Planung, Vorbereitung und Herstellung dieses fünften Jahrbuchs der Karl-May-Gesellschaft haben allen daran Beteiligten - außer finanziellen Sorgen und mancherlei Mühen - vor allem das Staunen und die Genugtuung darüber beschert, daß die einmal von uns in Gang gesetzte Forschung zum Thema Karl May so vielfältige Tätigkeit und rege geistige Teilnahme erzeugt und auch in diesem Jahre wieder eine so überquellende Fülle beachtlicher wissenschaftlicher Beiträge hervorgebracht hat.
An das für unsere Gesellschaft bedeutende und allen Beteiligten unvergeßliche Ereignis des vergangenen Jahres, die in der weiteren Öffentlichkeit vielbeachtete Tagung in Regensburg vom 5. bis 7. Oktober 1973, knüpfen drei der in diesem Jahrbuch zusammengefaßten Beiträge unmittelbar an: die Aufsätze von Wolf-Dieter Bach und Alfred Schneider sowie meine Arbeit über die Reise ins Innere entsprechen Vorträgen, die auf jener Tagung gehalten wurden. Wenn mein Beitrag, mit dem wir das Jahrbuch einleiten, das Verhältnis von Dichtung und Wahrheit in den Reiseerzählungen Karl Mays insbesondere an einem konkreten Textbeispiel im einzelnen analysiert, so geht es dabei zugleich um ein besonderes methodisches Verfahren der Interpretation, für das die bekannte Diltheysche These, daß alle dichterische Phantasie ihren Ursprung aus dem Erlebnis, der Lebenssubstanz eines Autors nicht abschütteln oder verleugnen kann, den entscheidenden Schlüssel geliefert hat. Indem hier Biographie und Textdeutung, aber auch die grotesk anmutenden Vorgänge der Karl-May-Rezeption und -Kritik methodisch verklammert sind und sich gegenseitig erhellen, möchten wir unseren Lesern zugleich, wie wir meinen, die Formel anbieten, die begreiflich macht, daß alle in
diesem Buch vereinigten, scheinbar die allerverschiedensten Themen aufgreifenden Untersuchungen in Wahrheit aufs engste miteinander verbunden sind und in ihren Ergebnissen harmonisch ineinandergreifen.
So hat denn auch Wolf-Dieter Bach in seinem Beitrag Sich einen Namen machen hermeneutisch die in Mays literarischen Werken vorkommenden Namen auf ihren Ursprung untersucht und ist dabei ebenfalls in Regionen des Biographischen vorgestoßen, in denen sich psychoanalytische Hypothesen geradezu zwangsläufig anbieten. Der Verfasser, der ja schon im Jahrbuch 1971 mit einem glänzend geschriebenen Essay debütiert hat, wird wohl auch diesmal selbst diejenigen unter unseren Lesern, die seinen Vermutungen im einzelnen Skepsis entgegenbringen, durch die ungewöhnliche literarische Form, die er seinem Aufsatz gegeben hat, entschädigen.
Zur Erschließung des Gesamtwerks Karl Mays und seiner gerechten gehaltlichen Würdigung ist der Wiederabdruck der Erzählung Eine Seehundsjagd, die in den Gesammelten Werken fehlt, sicherlich ein begrüßenswerter Beitrag, und Ekkehard Bartsch hat in seinem Aufsatz »Mensch und Tier« nicht nur diesen Einzeltext kommentiert, sondern des Autors Stellung zum Natur- und Landschaftsschutz überhaupt aus seinem Gesamtwerk dargestellt, die Ambivalenz freilich nicht unterschlagend, die ihm als Kind seiner Zeit und seiner Gesellschaft anhaftete. Man mag es als eine unmittelbare weitere Dokumentation zum gleichen Thema »Mensch und Tier« auffassen, daß in der von mir unterbreiteten Fortsetzung meines Essays Ein Literaturpädagoge die Analyse der didaktischen Struktur von Mays Sklavenkarawane unter dem Stichwort »Die Vögel oder das Leitmotiv« dargelegt wird. Hierbei geht es allerdings nicht bloß um die moralische Problematik der Sache, sondern darüber hinaus darum, nachzuweisen, wie pädagogische Impulse unmittelbar in epische Kunstgriffe und formale Techniken umgesetzt werden. Der Verfasser dieser Abhandlung über die Sklavenkarawane muß übrigens den »geneigten Leser« um Nachsicht ersuchen, weil er sein Versprechen, in diesem Jahrbuch den Abschluß seines Aufsatzes zu liefern, nicht erfüllt hat. Das Thema, das er sich gestellt hatte, nämlich den Listen und Künsten des Literaturpädagogen Karl May philologisch nachzuspüren, hat sich als
weitläufiger erwiesen, als es zuerst den Anschein hatte. Fortsetzung und Schloß werden also erst später folgen.
Wenn in meinem Beitrag von der Reise ins Innere auf die außerordentliche Bedeutung der Gefängniszeit Karl Mays für die gesamte Motivik seines späteren erzählerischen Werkes und für seinen Durchbruch zur literarischen Produktivität eindringlich hingewiesen worden ist, aber doch eben mehr in hypothetischer Form, so hat (für mich überraschenderweise) unser Ostberliner Mitarbeiter Hainer Plaul mit seiner groß angelegten Untersuchung »Besserung durch Individualisierung« die erwähnte These auf eine bewunderungswürdig exakte Weise mit biographischen Details angereichert und bestätigt. Seine Arbeit über die Zwickauer Gefängnisjahre des Schriftstellers ist einer der gehaltvollsten und stichhaltigsten Beiträge zur Aufhellung jener Dunkelzone in Karl Mays Biographie, die bisher alle Aussagen über den Werdegang dieses seltsamen Autors so unsicher gemacht hat. Alle künftige Karl-May-Forschung wird dem Verfasser für seine höchst aufschlußreichen Darlegungen Dank sagen, vor allem deswegen, weil sie die tatsächlichen gesellschaftlichen Hintergründe der frühen Entwicklung Mays scharf und mit anerkennenswerter Objektivität zeichnen. Unsere Leser werden den Aufsatz zweifellos mit größtem Interesse studieren, und es trifft sich gut, daß Klaus Hoffmanns Fortsetzung seiner Arbeit über Karl May als »Räuberhauptmann« die unmittelbar an die Zwickauer Jahre anschließende Periode von 1868 bis 1870 behandelt (der erste Teil der Arbeit wurde im Jahrbuch 1972/73 veröffentlicht) und so dem Leser die Fortsetzung dieser zweifellos spannenden und höchst ungewöhnlichen Lebensgeschichte darbietet.
Zur Karl-May-Rezeption und -Kritik haben wir auch diesmal zwei bedeutsame Komplexe herausgegriffen und näher beleuchtet, die in gewisser Weise reziprok gelagert sind: einen Feind, der sich zu eher wohlwollender Objektivität wandelt (Karl Muth), und einen Freund und Förderer, der sich zeitweise zu kritischer Gegnerschaft entfremdet (Peter Rosegger), beides aber exemplarische Fälle, an denen erregende Dramatik, die das Leben dieses Schriftstellers erfüllt hat, sich eindrucksvoll ablesen läßt. Franz Cornaro (heute einer unserer ältesten Karl-May-Forscher) hat die Gestalt des Kulturpolitikers Karl
Muth, der neben Mamroth zweifellos der ernsthafteste Gegner Mays gewesen ist, sehr lebendig gezeichnet und auch die Rolle, die dieser Gegner in Mays Pandämonium seines Silberlöwen spielt, gedeutet, soweit dies möglich erscheint. Der gehaltvolle Nachruf Muths auf Karl May aus der Zeitschrift Hochland, den Cornaro im vollen Wortlaut beigesteuert hat, illustriert die biographische Skizze. Alfred Schneider hat sich der mühevollen Aufgabe unterzogen, aus dem Briefwechsel zwischen May und Rosegger das Verhältnis zwischen beiden, über das nur widersprüchliche Nachrichten vorlagen, durch bisher unbekanntes Material als ein menschlich überaus bewegendes und an den Kern seiner Existenz rührendes Erlebnis Karl Mays verständlich zu machen.
Wenn Erich Heinemann zum Abschluß dieses fünften Jahrbuchs seine kurzgefaßte Chronik und Bilanz veröffentlicht, aus der die Lage der Karl-May-Gesellschaft und die wichtigsten ihrer bisherigen Leistungen recht eindrucksvoll zu ersehen sind, so ist dies ohne Zweifel ein Grund zur Genugtuung für alle, die an dieser Sache ernsthaft interessiert sind. Indessen ist nicht zu übersehen, daß von der Welle der Verteuerung aller Güter und Dienstleistungen zur Zeit kulturelle Gesellschaften wie die unsere besonders bedroht sind. Die Leistungen, zu denen wir uns unseren Mitgliedern gegenüber verpflichtet haben, werden immer schwerer zu erfüllen sein, wobei Postgebühren und Druckkosten besonders gefährdend ins Gewicht fallen. Um so herzlicher sei auch an dieser Stelle allen denen, die durch hochherzige Spenden das Erscheinen dieses Jahrbuchs ermöglicht haben, unser Dank ausgesprochen.
Die Ausbreitung der Forschungsarbeiten und das zahlreich anfallende Manuskriptmaterial, von denen schon die Rede gewesen ist, haben inzwischen auch eine weitere Arbeitsteilung bei der Herausgabe des Jahrbuches notwendig gemacht. Zu den zwei bisherigen Herausgebern ist als dritter Teilhaber an der editorischen Verantwortung Hans Wollschläger hinzugetreten. Künftig wird nunmehr die Aufgabe eines »Geschäftsführenden Herausgebers« von Jahr zu Jahr unter den drei verantwortlichen Herausgebern turnusmäßig wechseln.