimen weiter und weiter. Es wird nicht mehr Stunden, sondern nur noch Minuten dauern, so werden alle diese eure Feinde verlangen, in den ›Clan Winnetou‹ aufgenommen zu werden«.28

   Daß May derartige Gedanken von seinem Zeitgenossen H. St. Chamberlain empfing, ist unverkennbar, obwohl es einen erheblichen Unterschied gibt: May wollte nämlich die Aufstiegsidee der Rasse nicht auf die ›Germanen‹ richten, sondern auf die ganze Menschheit, die Chamberlain folgenderweise diskreditierte: »Diese Menschheit, über die schon so viel philosophiert worden ist, leidet nämlich an dem schweren Gebrechen, dass sie gar nicht existiert. Die Natur und die Geschichte bieten uns eine grosse Anzahl verschiedener Menschen, nicht aber  e i n e  Menschheit.«29

   Mays Tendenz zeigt sich noch deutlicher, wenn wir sie mit einem anderen Konzept vergleichen, das sich in dem seinerzeit sehr bekannten


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Roman ›Helmut Harringa‹ von Hermann Popert (1909) findet. Hier war auch vom Untergang der Rasse die Rede, aber es ging nicht um ihre Erneuerung mit Hilfe der Vernichtung »artfremder« Elemente, sondern um eugenische Maßnahmen, die den friesischen Typus eines schönen Menschen den »degenerierten« Deutschen seiner Epoche vor die Augen stellten. Das Regressive an der Popertschen Mythologie lag vornehmlich darin, daß er lediglich die weißen (genauer gesagt, die »nordischen«) Menschen berücksichtigen wollte und damit eine weltanschauliche Grundlage für die in den zwanziger Jahren blühende Nordische Bewegung schuf. Der soziale Impuls der Popertschen Mythologie ist unverkennbar und resultiert aus einer ganz ähnlichen Lage wie bei Karl May: der des Bildungsbürgers, der mit einem Mythos auf die nicht bewältigte Wirklichkeit reagiert. Im folgenden geht es uns jedoch vor allem um die Feind-Bestimmung in der Mayschen Welt, denn wir möchten untersuchen, inwieweit die Vorschläge des Autors von dem »arischen Mythos« abweichen und wie der Schriftsteller auf die nicht bewältigte Wirklichkeit im einzelnen reagiert.



VII.


Es ist leicht zu erkennen, daß die in den klassischen Reiseerzählungen dargestellte Welt zweiteilig ist und daß diese Zweiteiligkeit in ›Winnetou IV‹ weiter modifiziert wird. Die aus dem Prinzip des Kampfes zwischen Gut und Böse ableitbare Zweiteilung wird durch die Sonderstellung des Helden als regulativer Faktor hervorgehoben; in ›Winnetou IV‹ gewinnt der Held einen mächtigen Verbündeten in der Person Tatellah-Satahs. Zweiteiligkeit prägt die Figurenkonstellation und die räumlichen Dimensionen: zwei Brüder Enters treten auf, zwei Indianerhäuptlinge, Athabaska und Algongka: zwei Künstler, die am Winnetou-Denkmal arbeiten, zwei Aschtas sowie zwei Winnetous ­ ein falscher und ein richtiger. Auf der Ebene der räumlichen Dimension haben wir es mit zwei Kanzeln zu tun, die sich jeweils auf zwei oder vier Inseln befinden. Wir erleben auch hier eine zweifach geteilte Stadt. Man denke sich einen gigantischen, weit über tausend Meter aufsteigenden Riesendom, vor dem sich ein ebenso riesiger, freier Platz ausbreitet, der durch mehrere Stufenreihen in eine obere und eine untere Hälfte geschieden ist.30 . . . Weil nun die eine Hälfte der Ebene höher lag als die andere, zerfiel diese Stadt in eine Ober- und einer Unterstadt. Der Erzähler gibt uns sofort den Wink, daß diese Aufteilung einen tieferen (besser gesagt: höheren) Sinn habe: Ob auch in anderer


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Beziehung ein Unterschied zwischen beiden herrschte, war . . . nicht zu sehen.31

   Noch interessanter scheint die zweifache Aufteilung der Gegner zu sein, die mit den allegorisch dargestellten räumlichen Dimensionen zusammenhängt: denn eigentlich kommen nur zwei Gruppen in Betracht, mit denen es zu kämpfen gilt ­ die alten Häuptlinge Tangua, Kiktahan Schonka, To-kei-chun, Tusagha Saritsch, die sich der Gemeinschaftsidee mit Gewalt widersetzen wollen und die bezeichnenderweise ihre Verbündeten in den Arbeitern zu finden hoffen. Die Arbeiter - die zweite Antagonistengruppe - kommen übrigens besonders schlecht weg. Sie betrugen sich als echte Rowdies, obgleich sie in Gegenwart so vieler Häuptlinge es nicht wagten, besonders laut zu werden.32 Der Erzähler bezeichnet sie als eine Menge roter Arbeiter . . . , die sich ganz gewiß nicht hierzu hergegeben hätten, wenn sie nicht von ihren Stämmen ausgestoßenes Gesindel gewesen wären.33 Der Haß der Arbeiter auf Old Shatterhand ist auch ökonomisch bedingt: »Ja, die Arbeiter hassen Euch, Mr. Shatterhand. Sie sind ergrimmt über Euch, vom ersten bis zum letzten. Und sie machen gar kein Hehl daraus. Sie wissen, daß besonders Ihr gegen den Bau des Denkmales seid. Sie behaupten, daß Ihr sie um ihre lohnende Arbeit, um ihre Existenz bringen wollt. Sie halten seit einigen Tagen heimliche Versammlungen ab, in denen beraten wird, in welcher Weise man sich von Old Shatterhand und Tatellah-Satah befreien kann.«34

   So ergibt sich eine offensichtliche Freund-Feind-Bestimmung, die an die vier Kanzeln am Mount Winnetou gemahnt:


Aus dieser Konstellation ist leicht zu erkennen, daß es sich nicht um ein bloßes Spiel mit den Figuren handelt, das seinen Ausdruck auch in der streng ›geteilten Welt‹ des Romans findet, sondern daß es hier um vier Lebenshaltungen geht, die kaum im Wilden Westen zu suchen sind, wohl aber im wilhelminischen Deutschland. Schauen wir uns nun die beiden Feindgruppen an, und davon zunächst die Arbeiter, die May folgerichtig als Produkt der Kapitalisierung betrachtet und die mit dem Komitee (den  s c h e i n b a r e n  Freunden35) zusammenarbeiten.


Die Entwicklung der Arbeiterschaft, die im 19. Jahrhundert neu in


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das gesellschaftliche Leben Deutschlands eintrat, war im Bewußtsein der Bildungsbürger mit der Entwicklung des Kapitals verbunden und wurde unter die Begriffe Materialismus und Mammonismus subsumiert. Der neuen Gefahr versuchte man auf verschiedene Weise zu begegnen. Erstens: indem man sie als Ausdruck des Minderwertigen im sozialen und biologischen Sinn diskreditierte (was an die Versuche Woltmanns und seine politische Anthropologie erinnert). Zweitens: man wußte, daß das kapitalistische System die einzige Möglichkeit darstellt, die verlorene gesellschaftliche Position des Bürgertums wiederzugewinnen. Man versuchte deshalb, die Arbeiter sowohl im weltanschaulichen als auch im ökonomischen Sinne unter Kontrolle zu bringen.

   Diese zwei Möglichkeiten finden wir auch in ›Helmut Harringa‹ von Popert, der einerseits die »minderrassigen« Arbeitergestalten darstellt und andererseits die »organisierte« Gruppe schildert, die im Namen der Ordnung agiert. Auf der weltanschaulichen Ebene spielt die Regenerationsidee eine regulative Rolle, indem sie nicht nur die »rote Gefahr« bannt, sondern auch die soziale Spitzenstellung der Bildungsbürger sichert. Auf diese Art und Weise werden zwei Aspekte desselben Problems gelöst: die Arbeiterfrage und die kapitalistische Entfremdung

   Auch bei Karl May finden wir diese zwei Möglichkeiten, wobei sowohl der Anführer der Gruppe, der Nigger, als auch die Komitee-Mitglieder, die als pseudo-intellektuelle Vertreter der Mammonismus-Mentalität mit den Arbeitern gleiche Sache machen, Mischlinge sind. Die zweite Möglichkeit, die Arbeiter in Zaum zu halten, deuten sowohl die bewaffneten Clan-Mitglieder an als auch die Arbeiter selbst, die bei der Befreiung der Verschütteten mitwirken.

   Selbstverständlich war die Überwindung der Arbeiterfrage mit einer ideellen »Überwindung« des Kapitalismus verbunden. Dort, wo man die Arbeiter einzubinden glaubte, brauchte man die Überzeugungskraft einer Idee, einer großen Idee, die die entfremdeten Warenverhältnisse lösen konnte. Diese Idee realisiert Old Shatterhand mit seinem Winnetou-Bild, und es erweist sich plötzlich, daß die destruktiven Kräfte des Fortschritts, die das Idyllische der Landschaft zu zerstören drohten, jetzt von großem Nutzen sein können: Da zeigte sich nun das elektrische Licht von hohem Werte.36 Die geschäftstüchtigen Yankees, die die Gründung der Stadt ökonomisch ausgenutzt haben, beginnen jetzt konstruktiv zu wirken, denn Old Shatterhand rät, gleich nach dem Sieg der Winnetou-Idee eine neue herrliche Stadt aufzubauen. Die Stadt, die aus dieser Idee entstehen will, wird fast alle Konflikte lösen:


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Die monumentale Kunst von Young Apanatschka und Young Surehand wird jetzt positiv eingesetzt, und die Arbeiter werden nicht um ihre Existenz gebracht. Das elektrische Licht wird sich auch noch in größerem Ausmaß als wertvoll erweisen. Die Idee löst also alle Konflikte, auch auf der ökonomischen Ebene.

   Das Problem des ersten Feindes wird somit gelöst, aber bei dieser Lösung aktiviert Karl May (bei einer teilweise auf jeden Fall richtigen Orientierung an ökonomischen Mechanismen) eine falsche Perspektive, die seine regulative Winnetou-Idee eigentlich in Frage stellen könnte. Anders gesagt: die wirklichen Probleme der Entfremdung werden auf einer ideal-ästhetischen Ebene scheinbar gelöst, während sie in Wirklichkeit kaum als überwunden gelten konnten. Die ideologische Verdeckung der eigentlichen Verhältnisse kann man jedoch keineswegs verabsolutieren, denn wir müssen zunächst die Frage stellen, was für eine Idee der alte Old Shatterhand seinen Mitmenschen bringen wollte. Es steht fest, daß die Perspektive, die bei May zu entdecken ist, bei Popert, Frenssen u.a. zu verhängnisvollen Entwicklungen führte, in denen sich der sozialismusfeindliche Aspekt mit dem Nationalismus gepaart hat. Wie weit aber Karl May von solcher Alternative entfernt ist, haben wir bereits mit dem Hinweis auf seine Chamberlain-Revision angedeutet.

   Wenn wir uns die zweite Feind-Gruppe (die Indianerhäuptlinge) samt ihren Truppen näher anschauen, dann entdecken wir bei Karl May eine kaum im damaligen Deutschland gängige Komponente, die sich mit dem Langbehnschen Bild eines ästhetischen Feldherrn-Politikers decken würde. Mit der Lösung dieser Frage ändert sich auch die räumliche Konstellation.



So stehen sich die beiden antagonistischen Gruppen auf zwei Kanzeln gegenüber, um die Vernichtung des falschen (lies: ›materiellen‹ Winnetou) zu beobachten und die Apotheose der durchgeistigten Vision Sascha Schneiders zu erleben.


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   Die alten Häuptlinge mit ihren Kriegern stellen das militärische Prinzip dar, das zu besiegen wäre, um einen Sieg der Friedensidee (und deshalb auch der Gemeinschaftsidee) zu erreichen. Dies ist ein im zeitgeschichtlichen Kontext außerordentlich gewichtiger Umstand, wenn wir z. B. unser Vergleichsobjekt ›Helmut Harringa‹ anschauen, in dem die militaristische Sphäre eine nicht unbedeutende Rolle spielt. Das besagt durchaus nicht, daß die deutsche Lebensreformbewegung den Pazifismus total ablehnte, aber kaum ein anderer Schriftsteller hat die Rolle des Friedensgedankens so stark hervorgehoben wie Karl May. Seine Bestrebungen gerade in diesem Punkt ermöglichen uns trotz seiner zeittypischen Blindheit gegenüber der sozialen Misere die Feststellung, daß er in seinem Spätwerk ›Winnetou IV‹ von den besten Absichten geleitet wurde.



VIII.


Der Sieg, der sich auf der dritten Kanzel als Versöhnung und Bildung einer Gemeinschaft vollzieht, bedeutet keine Wiederherstellung der Macht der alten Häuptlinge, auch keine Wiederherstellung der alten Ordnung, sondern die Gründung einer neuen elitären Gemeinschaft, deren Vorbote der Schutzengel-Clan Winnetou ist. Darin besteht das Maysche Bekenntnis zu jener Form der Gegenwartsbewältigung, die man später, seit Hofmannsthal und Thomas Mann, als »konservative Revolution« verstand. Ihr Urbild ist auch von Armin Mohler umrissen worden.37 In diesem Zusammenhang ist noch einmal der Hinweis auf den Mayschen Dschinnistan-Mythos angebracht, da dieser Mythos als Spielart des manichäistischen Sitara-Märchens, das an die eschatologischen Wiederkunftsutopien gemahnt, kaum biologisch begründet ist. Auf der moralischen Ebene des Gesetzes findet er dagegen eine Triebkraft, die den Gewaltmenschen zu verwandeln glaubt. Diese Triebkraft stellt die christliche Liebe dar, denn der neue, durchgeistigte Winnetou findet seinen Weg zum Kreuz, und sein Beispiel soll positiv auf die neue Menschheit wirken. Seine Idee, und nicht die »materielle Gestalt«, soll Rassen, Klassen und Nationen vereinigen, um einer neuen Menschenwürde den Weg zu ebnen. Der kluge Old Shatterhand ist dabei insofern behilflich, als er die vorhandenen Gegensätze zu mildern und zu dämpfen weiß.

   Aus der heutigen Perspektive, mit dem vorurteilslosen Blick auf die Entwicklung der deutschen Geschichte läßt sich feststellen, daß die Maysche Vision der bürgerlichen Angst vor der Revolution mit den negativen Entwicklungen in Deutschland nur teilweise übereinstimmte.


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1 Vgl. hierzu: H. Widhammer, Realismus und klassizistische Tradition. Zur Theorie der Literatur in Deutschland 1848-1860, Tübingen 1972; R. Wittmann, Das literarische Leben 1848-1880. In: Realismus und Gründerzeit. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848-1880. Mit einer Einführung in den Problemkreis und einer Quellenbibliographie. 2 Bde. Hg. v. Max Bucher, Werner Hahl, Georg Jäger, Reinhard Wittmann. Bd. 1: Einführung in den Problemkreis, Stuttgart 1981; R. Brinkmann, Wirklichkeit und Illusion, Tübingen 21966

2 W. Powroslo, Erkenntnis durch Literatur. Realismus in der westdeutschen Literatur der Gegenwart, 1976, 14

3 P. Demetz, Zur Definition des Realismus, in: Literatur und Kritik, H. 16/17, 1967, 336

4 St. Kohl, Realismus: Theorie und Geschichte, München 1977, 191

5 A. Pöllmann, Karl May und sein Geheimnis, in: Jahrbuch der Karl-May Gesellschaft 1982, Husum 1982, 251

6 Ebd.

7 Ebd.

8 E. Bloch, Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt a.M. 1962, 173

9 K. Mann, Cowboy-Mentor des Führers, in: H. Schmiedt (Hg.), Karl May, Frankfurt a.M. 1983

10 K. May, Mein Leben und Streben (weiter LuS), Hildesheim 21982, 209

11 Ebd. 211

12 J. Schulte-Sasse, Karl Mays Amerika-Exotik und die deutsche Wirklichkeit, in: H. Schmiedt (Hg.), a.a.O. 101-129

13 Karl May, Winnetou IV, Freiburg 1910, 236

14 Ebd. 17

15 Ebd. 36

16 Ebd. 15

17 Vgl. LuS

18 LuS, 212f.

19 Winnetou IV, 31

20 Ebd. 274

21 Ebd. 507

22 Ebd. 517

23 L. Gurlitt, Gerechtigkeit für Karl May, Radebeul 1919, 109. Seine Meinung: »May also hat die geistigen Irrungen und Wirrungen seiner Zeit nicht miterlebt und nicht dargestellt« kann wohl als übertrieben angesehen werden.

24 U. Linse, Die Jugendkulturbewegung, in: Klaus Vondung (Hg.), Das wilhelminische Bildungsbürgertum. Zur Sozialgeschichte seiner Ideen, Göttingen 1976, 120

25 Winnetou IV, 278

26 Ebd.

27 Ebd. 279

28 Ebd. 617

29 H. St. Chamberlain, Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts, München 1909, 703

30 Winnetou IV, 387f.

31 Ebd. 390

32 Ebd. 548

33 Ebd. 433f.

34 Ebd. 556

35 Sie lassen sich eher als scheinbare Freunde des ›Winnetou-Gedankens‹ bezeichnen.

36 Winnetou IV, 598

37 A. Mohler, Die konservative Revolution in Deutschland. Grundriß ihrer Weltanschauungen, Stuttgart 1950


Die Verfasser haben absichtlich die psychologisch orientierten Arbeiten von Kai Riedemann, Ekkehard Koch und Dieter Sudhoff nicht herangezogen. Ihre Interpretation stellt die soziologischen Aspekte von ›Winnetou IV‹ in den Vordergrund.




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