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KARL MAY



Die Schundliteratur und der Früchtehunger.





Wir saßen beisammen, um über die Pest der Schundliteratur und die gegen sie anzuwendenden Mittel eine ernste Berathung zu halten und den Erfolg dieser Berathung dann zu veröffentlichen. Vor uns lagen vier Haufen von Lesematerial. Erster Haufe: Eine Menge von Zeitungsartikel gegen die Schundliteratur. Zweiter Haufe: Eine Menge von Schundproben, als da sind Nik Carter, Buffalo Bill, Sherlock Holmes* u.s.w. u.s.w. Dritter Haufe: Eine Menge von Jugend- und Volksschriften, die gegen den Schund empfohlen werden und ihn verdrängen sollen. Vierter Haufe: Die Bücher von Karl May. Ein Jeder von uns hatte mitgebracht, was er über das vorliegende Thema besaß und es auf den Tisch gelegt. Im Laufe der Verhandlung war dieses Material in die vier erwähnten Haufen auseinandergeschieden worden. Und das war in aller Ruhe, in der logischesten Weise geschehen, als ob sich das so ganz von selbst verstehe.
   Wir alle waren darin einig, daß die Schundliteratur noch nie ihr Haupt so frech erhoben hat wie in der gegenwärtigen Zeit. Sie ist wirklich zur allgemeinen Pest geworden. Es giebt schon gar keinen Winkel mehr, der frei von ihrem Schmutz und ihren Ansteckungsstoffen ist. Sie gleicht einer Bestie, die man ohne Erbarmen todtzuschlagen hat, wo man sie nur immer trifft. Vor allen Dingen hat man sich zu fragen, durch welche Ursachen die Existenz und das beispiellose Anwachsen des Schundes überhaupt begründet ist und welche Mittel es ermöglichen, seine Existenzbedingungen zu vernichten und mit ihnen auch ihn selbst. Als bei der ersten Frage das scheinbar gar nicht mit ihr zusammenhängende Wort »Früchtehunger« fiel, und wir um Aufklärung boten, wurde sie uns ungefähr in folgender Weise gegeben:
   Es handelt sich bei jeder Lektüre um Früchte, die dem Geist resp. der Seele geboten werden. Es giebt zweierlei Früchte: Erdenfrüchte und Sonnenfrüchte. In den ersteren wird vorzugsweise das aus der Erde, also


*Damit sind nicht die berühmten Bücher von Conan Doyle gemeint, sondern die damals sehr verbreitete recht primitive Romanheft-Serie gleichen Titels. Eine Auswahl von 15 dieser Hefte erschien als Reprint in der Reihe ›Quellen zur Trivialliteratur‹. Olms-Presse, Hildesheim. (Anm. d. Redaktion)



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von unten kommende Nahrungsmaterial, in den letzteren aber die von oben kommenden Stoffe und Imponderabilien, besonders das Sonnenlicht, aufgespart. Jeder Psychophysiolog weiß, daß ein goldiger Apfel oder eine köstliche Birne eigentlich nichts Anderes ist, als aufgestopelter Sonnenschein, materialisirt durch die Säfte des Baumes. Beide, Apfel und Birne, sind Sonnenfrüchte. Je höher die Krone, desto besser gedeihen sie. Die Erdenfrüchte lieben diese Höhe nicht. Sie beginnen in der Höhe des Getreides und nähern sich als Gemüße dem Boden mehr und mehr, bis sie als Wurzel oder Knolle ganz unter ihm verschwinden. Es läßt sich denken, daß eine Kartoffel oder ein Rettich dem, der sie genießt, nicht das bieten kann, was ihm eine Orange oder eine Reineclaude bietet. Und doch bedarf er der feinen, reinen Stoffe wenigstens ebenso sehr wie der ungeläuterten, groben. Daher kommt es, daß der Mensch um so mehr nach Sonnenfrüchten hungert, je tiefer er seinem täglichen Brode an oder gar unter der Erde nachzugraben hat. Am Meisten verlangen die Kinder und die Armen nach Obst und lockenden Früchten. Die Kinder aus Instinct, um in sich Sonnenschein für spätere, dunkle Tage aufzusparen, die Armuth aber aus wirklichem und directem Hunger nach Besserem und Menschenwürdigerem, als was die harte Scholle bietet. Und wird ihnen dieses unwiderstehliche weil natürliche Verlangen nicht gestillt, so sind sie gezwungen, nach niedrigeren Früchten zu greifen, vielleicht gar nach solchen, bei denen die allzu große Erdennähe den Sonnenschein in Gift verwandelt hat. Da kommt der Kolporteur. Er bietet helles Glück und unendlichen Sonnenschein, für nur zehn Pfennige pro Heft und Woche. Seine Apfel sind Stechapfel, seine Kirschen Tollkirschen. Das Gift wirkt, und je mehr es wirkt, umso schneller geht der unglackliche Leser moralisch und seelisch zu Grunde.
   Giebt es hiergegen keine Hülfe? O doch, es giebt eine, aber auch nur diese eine: die Sonnenfrucht.  G e b t   E u r e m  V o l k  u n d  E u e r n  K i n d e r n  S o n n e n f r ü c h t e !  Thut Ihr das, so werden sie schon durch ihre eigene Natur verhindert werden, nach Tollkirsche und Stechapfel zu greifen. Der Kolporteur wird dann ganz von selbst verschwinden, der Schundhefthandel ganz von selbst aufhören! Ihr braucht ihnen nicht zuzumuthen, gleich hoch zusteigen. Auch unten am Bodengiebtesgarköstliches Beerenobst, in dem der Sonnenstrahl sich süß verkörpert. Bedenkt, daß jede Menschen- und jede Kindesseele ein Glack erleben will, und zwar ein  r e i n e s ,  e d l e s !  Erlebt sie das nicht an sich selbst oder wenigstens in ihrer Nähe, so sucht sie Ersatz dafür in Büchern, aus denen sie wenigstens erfährt, daß Andere glacklich werden. Findet sie dieses Glück in Euern sogenannten guten Büchern nicht, so steht den schlechten Thor und Thüre offen. Gebt also Bücher, welche den Sonnenfrüchten glei-


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chen! Ein jeder Verfasser sei ein heller, warmer, glacklicher Sonnenstrahl, der jedem seiner Leser entgegenduftet, sobald die Frucht, das Buch, sich vor ihm öf inet! Das ist es, was von Euch verlangt wird und verlangt werden muß, Ihr Autoren von Volks- und Jugendbüchern. Aber Niemand kann geben, was er selbst nicht hat. Wie steht es da mit Euch? Mit Euerm eigenen Glack? Mit Euerm klaren, warmen Gottesglauben? Mit Euerm eigenen seelischen Sonnenschein? Sind Eure Bücher, die da vor uns liegen, die Sonnenfrüchte, die wir für unser Volk, für unsere Jugend von euch verlangen?
   Wir hatten diese ihre Bücher gelesen, den ganzen, großen Haufen. Und was war der Erfolg? Den literarischen Unwerth der Schundhefte und ihre directe moralische Schädlichkeit in Betracht gezogen, hatte es geschienen, als ob es kinderleicht sein müsse, Bücher grad antipoden Werthes und Characters zu verfassen. Und sämtliche Zeitungsartikel, die einen so großen Haufen vor uns bildeten, waren in einem Tone geschrieben, als ob es einem jeden der Verfasser gar keine Mühe mache, eine wahre, wirkliche Sonnenfruchtzu geben. Und nun? Der Erfolg? Zunächst hatten alle die Bücher auszuscheiden, deren Verfasser irreligiös oder aus einfachen literarischen Gründen unfähig waren, überhaupt ein Buch zu schreiben. Sodann schob man die Copisten fort, die Nachahmer, die trockenen Dozenten, die geist- und seelenlosen Pedanten, die männlichen Blaustrümpfe, die Raisonneure u.s.w. u.s.w. Da blieb schließlich grad nur ein halbes Dutzend Bücher übrig, von denen man sagen konnte, daß sie als Früchte, wirklich als Früchte zu betrachten seien; aber eine »Sonnenfrucht« war leider, leider nicht dabei! Das eine enthielt Getreidefrucht, aber den Sonnenschein der Weizenkörner erbarmungslos zermahlen, zu Teig gerührt, zu Pfennigsemmeln verarbeitet, doch nicht verkauft und vollständig altbacken geworden. Das zweite enthielt köstliche Pfirsiche und Aprikosen, aber so übermäßig kandirt, daß man sie nicht genießen konnte. Das dritte war eine absolute Erdenfrucht: Kartoffeln, zerrieben, mit viel Mehl gemischt, fetter Speck hinein und dann ein großer, runder, sehr schöner und sehr regelmäpiger Kloß daraus gemacht, in Wasser gekocht und dann auf einem braunen, thönernen Teller zu Tisch getragen. Das vierte schien zwar unbedingt eine Sonnenfrucht zu sein, denn es war ein riesiger, gelber Kürbis, aber so klein geschnitten und dann zu Brei und Suppe gekocht, daß man am Schlusse fast nicht mehr wußte, was man gelesen hatte. So ähnlich die übrigen beiden.
   So blieb nur noch der vierte Haufe übrig, enthaltend unsern alten, trotz aller Anfeindungen doch niemals wankenden Karl May, der allen seinen Lesern ein immerwährender Sonnenschein gewesen und geblie-


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ben ist bis auf den heutigen Tag. Vor nun fast fünfzig Jahren begann er seine »Erzgebirgischen Dorfgeschichten« mit dem unvergleichlichen »Sonnenscheinchen«*, dem bald das ebenso herzige »Karlinchen« folgte. Heut, wo nach beinahe einem halben Jahrhundert seine groß angelegte und in prächtigen Farben ausgeführte Friedenssymphonie »Der Mir von Dschinnistan« erscheint, besitzt er, wie »Smihk, der Dicke« beweist, die seltene Gabe, heitern Sonnenschein zu verbreiten, noch in unverminderndem Grade. Fast zahllos sind die ächten »Sonnenfrüchte«, die er uns gespendet hat, und man darf mit vollem Rechte fragen, welche Gestalt der neueren Literatur wohl seinem »Winnetou« an die Seite gestellt zu werden verdient. Hier aber kommt es nur darauf an, daß er sich die schwere Aufgabe gestellt hatte,  » d e n  S c h u n d  a u s  d e r  d e u t s c h e n  L i t e r a t u r  h i n a u s z u s c h r e i b e n . «  In welcher Weise ihm dies gelungen ist, darüber höre man den bekannten Juristen Dr. Lorenz Krapp, welcher in der Augsburger Postzeitung schrieb: »May hat eine Reinigung der Jugend- und Volkslektüre gebracht, die still und langsam vor sich ging, aber daher um so nachhaltiger wirkt. Er hat in praktischer Weise durch produktives Schaffen hier zum Mindesten so viel erreicht, wie alle deutschen Jugendschriftenausschüsse zusammen es auf theoretischem Wege vermuchten.« Kenner der Verhältnisse zögern keinen Augenblick, zu behaupten, daß Machwerke, die heut in Millionen Exemplaren die deutsche Volksseele vergiften, gar nicht hätten aufkommen können, wenn Karl May freie Hand geblieben wäre.
   Er war der größte, der unerbittlichste, der erfolgreichste Feind dieser Schundliteratur. Er kannte sie genau und wußte, sie zu fassen. Da beschloß man ihrerseits, ihn durch einen Köder unschädlich zu machen: Er wurde beauftragt, den jetzt so vielgenannten »Buffalo Bill« zu schreiben. Der Verleger wendete sich 8 - 9 mal brieflich und mündlich an ihn, doch vergeblich. May ließ sich nicht fangen! Da griff man zum Äußersten: Man trat mit der Anklage hervor, daß May ja längst selbst schon eine ganze Reihe von Schundromanen geschrieben habe. May hat gerichtlich nachgewiesen, daß dies eine Lüge war; aber die Lüge wurde leider doch zunächst geglaubt, und so sah er sich genöthigt, seine Zeit und Kraft an häßliche Prozesse zu verschwenden und den »Schund« einstweilen laufen zu lassen, wie er lief. Die Folgen sind nicht ausgeblieben. Das deutsche Volk und die deutsche Jugend watet jetzt förmlich im gifti-

*Die Erzählungen ›Sonnenscheinchen‹ und ›Das Geldmännle‹ (mit dem Zicklein ›Karlinchen‹) hat Karl May nicht vor nun fast fünfzig Jahren verfaßt, sondern sie unmittelbar für die Buchausgabe der ›Erzgebirgischen Dorfgeschichten‹ (1903) zu den frühen Erzählungen hinzugeschrieben. Vgl. Vorwort zum Reprint Karl May: Erzgebirgische Dorfgeschichten. Olms-Presse, Hildesheim 1977. (Anm. d. Redaktion)



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gen Schmutze dieser Literatur, die sich sogar nicht entblödet, die Wirkung ihrer Contagien* als die Wirkung seiner Werke zu bezeichnen. Gesetzgebung und Polizei, Kirche und Schule erweisen sich als machtlos, dieser Seuche gegenüber. Kein Gegenmittel will fruchten. Man versucht alles Mögliche. Man will, was May schon vor Jahrzehnten that, den Schund zu Tode schreiben. Man setzt Preise auf Volksromane aus; aber kein Preis und kein Roman will ziehen! Die Jugendschriftencommissionen und die Bücher, die von ihnen empfohlen werden, wachsen wie Pilze aus der Erde; aber der Schund wächst noch höher und schneller als sie. Was soll daraus noch werden!
   Da liest man plötzlich in einer der neuesten literarischen Veröffentlichungen: »Karl May hat einige Jahre hindurch geschwiegen und kein neues Werk erscheinen lassen; und das ist zu bedauern, denn es bleibt unleugbar: Seine Schriften haben der Kolportage-Schundliteratur, die so viel Schlimmes anrichtet, erheblichen Abbruch gethan. Wer ihn las, wollte nichts von jener wissen. Es ist deshalb erfreulich, daß er hier nun mit guten, tüchtigen Volksbüchern hervortritt ꝛc. ꝛc. ꝛc. ꝛc. ꝛc. ꝛc. « Hieraus ist zu ersehen, daß Karl May sein langes Schweigen nun endlich gebrochen hat und mit der Herausgabe von neuen Werken beginnt. Das ist mit Genugthuung zu begrüßen. Jetzt haben wir wieder Früchte zu erwarten, »Sonnenfrüchte«, für die hungrige Seele des deutschen Volkes, für unsere Alten und Jungen! Wie lange, so wird man die Stechapfel und Tollkirschen nicht mehr beachten. Es wachsen bessere Früchte; es naht eine neue Ernte! Er aber, der kürzlich den ärgsten Schund nach langem Ringen besiegte, wird uns auch Werke zu geben wissen, an denen alle Nik Carters und Buffalo Bills ersticken und verschwinden müssen. Wir sehen einen fröhlichen, erfolgreichen Kampf voraus, nicht gegen May, sondern mit ihm gegen das Gift der Kolportage. Er war es, der den rechten Weg vor allen Andern betrat. Sei Denen, die ihm jetzt folgen, um den Schund aus der Literatur hinauszuschreiben, derselbe Erfolg gewünscht, den er sich schon errang! Und war er nicht fehlerfrei, indem er seiner Individualität gehorchte, so wird es ihnen leicht, diese Fehler zu vermeiden und ihn nicht nur zu erreichen, sondern auch bald zu überholen. Also wohlauf, Ihr Herren, die Feder zur Hand! Seid Sonnenstrahlen; gebt Sonnenfrüchte! Ihr zählt nach Tausenden, doch zwanzig oder dreißig von euch genügen. Ein jeder von diesen Dreißig schreibe einen Winnetou, einen Hadschi Halef, eine Hanneh oder eine Schakara. Das ist ja gar nicht schwer; das bringen sie doch wohl fertig! Und bringen sie es, so ist es mit dem »Schund« zu Ende, und es bedarf keiner Gesetzge-

*Contagien, Plural von Contagium (S. 69): Ansteckung bzw. Ansteckungsstoff, veraltete medizinische Bezeichnung. (Anm. d. Redaktion)



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bung, keiner Polizei, keiner Bevormundung und überhaupt keiner Sorge mehr. Die Literatur gehöre dem Literaten. Er sei Herr im eigenen Hause. Wenn er diese Nik Carters und Sherlock Holmes nicht länger dulden will, so werfe er sie hinaus! Wozu das Jammern und Klagen? Wozu die fremde Hülfe? Er kann es, wenn er will!




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