Das vorliegende sechste Jahrbuch ist das bisher umfangreichste unserer Reihe. Es umfaßt interpretatorisch erstmals alle Stadien der steten und im letzten Lebensjahrzehnt so steil ansteigenden Entwicklung dieses Autors. Das Wiedererscheinen seiner ungekürzten Selbstbiographie im Herbst 1975 (vgl. S. 287 ff.) hat uns veranlaßt, aus dem Spätwerk einen wichtigen und in Buchform noch niemals veröffentlichten Begleittext Karl Mays zu Mein Leben und Streben mit umfangreichen Erläuterungen vorzulegen. Sehm hat den Winnetou, das erfolgreichste Werk des »Reiseerzählers« Karl May, von der Erzählstruktur her in einer für das Verständnis der gesamten Abenteuergeschichten grundlegend bedeutsamen Weise aus dem Modell des Legendarischen erklärt. Stolte führt seine umfangreiche Arbeit über den Jugendschriftsteller und Literaturpädagogen May am Beispiel der Sklavenkarawane zum Höhepunkt und Abschluß. Hein und Koch schließlich haben sich dem Frühwerk Mays zugewandt, jener Zeit also, die wir im nächsten Jahrbuch biographisch untersuchen wollen, in der May als junger Redakteur seine hier schon in Ansätzen ausgebildete Motivwelt noch in das abgelebte Genre der »Dorfgeschichte« einzubringen versuchte und zur selben Zeit - tastend noch und abhängig von literarischen, historischen und zeitgeschichtlichen Quellen - seine ersten exotischen Erzählungen aus episodischen Szenen zusammensetzte.
Die biographischen Arbeiten des Bandes behandeln anhand aller erhalten gebliebenen Dokumente drei das spätere Schicksal und Werk prägende Schlüsselerlebnisse aus dem tragischen Leben Mays. Hoffmann dokumentiert die Geschichte des »Kerzendiebstahls« am Seminar Waldenburg, die den jungen May zum erstenmal mit dem Gesetz in Konflikt brachte, während Stolte die »Affäre Stollberg«, die zur letzten strafgerichtlichen Verurteilung Mays führte, von den psychologischen Voraussetzungen her und in ihren späteren literarischen Verwandlungen darstellt. Die Beiträge sind zugleich exemplari-
sche Zeugnisse zur Kulturgeschichte, oder besser: zur Geschichte der Unkultur im 19. Jahrhundert. May hatte in beiden Fällen helfen - Not lindern und Unrecht aufdecken - wollen. Die barbarische Bestrafung zu Beginn und das farcenhafte Vor- und Fehlurteil am Ende zeigen, wie hier in der Zielrichtung humane Impulse in zerstörerischer Weise unterdrückt wurden, wenn sie die Fesseln des obrigkeitlichen Reglements auch nur geringfügig im Sinne eigenmächtiger Freiheit zu lockern versuchten.
Auch Plauls umfassende Studie über Mays dunkelste Lebenszeit, die Jahre im Zuchthaus zu Waldheim, belegt dies mit erschreckender Deutlichkeit. Seine Arbeit ist nicht nur ein wertvoller Beitrag zur Strafvollzugsgeschichte im 19. Jahrhundert. Sie liefert uns auch zum erstenmal eine erschütternd konkrete Anschauung dessen, was May in jener Zeit wirklich durchlitten hat. Allein der Umstand, daß May daran nicht - wie es eigentlich unvermeidbar war - zerbrochen ist, sondern das trostlose Elend in eine lebenslängliche schöpferische Produktivität verwandeln konnte, muß seiner Lebensleistung Respekt sichern. Heinemann endlich setzt mit seiner Studie über Karl May und Joseph Kürschner eine Reihe fort, die den Beziehungen Mays zu bedeutenden Personen der Zeitgeschichte gewidmet ist.
Für die freundschaftliche Hilfe beim Zustandekommen dieses Bandes danke ich allen Autoren, meinen beiden Mitherausgebern, den zahlreichen Spendern aus den Reihen der immer weiter wachsenden Karl-May-Gesellschaft und nicht zuletzt unserem Redakteur Ekkehard Bartsch, dessen editorische Mitwirkung dem Leser an vielen Stellen bemerkbar werden wird. Wir hoffen, das nächste Jahrbuch noch 1976 vorlegen zu können, und bitten auch dabei um die Hilfe aller, die der May-Forschung ihr Interesse zugewandt haben.