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HANS WOLLSCHLÄGER
Das dreizehnte Jahrbuch
Die ursprüngliche Planung dieses Bandes hatte vorgesehen, endlich einen der wichtigsten biographischen Texte Karl Mays allgemein zugänglich zu machen, nämlich die umfangreiche zweite Eingabe An die 4. Strafkammer des Kgl. Landgerichtes III in Berlin von 1911. Sie war seine letzte größere Arbeit und enthält Material zur Geschichte seines Lebens wie seiner Zeit und Zeitgenossen, das in seinem Wert für die Forschung über den prozessualen Zweck von einst hinausreicht. Während der Vorbereitungen zu einer Jahrbuch-Wiedergabe erreichte uns nun die Nachricht, daß der Karl-May-Verlag eine größer angelegte, dreibändige Reprint-Edition von Karl Mays Prozeßschriften herauszubringen gedenke, enthaltend nicht nur die KLG-Eingabe, sondern auch die beiden fragmentarischen Privatdrucke des Schundverlags von 1905 und 1909 sowie das überhaupt noch nie gedruckte, aber oft schon zitierte Manuskript Frau Pollmer. Eine psychologische Studie, das in gewissem Sinne mit unter die prozeßbedingten Schriften Mays zu rechnen ist, aber noch weit stärker als die übrigen über seine Anlässe hinausgreift. Vor dieser, inzwischen erschienenen, Edition zurückzutreten, war ein leichter Entschluß, zumal sich das Problem einer gänzlich neuen Jahrbuch-Konzeption dadurch mit löste, daß der Karl-May-Verlag uns aushilfsweise eine Reihe von Gelegenheitsarbeiten Mays zur Verfügung stellte, deren Kenntnis bisher auf einen kleinen Forscherkreis beschränkt war. So bringt der vorliegende Band nun doch, wie ursprünglich beabsichtigt, überwiegend neue Texte von Karl May, und die sekundäre Interpretation tritt davor eine Weile in den Hintergrund: eine Abwechslung, die manchem Leser nicht unwillkommen sein wird.
Wir haben sogar, nach einiger Überlegung, auch auf eine Kommentierung dieser Texte verzichtet, obwohl zu ihnen sicher viel zu sagen ist. Was zu ihnen zu sagen ist, wird in weiterer Zeit von selbst zusammenkommen, aus verschiedenen Richtungen und unter verschiedenen Gesichtspunkten. Ihr literarischer Wert ist fraglos gering, und Mays Gesamtwerk wird durch sie kaum bereichert. Wohl aber bereichern sie unsere Kenntnis seiner Seelenlage in der von Verwirrungen und Verzerrungen so schwer bedrängten späten Zeit, und als Selbstzeugnisse
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dokumentieren sie manchen Charakterzug, der bisher allenfalls zu erraten gewesen wäre. Insgesamt geht von ihnen, so muß man freilich wohl sagen, ein eigenartiger Geruch aus, eine nicht durchaus behaglich zu atmende Atmosphäre, die dazu nötigt, die allgemeine Bezeichnung Eigenlobsschriften nicht ungerecht zu finden. Aber selbst diese Atmosphäre, die man beim Jedermann ohne Bedenken als zu schwer erträglich fliehen würde, bewahrt hier - und nicht nur durch ihr Entrücktsein ins Historische - ein wiederum eigenartiges Stück Anziehungskraft zugleich und ermöglicht, sie in jenes betrachtende Verweilen einzubeziehen, auf das sich Mays Werk und Person ein Recht erworben haben.
Die Schundliteratur und der Früchtehunger stellt eine jener Selbstrezensionen dar, die Karl May auch zu anderen Gelegenheiten riskiert hat (z.B. zu den Himmelsgedanken; der Text ist vom Karl-May-Verlag zur Veröffentlichung vorgesehen). Die anfängliche Befremdung darüber, daß ein Autor so hochgemut über sein eigenes Werk redet, läßt sich wohl leicht fallen lassen; natürlich weiß er darüber immer mehr zu sagen als seine Kritiker, und auch die bürgerlichen Anstandsregeln haben ja ihre Grenzen. Bedauerlicher ist, daß jenes Mehr, das May über sich zu sagen gehabt hätte, auch hier wieder in einer Metaphorik steckenbleibt, die nicht vom Fleck kommt und mit ihren nicht gerade glücklich gewählten Beispielen zuletzt aus der Wirklichkeit gerät. May blieb als Vermittler seiner selbst fast immer hilflos, bei aller Beredtheit, und Einsicht in diese Ohnmacht war es wohl auch, was ihn auf die Veröffentlichung dieses Versuchs, für sich zu werben, verzichten ließ. Entstanden ist der 13 MS-Seiten umfassende Text Ende 1907/Anfang 1908, und er spiegelt nicht zuletzt, wohl hörbar unter dem so gegenteiligen Ton, ein Stück von der Verzweiflung darüber, daß weder das Reichsgerichtsurteil im Münchmeyer-Prozeß noch der Vergleich mit den Fischerschen Erben die eigene »Schundliteratur« hatten aus der Welt schaffen können.
Verzweiflung, in seinem Wesentlichen, Eigentlichen nicht erkannt und verstanden zu werden, hat May ersichtlich auch zu den Aphorismen über Karl May bewogen; sie waren als Leitfaden für wohlwollende Rezensenten bestimmt, doch ist nicht bekannt, wo und wie weit sie in der Presse Verwendung fanden. Ein weiteresmal spricht der Autor hier über sich in der dritten Person, doch unterscheidet sich die Distanz zu dieser dritten Person grundlegend und erheblich von der maskierten Anonymität der anderen vergleichbaren Texte. Fast scheint es, als werde hier neben der genügend komplizierten Abspaltung des Werk-Ichs Menschheitsfrage noch ein weiterer Riß abgebildet, eine weitere
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Spaltung des menschlichen Innern, die auch das Autor-Ich Karl May von dem trennt, der darüber berichtet. Denn auch dieses Autor-Ich, das mehr als zehnmal in den Vereinigten-Staaten war, bleibt ja der Realität durchaus fern, jener Person um die bürgerliche Existenz eines gewissen Karl May, die es vollständig auszuschalten gelte, wo man zur Ich-Vorstellung der Menschheitsfrage gelangen wolle: es ist dieser Menschheitsfrage, die freilich in Amerika, wo es viel zu fragen gibt, mehr als zehnmal gewesen sein mag, immer noch näher als dem Schreibenden, der keinen Namen mehr hat. Was hier nur im Umriß angedeutet wird, mag vielleicht zur weiteren Untersuchung herausfordern; der Autor, der sich in dieser so gespaltenen Selbstbeschreibung Völker- und Menschheitspsycholog nennt, bleibt selber für die Kreativitäts-Psychologie ein außerordentliches Paradigma, wenn auch gewiß nicht der erste Fall in der Literatur aller Völker. Der Ton dieser Selbstbeschreibung, ein durchaus wuchtiger Brustton, überschreitet die Grenze zur Peinlichkeit immer wieder rüstig und ohne Mühe; dahinter aber erklingt, ein weiteresmal, auch die klagende Stimme eines, der in der von ihm geschaffenen Bilderwelt einsam zuhause und zugleich gefangen war, und wer sie zu hören versteht, wird durch sein Geschmacksurteil nicht behindert sein, diesen ersten Versuch Karl Mays, zu einem ordnenden System seines Denkens und Schreibens durchzudringen, begreifen und deuten zu lernen. Er ist, dieser Versuch, sicher in stärkstem Maße befremdlich; aber ausschließlich wahnhaft darf man ihn ebenso sicher nicht nennen, und wo die Ausdruckskraft der Beschreibung versagt, ist deren mögliche Wahrheit nicht unbedingt zu Ende. Geschrieben wurden die Aphorismen, laut Altersangabe auf Blatt 6, im Jahre 1909; das Manuskript umfaßt 20 lose Textblätter, von denen die Nummern 1, 2, 6 und 7 sowie das Titelblatt nur in Abschriften Klaras erhalten sind.
Von der Niederschrift Lebius, der »Ehrenmann« gibt es verschiedene Fassungen (auch mit der Titelvariante Lebius als Ehrenmann); die hier abgedruckte ist wohl die letzte und jedenfalls umfangreichste. Anlaß war die Absicht des von Lebius verklagten Vorwärts-Redakteurs Carl Wermuth, Karl May und Klara May als Zeugen für die »ehrenabschneiderische Tätigkeit des Lebius« (Brief Wermuth an May vom 5.4.1908) einzusetzen, und May hat seine Darstellung wie auch den entsprechenden, hier im Anschluß wiedergegebenen Text für Klara ersichtlich als Zeugenaussage formuliert; als Entstehungszeit ist der April 1908 anzunehmen, kurz nach dem Erscheinen der Kahl-Broschüre (1.4.1908), mit der Lebius Mays Zeugenschaft zu entwerten versuchte. Zur Aussage vor Gericht kam es - dadurch oder aufgrund
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anderer Umstände - nicht, und der abbrechende Schluß des Klara-Textes, der nach der Vermutung Roland Schmids ursprünglich noch weitergeführt werden sollte, scheint mir anzuzeigen, daß der Verwendungszweck gegenstandslos geworden war. - Durch das freundliche Entgegenkommen des Karl-May-Verlags ist es uns möglich, Mays Manuskript in diesem Jahrbuch auch als Faksimile wiederzugeben; der Text für Klara umfaßt 6 Seiten von der Hand Karl Mays.
Nicht mit letzter Genauigkeit zu datieren ist der Text Zur Abwehr: er spricht vom mittlerweile sechsjährigen Münchmeyer-Prozeß und müßte, nimmt man dies wörtlich, also nach dem März 1908 entstanden sein; den inneren Zusammenhängen nach käme das gesamte anschließende Jahr in Betracht. Er stellt offenbar den Versuch dar, für die nach dem Reichsgerichtsurteil (9. 1. 1907) noch verbliebene letzte Prozeß-Phase, die Klage auf Rechnungslegung, mit einem Appell an die Öffentlichkeit zu treten, wie es ja auch die Helfer der Pauline Münchmeyer, in freilich anderem Sinne, längst getan hatten. Verwendung fand der Text, in dem May ein weiteresmal von sich in der dritten Person spricht, mit der Stimme seiner Anwälte, jedoch nicht, soweit wir wissen, - sei es daß May selber die Presse für einen moralischen Appell als ungeeignet erkannte, sei es daß die, mit mehr oder weniger Geschick und Konzentration rein sachbezogenen, Anwälte es vorzogen, bei ihrem eigenen Stil zu bleiben. Nicht ausgeschlossen ist, daß eine Ablehnung des hier eingeschlagenen Weges durch die Anwälte mit dazu beitrug, daß May seinem langjährigen, längst skeptisch beurteilten Freund Bernstein, der für den Abwehr-Text als Mitunterzeichner vorgesehen war, das Mandat entzog; an seine Stelle berief er 1909 den Dresdener Anwalt Netcke, und zwar mit der bezeichnenden Bedingung, daß kein Schriftsatz mehr zu Gericht gehen dürfe, den er, May, nicht zuvor genau durchgesehen und gebilligt habe; in der Praxis schrieb Karl May von da an, wie auch früher schon häufig, seine Schriftsätze fast sämtlich selbst. - Das Manuskript umfaßt 16 Seiten und trägt keine Unterschrift; möglicherweise sollte es ebenfalls, trotz der rundenden Schlußgeste, ursprünglich noch weitergeführt werden.
Selbstzeugnisse verschiedenster Art -; daß in ihnen allen, zwischen ihren Zeilen, aber die eine, selbe Stimme spricht und um Teilnahme bittet für ein zunehmend von der Teilnahme verlassenes Schicksal, ist wohl unschwer überall zu hören - auch wenn man, um zu dem wahren klagenden Ton zu gelangen, immer wieder durch den bloß kläglichen hindurchhorchen muß. Das gilt auch für den von Ulrich Schmid vorgestellten Briefwechsel Mays mit dem bayerischen Königshaus, namentlich der Prinzessin Wiltrud. Die Hoffnung auf Protektion, besonders
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groß nach dem Mißerfolg - oder besser Nicht-Erfolgmit dem ersten eigentlichen Werk, dem Drama Babel und Bibel, hat Karl May hier zu einem devoten Enthusiasmus veranlaßt, den wir Heutigen, infolge des Schwindens der Herrscherhäuser allen Umgangs mit hohen Personen entwöhnt, nur unter erschwerten Umständen nachempfinden können. - Die Briefe liegen im Wittelsbacher Familien-Archiv, und wir danken für die uns freundlich erteilte Erlaubnis zum Abdruck.
Gegen wieviel banale Nüchternheit Mays Eigentliches sich durchzusetzen hatte, spiegelt der jetzt aufgefundene Briefwechsel Joseph Kürschners mit dem Verleger Hermann Zieger über das ChinaWerk, in dem Mays Et in terra pax erschien. Er vermittelt nicht nur die noch fehlenden Klarheiten über die Entstehungsgeschichte des Friedens-Buchs, sondern gibt nebenbei auch das immer betrachtenswerte Seltstporträt eines Büchermachers und -händlers, der sich würdig in die Reihe Münchmeyer-Spemann-Fehsenfeld einreiht; - den letztgenannten bezeichnete May um diese Zeit aufgrund seines idealistischen Eifers gern als Hamster. - Ein Verlegerporträt bildet vielleicht auch den Realitätshintergrund der verschlüsselten Symbolerzählung Abdahn Effendi, nämlich das Adalbert Fischers, dessen Tod (7. 4. 1907) - ebenso vielleicht - den Anstoß zu der vielschichtigen Novelle gab. Dieter Sudhoff hat sich der Deutung der symbolischen und allegorischen Schichten mit großer Genauigkeit angenommen, und es steht zu hoffen, daß seine Arbeit eine lebhafte weitere Beschäftigung mit diesem bisher immer vernachlässigten Spätwerk Karl Mays einleitet.
Die Arbeit der Karl-May-Gesellschaft ist sehr umfangreich geworden: das zeigt Erich Heinemanns traditioneller Rückblick. Aber wenn es zuweilen schon schwerfällt, über alle in den letzten vierzehn Jahren erschienenen Untersuchungen die Übersicht zu behalten, so muß man dem ebenfalls schon traditionell gewordenen Literaturbericht von Helmut Schmiedt doppelt dankbar sein, daß er die außerhalb der Gesellschaft mit May befaßten Publikationen überblickbar festhält und, durch seine stets zuverlässigen Charakterisierungen und Urteile, nicht selten die Mühe erspart, sie selber noch eigens zur Kenntnis zu nehmen. Denn es gibt viel Überflüssiges unter der Sonne; man muß mit seiner Lesezeit haushalten. Durchaus haushälterisch wird man etwa auf die neue Begegnung mit Klaus Jeziorkowski reagieren, dem es schon vor einigen Jahren gelungen war, in Karl May »ein Stück Vorgeschichte der deutschen Katastrophe« zu sehen, und der diesen Gedankengang inzwischen bis an die »Rampe von Auschwitz« weitergeführt hat. Dem Auffälligen solcher Einfälle wird man ein gewisses, wenn
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auch kurz gehaltenes Staunen nicht versagen wollen; für das letzte Wort muß man sie aber darum noch nicht halten. Ähnlich ergeht es gelegentlich Richard Wagner, dessen - freilich aberwitziger - Aufsatz über Das Judentum in der Musik unmittelbar, wenn ich die jüngste Interpretation recht verstehe, zur Einrichtung der KZs geführt hat und dessen Parsifal eine nur mühsam als Kunstwerk getarnte Aufforderung darstellt, zu dieser Einrichtung zurückzukehren. Bei May ist es der Gnostizismus der Sitara-Parabel, durch den dieser Weg gewiesen wird: - wahrhaftig, es ist um ihn doch immer wieder Neues möglich. Man wird wohl am gerechtesten verfahren, wenn man auch solche wissenschaftlich daherkommenden Erkenntnisse mit zu den anerkannt findigen Verdrängungsprozeduren der Nachkriegsdeutschen legt, und sein Kopfschntteln ganz allgemein auf den Anblick richten, wie diese bei der Betrachtung ihrer Geschichte den Vertretern ihrer Geistesgeschichte nachträglich eine Mitwirkung zugestehen, die sie ihnen zu Lebzeiten in der Regel nicht gewähren.
Wir danken allen Mitarbeitern - und in diesem Jahr besonders dem Karl-May-Verlag, Bamberg, für seine Unterstützung und die Gestattung des Abdrucks von bislang unveröffentlichten May-Texten aus seinem Archiv.
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