//34//

WOLF-DIETER BACH

Sich einen Namen machen


Der Name eines Mannes ist niemals Zufall

Karl May

D i l k e: Ein typisch englischer Name - für deutsche Ohren zumindest - ist Dilke nicht. Erfunden kann er nicht sein; wer englische Namen erfände, wollte gewiß, daß man sie englischer finde. Also woher?
  Sir Charles Wentworth Dilke wurde 1843 geboren - ein Jahr nach Karl May - und nicht nur diese chronologische Nähe, nicht nur die Wechselentsprechung der Vornamen, nicht nur die Identität der Nachnamen zwischen diesem historischen Dilke und der Zentralfigur aus ›Et in terra pax‹ stiften Zusammenhang: Real-Dilke war Schriftsteller und Weltreisender wie May.
  ›Greater Britain‹ hat der Engländer geschrieben,1 eines der meinungsbildenden Bücher des 19. Jahrhunderts, im Jahr des Erscheinens mit vier englischen und zwei amerikanischen Auflagen Bestseller rund um die Erde; alle Zeitungen von Aberdeen bis Calcutta, von Sidney bis Philadelphia berichteten darüber. Lag darin nicht ein lockendes Vorbild für May, dem bis zuletzt sein Ruhm bestritten blieb, der zeit seines Lebens als Schriftsteller kaum über die Weltprovinz deutscher Sprache hinauskam? Lag die Verlockung vor allem nicht darin, daß da ein Schriftsteller bis in die Wandelgänge der Parlamente hineinwirkte? Daß er prompt selbst ins Parlament gewählt wurde, aufgrund dieses einzigen Buches? Denn Dilke saß noch im Jahr des Erscheinens seines Doppelbands im Unterhaus für die Londoner Vorstadt Chelsea, als jüngster Abgeordneter, der zu jener Zeit in Westminster eine Gemeinde repräsentiert hatte: 25 Jahre alt. May saß im Arbeitshaus von Schloß Osterstein, im gleichen Alter.
  Dilkes Reise rund um die Erde - St. Louis, Rocky Mountains, Mormonenland am Salt Lake, der vormals mexikanische Südwesten


//35//

der USA, Stiller Ozean, Ceylon, Indien, Ägypten: spezifisch Maysche Fährtenstrecken - war die Startbahn für einen meteorischen Aufstieg gewesen. Der junge Abgeordnete trat als Radikaler auf und forderte die Einführung der Republik in England und war dennoch als Nachfolger Gladstones, als künftiger Premierminister des Weltreichs im Gespräch: da kam der Sturz. Eine Anklage wegen Ehebruchs, wahrscheinlich einer politischen Intrige zuzuschreiben, warf ihn aus Amt und Würden, zwang ihn 1885 zur Aufgabe seines Sitzes im Kabinett. Dilke blieb die Rechtfertigung, die Antwort auf Angriffe, der Appell an Vernunft und Billigkeit. Man denkt an Mays Scheidung von Emma Pollmer, wo gleichfalls angeblicher Ehebruch mit im Spiel war; man denkt an die öffentlichen Angriffe gegen May, die in den Jahren vor dem Zerwürfnis begannen, das in engem Zusammenhang steht mit jener großen Lebenskrise während der Orientreise, deren Spiegellichter in der Pax-Erzählung hinter Mays Dilke splitterig aufleuchten.
  Da hatte sich May mit einem Wunschbild einer erfolgreichen Laufbahn identifiziert - aber auch mit einem Schicksal in bürgerlicher Gesellschaft. Dilke: da fand sich May nach dem Soll seiner innersten Sehnsüchte und nach dem Haben seines Scheiterns auf welthistorischer Breitwand konterfeit. Dilke war Kolportage als reale Geschichte; selbst May hätte ihn besser nicht erfinden können als die Verhältnisse des viktorianischen Englands. Aber vergessen wir nicht: Dilke war durch die literarisch geformten Erfahrungen seiner Weltreise, war durch ein Buch in die Zentren der Macht gekommen, wo er auf Veränderung zielte. Und May, dessen Pax-Erzählung in ihrem imperialistisch-antiimperialistischen Kontext zu Dilkes ›Greater Britain‹ sichtbarlich in Bezug steht, hat gerade mit diesem seiner Werke politisch zu wirken versucht. Das erscheint mir nicht der beiläufigste Zug der kuriosen Identifikation zu sein.

R a f f l e y: Sir John Raffley aus ›Et in terra pax‹ reist mit einem Onkel, offenbar gleichen Namens, den May dem Leser als Gouverneur von Ceylon vorstellt. Tatsächlich: es hat einen englischen Gouverneur in Ostasien gegeben, der bis auf den Endbuchstaben des Familiennamens mit Mays Raffley zu identifizieren ist: Sir Thomas Stamford Raffles, der zwischen 1811 und 1816 zwar nicht Gouverneur


//36//

der Insel Ceylon, wohl aber Gouverneur der Insel Java war, als diese vorübergehend unter britischer Herrschaft stand.2 Der einzige Endbuchstabe, durch den sich Mays Phantasie-Gouverneur vom realen Vorbild unterscheidet, ist jenes Ypsilon, mit dem auch der Nachname unseres Autors orthographisch endet.

  May war, kein Zweifel, dem Namen Raffles auf seiner Orientreise begegnet, und sei es nur, daß er im »Eastern and Oriental Hotel« in Penang (das er im Tagebuch der Fahrt in flüchtiger Orthographie unter dem 2. November 1899 nennt),3 eine Annonce zur Kenntnis nahm, die auf das »Raffles Hotel« in Singapur hinwies - »The Savoy of the East«, wie es sich damals Reisenden in Erinnerung brachte. Denn beide Hotels waren in der Hand der gleichen Besitzer, der Brüder Sarkies.4
  Der historische Raffles war an Bord eines Schiffes vor Westindien geboren, genauer: vor der Insel Jamaika. Und allein dieser nicht eben ganz gewöhnliche Umstand könnte Verdacht wecken, daß der Hebammensohn May, ohnehin hellhörig für alles Geburtliche, dem Real-Vorbild seines Governors Raffley nicht erst in der Hotelreception in Penang begegnete, sondern schon früher. Und so ist es denn auch: ›Ein Abenteuer auf Ceylon‹ (1878) hatte den Schauplatz aufs Papier gehoben, in dessen Bereich ein Jahr später mit ›Der Girl-Robber‹ Sir John Raffley vor den Blick tritt, hier bereits aufgefächert in Raffley, den Freund Mays, und seine Hintergrund-Doubles, den Gouverneur von Ceylon und dessen noch mächtigere Überfigur: den General-Gouverneur von Indien. War diese Verdreifachung der Raffleys vielleicht real gespeist von weiteren historischen Prototypen? Etwa durch Anne Raffenel (1809-58), trotz seines Vornamens ein Mann und Weltreisender dazu, der Gouverneur der Insel Madagaskar war, auch dies ein Eiland am Rande der Malayenwelt; oder durch einen zweiten Global-Franzosen, Achille Raffray, der in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts die Gegenden um Härrär und die malayischen Inselfluren besuchte? Spekulationen, gewiß. Sicher aber ist, daß in Mays Phantasie Raffley und Lindsay, der erst später entfaltete, mit unscharfen Rändern ineinander verschwimmen. Denn jener Lord Henry Lindsay aus dem ›Waldröschen‹, die vage Parallelfigur des David Lindsay der Reiseerzählungen, ist ebenfalls Gouverneur - dort


//37//

nämlich, wo der historische Raffles zur Welt kam: auf Jamaika. Und auch sonst in ihrer witzblatthaften Stereotypisierung britischer Art (oder was in Deutschland damals dafür gehalten wurde), sind die Raffleys wie die Lindsays, diese westindisch-ostindischen Wort-Lordschaften, konvertierbare Gestalten, hin und her zu schieben auf der Schiene, die Mays psychische Brüche verklammert. Meine schrecklichste Stunde. ›West-Eastern-Reilway‹. - hatte May bereits in seinem »Repertorium« noch im Zuchthaus unter der Nummer 47 notiert.5 Von weiteren west-östlichen Korrespondenzen wird hier die Rede sein. Daß sie alle insgesamt in Verbindung stehen mit Vorstellungen oder Fakten, die früheste Traumen des Kindes May betreffen, sei vorweggenommen.
  Geburtsraum Westindien also - man erinnert sich an Albin Wadenbachs Martinique und die frühere Heimatrolle, die Westindien und das Antillenmeer für den flüchtigen Gesetzesbrecher May zu spielen hatten. Und klingt nicht der Name der Indianerin Amaika aus dem ›Waldröschen‹ recht deutlich an Raffles' Geburtsinsel an? Eine Insel, die nicht zuletzt durch die Bedeutung ihres Namens als Mayscher Phantasieort sich empfehlen mußte: Jamaika ist abzuleiten vom indianischen »chaymaka« - und das heißt »wohlbewässert«.6 Da auch hier wie andernorts im Werke Mays die Bilder »Insel« und »Frau« zusammendrängen, völlig im Einklang mit der Hieroglyphik der Mythen, wird man nicht fehlgehen, das trankspendende Inselweib (J)amaika der Mutter Dry (auch sie aus dem ›Waldröschen‹)7 zu kontrastieren, und den Gegensatz von »wohlbewässert« und »trocken« als weiteren Fingerzeig auf die von mir in ›Fluchtlandschaften‹ entwickelte Ambivalenz-Theorie zu werten.
  Der Amaika Töchterlein war Duenna bei Amy Lindsay, der Tochter des Jamaika-Gouverneurs. Amy: das sind dieselben Buchstaben wie im Nachnamen Mays, anagrammatisch verstellt. Auch aus Amaika tönt ja Mays eigener Name schmeichlerisch hervor, und wer glaubt, derlei Wortspielereien hätten May ferngelegen, muß sich durch diesen Autor selbst eines besseren belehren lassen: »Ocama? Wahrscheinlich ein zweites Macao, nur daß die Silben anders geordnet sind. Darf ich vermuten, daß dies eine sinnbildliche Bedeutung hat?« fragt May seinen Raffley in der Pax-Erzählung.8 Und dieser entgegnet: »Eine symboli-


//38//

sche und zugleich auch eine erklärende.« Ja, das ist es. So machte sich May seine Namen - und so machte er sich einen Namen in der deutschen Literatur.
  Aber zurück zur Duenna Amy Lindsays. Das Wort, eigentlich »Herrin« bedeutend (und gewöhnlich mit einer Tilde über nur einem »n« geschrieben), bezeichnet im vorliegenden Fall eine »spanische Mädchenaufseherin oder Keuschheitswächterin«9, eine »Anstandsdame«, wie wir heute verschleiernder sagen würden. Doch neben solchen Bedeutungen wird in Fremdwörterbüchern aus Mays Zeit dem Terminus noch eine höchst spezifische zugemessen und so erklärt, daß man Härrär vor Augen sieht: die Duenna ist »Prüferin der Jungfrauenschaft auf den Sklavenmärkten des Orients«.10 Nicht unwahrscheinlich, daß etwa der pubertierende May auch derartige Assoziationen mit dem Hebammenberuf der Mutter verknüpfte. Amaika, Mutter wie Tochter, dazu Amy, sind ohnehin nur Auffächerungen des immer gleichen Weibs-Bildes, in das alles einging, was frühkindliche Erfahrung sich einbrennen ließ.
  So ist denn auch Raffley, ältester Requisitenbestand aus Mays Phantasie, ganz nah dem oralen Komplex, den ich in ›Fluchtlandschaften‹ umrissen habe: »Swallow« heißt eine Yacht Raffleys schon in frühen Szenen, die zwischen Ceylon und dem Malaienarchipel spielen.11 Schwalbe also, ein unverdächtiger Name für ein schnelles Schiff (wie für ein schnelles Pferd an anderer Stelle12) - mitnichten: »to swallow« heißt laut Arno Schmidt »verschlingen«, gierig schlucken«! Das Schiff »Bananian« aus der ›Rose von Kairwan‹ evoziert ähnlich lukullische Phantasien aus der Kleinkinderwelt. Und - honny soit qui mal y pense - es wird erlaubt sein, das Schiff »Lady« (Kapitän Wilkers) aus dem ›Waldröschen‹ scherzeshalber mit jener »Coen« zusammenzusehen, die in Mays Reisejournal unter einem Kapitän Wilkens zunächst als Wahrheit erscheint13 - bis sie in der Pax-Erzählung dann doch Dichtung wird. Aber die »Coen« hat es doch gegeben! Und Wilkens, ihr Kapitän, scheint doch nicht erfunden zu sein! Wiewohl May, Jahre vor seiner Orientreise, nicht nur den Lady-Käptn Wilkers, sondern auch - in ›Deutsche Herzen‹ - den Plantagenbesitzer Wilkins erfunden hatte, den Vater jener Almy, die den Vornamen der Amy Lindsay um ein »l« erweitert.


//39//

Hat es sie doch wohl gegeben, die »Coen«. Ganz gewiß zumindest gab es den Mann, dessen Namen sie trägt: Jan Pieterszoon Coen, der im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts einer der frühen »Gouverneurs-Generaal van Nederlandsch-Indie« gewesen war.14 Also wieder ein Gouverneur, wenn diesmal auch ein durch kuriosen Zufall per Schiff und Schiffsnam' herbeigeführter. Ob May damals, in jenen Tagen, da den verwirrten Mann sein arabischer Diener Hassan verlassen wollte, eine Ahnung aufdämmern spürte, wie ihm sein Inneres im Äußeren begegnete? Mußte es ihm nicht erscheinen, als sei da, im Augenblick seiner späten Lebenskrise, die Symbolwelt abgelebter Zeiten plötzlich konkret rings um ihn her virulent geworden?
  Ein Schiff wie die »Lady« fährt nicht allein durch Mays Phantasie: eine wahre Flottille, ein ganzer Konvoi, ein formidabler Geleitzug, längst schon vom Ausguck des Bargfelder Phanars erspäht, schlingert daher auf der noch immer hochgehenden Dünung, die der Taifun seiner frühen Erregungen aufwarf (jawohl: »Teifun« hieß auch ein Schiff des Auf-der-See-Gefangenen). Die meisten der Mayschen Schiffe sind bis zum Oberdeck schwer befrachtet mit ihrer Namenssymbolik, die Ewig-Weibliches faustdick vor Augen schiebt. So faustdick, daß mit der »Teifun« auch gleich Mutter Thick im Text erscheint: jene Version der femme éternelle, die aufgrund ihrer irden-irdischen Schwere eher hinab- als hinanzieht - hinab in die Tiefsee des Unbewußten, auf jenen dunklen Grund, zu dem hinab auch der Taifun seine Opfer wirft.15 Nur wenige Schiffsnamen evozieren den licht-duftigen Aspekt der Mutterbeziehung: so die »Florida« aus der ›Rose von Kairwan‹, deren blumiger Name jene Halbinsel Amerikas erstehen läßt, die frühen Entdeckern als Paradiesort möglich schien. Vorwiegend aber sind Namen des Schreckens, Namen, die Verschlungenwerden oder harpyienhafte Raffgier (die Erstsilbe »Raff-« in Raffleys Name mag ihren spezifischen Appeal als Code oraler Gier besessen haben) in wechselnder Vermummung darstellen: »L'Horrible«, »Leviathan« (die Drachenmutter!), »Eagle« (wer italienische Märchen kennt, erinnert sich der Meeresfee Aquilina, der adlerhaften), »Le Faucon« - und »Alba« natürlich, in dem sich das Weiß im Mädchennamen der Mutter mit Assoziationen an Schreckensherrschaft mischt: an Schrecken in den Niederlanden, im Ussulistan der Niedergasse von


//40//

Ernstthal. Und Kapitän Leblanc (»der Weiße«) aus dem Herzen- und-Helden-Epos erinnert nochmals an Christiane Wilhelmine Weise, deren französische Berufsbezeichnung - sage-femme - wörtlich ins Deutsche zurückübersetzt eine »weise Frau« ergäbe.16 Leblanc navigiert das Schiff »La Boutense« - und bis auf einen Buchstaben hat es ein Seegefährt dieses Namens tatsächlich gegeben: »La Boudense« war nämlich die Fregatte Bougainvilles, dieses berühmten französischen Seglers rund um die Erde, den die Korvette »L'Étoile« (»Sterna, um nicht zu sagen »Sitara«, wäre zu übersetzen) auf ihrer Umrundung begleitete. »La Boudeuse« aber heißt auf deutsch: »Die Schmollende« - das ist Mutter Smolly aus der ›Rose von Kairwan‹!
  Solche Mutterschiffe sind auch »The Hen« und die fliegend verholländerte »Jeffrouw Hannje« - aber die »Nelson« doch nicht, oder? Nun ja: der seines Augenlichts zur Hälfte beraubte Nelson, der unter einem Kapitäns-Onkel namens Suckling (man möcht's nit glauben: »Säugling« hieß der) die Anfangsgründe des Sailor-Handwerks erlernt hatte, das er in den Gewässern vor Jamaika (!) perfektionierte (von dort aus auch Ostindien besuchend): dieser Nelson war verheiratet mit einer Westinderin und Zweitmann jener skandalumwitterten Lady Hamilton, die Emma hieß, wie Mays erste Frau. Und begraben ließ sich Lord Nelson, Baron of the Nile, in einem Sarg, der aus dem Hauptmast des bei Abukir eroberten französischen Admiralsschiffs »L'Orient« gezimmert war. Der assoziative Kontext um diese Gestalt, die in der ›Rose von Kairwan‹ als Robert Surcoufs Gegenspieler genannt ist (S. 54 f.), war zumindest von ähnlicher Textur, war einschlägig in die Phantasiehöfe um Raffley und deren allerpersönlichsten Kern in der Psyche Mays. Gut holländisch aber spricht das Piratenschiff »Schooter« wiederum ein deutliches Mutterwort sub rosa Kairuanensis: »schoot« heißt »Schoß« - wobei das englische Schützenwort »shoot« als ödipaler Akzent durchaus mitgehört werden mag.
  May war nun einmal ein »Ibn el Amm« (so der Titel seiner Erzählung aus dem Jahre 1887), zu deutsch: ein »Sohn der Mutter«. So kreuzt denn auch sein Seelenbrite Raffley auf der schneewittchenweißen Märchenyacht »Yin« durch die Sundasee - deren Namen May mit »Güte« übersetzt, den positiven Aspekt kindlicher Muttererfahrung idealisierend. In der alten chinesischen Weltlehre aber be-


//41//

deutet »yin« das gebärende weibliche Prinzip schlechthin. Die »Wilahde« aus ›Ardistan und Dschinnistan‹ ist denn bekanntlich auch ganz unverstellt mit dem arabischen Wort für »Geburt« benannt.
  Wohin führt die Fahrt mit der »Wilahde«? Nach Ussulistan, dem »Land der familiären Ursprünge«, wie sich bei voller Erfassung dieser arabisch-persischen Wortverschneidung übersetzen läßt. Und wohin führt die Fahrt mit der »Yin«? Zu Sumatras Küste. Und was liegt hinter Ussulistan, diesem ältesten Imaginativort Mayscher Binnengeographie? Ardistan und Dschinnistan. Was aber liegt hinter Padang, der ältesten niederländischen Ansiedlung auf der Insel (die May in den frühen still-ozeanischen Erzählungen mehrmals, in der »Pax«-Erzählung aber nur beiläufig erwähnt, sie also schon fast verschweigt, weil ihm dort real sein psychischer Zusammenbruch widerfuhr)? Im Hinterland Padangs liegen die zwei Residentschaften »Padangsches Oberland« und »Padangsches Unterland«. Wer zudem die von May erfundene Vegetation Ussulistans pflanzengeographisch einzuordnen versucht, findet vorwiegend Florenelemente der hinterindischen Region - vereinzelt aber auch Pflanzen Westindiens: also hier nochmals westindisch-ostindische Wechselbezüglichkeiten. Auch die Riesenschlange Peddapoda, die May als Tigerschlange17 deklariert, gehört der indoaustralischen Fauna an: sie läßt sich als Tigerpython (Python molurus) um so leichter bestimmen, als May bei der Beschreibung seines Untiers auf die in ›Brehms Tierleben‹ wiedergegebene Schilderung der Erlegung einer nah verwandten afrikanischen Art, der Felsenpython, ganz offensichtlich zurückgriff: Die Zielschwierigkeiten beim Schuß auf die Schlange sind unmittelbar dem von Brehm zitierten Afrikareisenden Schweinfurth entlehnt, wie auch der Vergleich mit einem Baumast auf die ebenfalls bei Brehm zu findende Textstelle des Südamerikaforschers R. Schomburgk zurückgeht, der allerdings eine Boa constrictor vor Augen hatte.18
  Auch die Duriobäume Ussulistans sind geradezu exemplarische Vertreter der Fauna Insulindes. May schildert einläßlich die stinkenden Stachelfrüchte dieses Baumes und vergißt nicht, ihren milchartigen oder rahmartigen Wohlgeschmack lobend zu erwähnen.19 Das ist im Einklang mit der botanischen und kulinarischen Realität - und es ist höchst signifikant im ussulistanischen Kontext samt Stachelhals-


//42//

band und Dornenzwinger. Mit Rücksicht auf die erlegte Python - die alten Griechen leiteten diese männliche Form des gebärmutternamigen delphinischen Drachens Delphyne ab vom Verbum »pythein« (»zur Verwesung bringen«, »in stinkende Fäulnis überführen«)20 - sei nun nochmals des historischen Raffles gedacht, der nicht nur als Kolonialgouverneur seinen Namen verewigte, sondern auch als botanischer Entdecker: zusammen mit Arnold entdeckte er 1818 die nach ihm und seinem Mitfinder benannte Rafflesia Arnoldi auf Sumatra, die »Riesenblume« mit der größten Blüte der Welt von rund einem Meter Durchmesser, fünf Kilo Gewicht und einem Fassungsvermögen für vier Liter Wassser. Rafflesia ist ein Schmarotzer auf Wurzeln in modrigem Erdreich, kellerkeimhaft ohne Blattgrün, in der Knospe einer wuchernden Beule (Aleppobeule?) ähnlich, nach dem Aufblühen obszön fleischrot, doch rasch ins Schwarzbräunliche brandig sich verfärbend, vor allem aber von pestilenzialisch aasartigem Geruch, »wie verdorbenes Rindfleisch«, was ein älteres Nachschlagewerk mit olfaktorischer Präzision anmerkt.21
  Wer dächte da nicht an den Safran in den Särgen der Leichenkarawanen vor Kerbela, wo sich ebenfalls »Blume« und »Gestank« schwadig vermischen? Indes, jene Riesenblume, mit der sich der historische Raffles in der Botanik einen Namen machte - wo bei May ist sie zu finden?
  May erwähnt in der Pax-Erzählung das Heilkraut Brucea sumatrana, das Ko-su der Chinesen.22 Brucea stillt nicht Blut wie eine kleinere javanische Nachbarart der sumatranischen Rafflesia - sie stillt Dysenterie und ist jenes duftende Wundergewächs, das den Pyromanen Waller genesen läßt. Versteckt sich hinter diesem fernöstlichen Waldmayster etwa gar die penetranter als hunderttausend unglückliche Nilpferde riechende Rafflesia? Malayengewächse sind's ja beide. Die stereotype Nilpferd-Wendung aus niederländischem May-Mund, von einem Mijnheer van Aardappelenbosch vorgetragen - und ist die Rafflesia kein monströser Erdapfel? - ruft zumindest auf dem anmoorigen Boden Ussulistans das Schmiege- und Schmeckepferd Smikh herbei, den Urgaul, der durch Verzehr ussulisch-rafflesischer Erde-Äpfel die Pferdeäpfel seiner Säuglingsverdauung dysenteritisch à la ›Der Boer van het Roer‹ auf fremde Pfade setzt.


//43//

Brucea stillt den Würgengel Dysenterie23; die javanische Rafflesia stillt Blutungen. Übrigens ist das Gedärm besänftigende Kraut Ko-su gleichfalls von einem britischen Kolonialbeamten und Ostasienreisenden entdeckt worden: Sir Frederick William Adolphus Bruce (1814-1867) fand die Spezerei mit dem erotischen Kose-Namen. Sie heilt aber nicht nur Dysenterie, also die Ruhr, sondern auch den damit zusammenhängenden Brandstifter-Wahnsinn des Missionars Waller. »Feuer ist Verlangen und Sättigung« erkannte Heraklit.24 Dysenterie, also das Nicht-Behaltenkönnen der Nahrung, bedeutet solches Verlangen. Mays Metapher vom Würgengel macht nämlich Verdacht, daß wohl nicht - oder wohl nicht allein - die Ausscheidung gemeint ist, sondern der Gesamtvorgang der Nahrungsaufnahme: denn gewürgt wird am Hals, wo die Nahrung hereinkommt.

  In ›Fluchtlandschaften‹ habe ich einen Grundkomplex in Mays Psyche umrissen: Die Erfahrung von Gewährung und Versagung an der Brust der Mutter. Und ich habe die Vermutung geäußert, daß die Versagungs-Erfahrung im Zusammenhang gestanden haben mag mit Stillschwierigkeiten, die Mays Mutter durch Wundwerden ihrer Mamillen widerfuhren. Da wäre die Analogie von »blutstillend« und »Nahrungsverlust verhindernd« nicht ohne Interesse. Gerade das Wort Würgengel ist verräterisch. Wollschläger hat erst jüngst den Engel Ben Nur aus ›Am Jenseits‹ als »Abglanz der Mutter«25 bezeichnet, und (J)amaika, die wohlbewässerte Fraueninsel, englischer Besitz, findet ihre Engels-Entsprechung in den ardistanischen Wasserengeln. Diese wiederum, über die Winnetou-Kolossalstatue des vierten Winnetou-Bandes anvisiert, die ja in mancher Weise ein amerikanisches Pendant jener Engel ist (»El Hadd« und »The Frontier«: eine weitere west-östliche Entsprechung), erscheinen mit ihrem fernen Blinken May selbst wie Leuchttürme - und Licht ist hier nur die sublimierte Form jenes Feuers aus Verlangen und Sättigung, von dem Heraklit schon wußte. Winnetou soll ja »Brennendes Wasser« bedeuten26, und wäre also Metapher für den Brand des Durstes; der Engel Ben Nur, Licht im Namen tragend, kann somit neben ihn wie neben die Würg-und Wasserengel gestellt werden. Zumal Dysenterie, der als Würgengel bezeichnete Nahrungsverlust, in diagnostisch rele-


//44//

vanter Weise mit starken Blutverlusten verbunden ist (»Rote Ruhr«). Die Rothaut Winnetou, der Blutsbruder, fügt sich hier ins Bild, wobei bewußt bleiben sollte, daß keine der Gestalten Mays schlichtweg ihn selbst oder seine Mutter oder den Vater symbolisiert, sondern immer verschiedene Aspekte oder Stadien der Beziehung des Kindes zu den Eltern. Die bei May so exzessiv verwendete Form des Dialogs ist ein Hinweis darauf, daß es weniger um Personen für sich als um Beziehungen zwischen Personen geht, und auch die Bezüglichkeiten der Namen und Szenen weist auf die Wichtigkeit der interpersonellen Relationen hin. »Person« steht bei May also für »Beziehung zwischen Personen«, und ungerecht wäre es daher, Gestalten wie etwa Winnetou als realitätsferne Pseudoindividuen abschätzig unter das Stockmaß eines grobschlächtigen Realitätsbegriffs zu stellen, der psychische Realität sozialer Erstbindung gar nicht wahrnimmt: Mays Personismen geben ja nicht reale Außenansichten wieder, Winnetou sowenig wie Ben Nur oder die Wasserengel oder der Würgengel Dysenterie, sondern beschreiben jene emotionalen Kraftfelder, innerhalb denen sich Interaktion zwischen dem Kleinkind und seinen Eltern vollzieht.
  Weil May die von ihm als »Wirklichkeit« empfundene orale Betätigung in seiner Säuglingsphase vergällt wurde, weil vermutlich irgendein schäbiger Mehlsuppenersatz als Pseudomilch sein Bedürfnis »unwahr« stillte, wurde er später zum phantastischen Pseudologen, als den Claus Roxin ihn einprägsam dargestellt hat.27 Die Pseudoerfahrung der ersten Lebensphase entschied über das ganze Leben. Sein Mund suchte immer etwas anderes als das, was die Realität ihm bot. Und weil er nicht erhalten hatte, was ihm eigentlich zustand, war er zu Diebstahl geneigt. So stahl er sich auch Namen: Namen, die gleichzeitig auf den frühen Glücksentzug hinwiesen und ihn durch wasserengelhohe Idealisierungskonstrukte anspruchsvoll überwölbten. Doch tief eingeschreint im Inneren des Wasserengels, verhüllt auch da noch: die Kerzen aus dem ungereinigten Wachs, dem unreinen Nebenprodukt des eigentlich erwarteten Honigs der Muttermilch. Neben der Feuerfiedel liegen diese Verbildlichungen der Erfahrung von Falschem, und sie sind selbst Brandsubstanz, erhellen mithin, warum die Enttäuschung einer libidinösen, also »feurigen« Gefühlsintention zu


//45//

einem Vorrat an Zündstoff wird. In der langen Reihe von Quidproquos, die May durch sein Werk hin vorführt, sind ja die kulinarischen Vertauschungen und Substitutionen besonders augenfällig: Tollkirsche statt Maulbeere (Maul!) bei der Vergiftung der Enkelin Marah Durimehs, anschließend die Eintauschung des guten Kaffees gegen den schlechten durch die Myrte Mersinah, deren hierdurch herausgeforderte Beschimpfung aus Halefs Mund vielleicht die Wahrheit ausplaudert, daß es Mays Großmutter gewesen ist, die bei der Erkrankung der brustwund gebissenen, wohl fiebrig infizierten Wöchnerin an deren Stelle einsprang. Die Pseudo-Erfahrung mit der Mehlwasser fütternden Großmutter (denn Mehlwasser füttert jene Myrte den Gefangenen des Aghas - während im zweiten Band der Winnetou-Erzählung die muttrig anlautende Wüste Mápimi mit einem Mehlwürmertopf verglichen wird, aus dem wilde und räuberische Völker hervorbrechen) kann sehr wohl in die spätere Märchengroßmutter umgeschönt worden sein: auch hier käme der Zusammenhang von Pseudo-Erfahrung und Scheinwelt zur Evidenz.
  Die blutstillende Rafflesia einerseits und die Brandwahnsinn stillende, phonetisch kosende, Nahrungsverlust heilsam wettmachende Ko-su/Brucca andererseits passen wie die beiden Hälften jener zackig zerschnittenen Betelfrucht zusammen, die in der ›Pax‹-Erzählung unter der Oberflächenchiffre eines geheimnisvoll exotischen Erkennungszeichens Getrenntsein trotz ursprünglicher Einheit, dazu den Wunsch nach Zusammenfinden ausdrückt. Nicht nur hier steht neben der zutage tretenden Hälfte deren verborgenes Ergänzungsstück, das aus dem uneigentlichen Fragment erst das eigentliche Ganze macht. In mannigfaltiger Ausgestaltung treten in den Texten Entsprechungen zu dieser Betelfrucht auf; in allerlei Varianten wird der Komplex »fehlende Hälfte« vorgeführt. Stets aber handelt es sich um die Hälften der imaginären Brust-Frucht, der wahren, weil befriedigenden Brust, und der unwahren, weil nicht befriedigenden; und diese Diskrepanz ist es, die in allen Aufspaltungen, allen uneigentlichen Eigentlichkeiten, allen Pseudismen und Quidproquos Mayscher Figuren die Entzweiung erzwingt. Im Bild der Betelfrucht erscheint solche Spaltsinnigkeit gebißhaft als Zackenschnitt, als Trennung und Verzahnung, den Riß zwischen Mutter und Kind nicht nur als Faktum, sondern auch mit dem


//46//

Hintergrund seiner Genese vor Augen führend. Die Zusammenfügung der beiden Hälften aber bewirkt Wallers Rettung.
  Die zweite, rettende Hälfte der Betelfrucht wird Mary Waller samt einem Blumenstrauß in jenem Moment überbracht, da sie die Stimme ihrer verstorbenen Mutter zu hören glaubt. Wo? In Kota Radscha auf Sumatra (»Königsstadt« heißt dieser Ort auf der Königsspitze der Insel, und »Kot« ist herauszuhören, thematisch im Einklang mit der Dysenterie Wallers). Schauplatz dieser Aushändigung ist das sogenannte Hotel Rosenberg28, wo unfern das kotstillende Ko-su wächst. Rosenberg: »doch Hotel Rosenberg? Das kann nicht der richtige Name sein«.29 Aber wieso denn nicht? Laut dem Zeugnis von Mays Reisetagebuch hat es in Kota Radscha ein Hotel Rosenberg gegeben.30 May dementiert hier offfenbar die Wirklichkeit, weil sich für ihn unter dem Namen »Rosenberg« sofort ein Schwarm an Assoziationen festsetzen mußte, wie Fliegen am Euter der Kuh. Und er ahnt die Diskrepanz zwischen der Realität und dem durch Realität in ihm evozierten Bündel von Gefühlen und Bildern; gerade hier, wo Reales mit seinem Unbewßten sich kurzschloß (wie noch mehrfach auf dieser Reise), wird ihm der pseudologische Überbau seiner Vorstellungen wankend. Das kann nicht der richtige Name sein (hätt' er ihn schlicht erfunden, wär's der allerrichtigste wohl gewesen!). Nun, da die beiden Hälften der Primärfrucht sich scheinbar wieder zusammenfügen, nun, da Wirklichkeit und pseudologische Verneinung der Wirklichkeit, das wahre Leben und sein beschönigendes Surrogat in eins zu fallen vorgaukeln, beginnt der Zackenschnitt durch seine Psyche spät nachzubluten. Eigentlich kann er nun die Schriftstellerei aufgeben (und das Rauchen gleich dazu, diese andere orale Kompensationstätigkeit), wie er Raffley in einer Wette anbietet. Wo die literarisch ritualisierte Dissoziierung psychischer Inhalte, diese Trennung in verhüllte Realität und manifeste Realitätsabwehr durch die Vorspiegelung eines Zusammenfalls der getrennten Sphären aufgrund von Zufallskoinzidenzen dem Trugbild einer Restitution ältester Einheitserfahrung weicht, muß dies die dissoziierenden psychischen Energien arbeitslos machen: ungebundener Wunschdrang von einst, durch ein falsches Versprechen hervorgelockt, wird frei flottierend psychisches Chaos stiften. Das geschah denn auch wenige Tage darauf in Padang.


//47//

  Fast irritiert es, in welchem Maße reale Stationen der Orientreise kraft schieren Namensklangs in Mays Psyche Widerhall herausklopfen konnten. Wenn Waller im Galle Face-Hotel31 vermutet wird, dann wohl kaum ohne das gallenbittere Gesicht dieser Figur mitzudenken, deren Dysenterie vor Verabfolgung des Ko-su durch Pharmaka behandelt wurde, die allesamt ihre Bitterkeit auszeichnet. Der Point de Galle Ceylons ist ja ohnehin ein alter Knotenpunkt Mayscher Phantasie, und wie nahe er hier dem Gallenpunkt seiner Muttererfahrung ist, zeigen Namen wie »Hotel Madras« oder »Matara«, die der stereotypen »Sierra Madre« des Wilden Westens mutterlautlich entsprechen. Nicht im Galle Face Hotel Colombos, wohl aber in einem Hotel in Point de Galle begegnete der ›Pax‹-May dem Mandarin des roten Blumenknopfes (»der Schönheit Rosenknopf« hieß die Brustwarze in barocker Dichtersprache), und turbulenter Anlaß ihrer Bekanntschaft ist ein nachtruhestörendes Trinkgelage old-wasserenglischer Rowdys, unter ihnen Dilke. Der Name des Mandarins, den May als lieber Kleiner späterhin apostrophiert, verweist auf das Beißen des Säuglings als Ursache des roten Blumenknopfes: »Fang« bezeichnet deutsch das Gebiß des Raubtiers oder Hundes (Befehl an die Manna und Wasser erschnüffelnden Bärenhunde Ussulistans: Et in terra pack's!). Man denkt an andere Maysche Szenen mit flegelhaften Ruhestörern im Wilden Westen, wo schwarzer Panther oder Bluthund die Szene mit ihrer zubeißenden Wildheit markieren. Gerade aber das Wunschziel des pantherhaften Zubeißimpulses steckt ebenfalls im Namen des Mandarins, denn das chinesische »fáng« bedeutet »Geben«, »Austeilen«.32 Die gebißgleich zackig zerschnittene Betelnuß ist Bettelnuß ungestillter Not.
  Was May ausgeteilt erhielt, war nicht der Rosenhonig oralen Glücks gewesen: es war Bitterkeit, vielleicht ganz konkret, gewiß aber im übertragenen Sinne. Die Bitterstoffe der Koloquinte riecht er in der Wüste der Tschoban noch über weite Entfernung aus dem Rauch eines Feuers33 - und die drastisch purgierende Wirkung der zu Mays Zeiten offizinellen Bitterstoffrucht war ihm, dem Lexika-Leser, sicher bekannt. Das in zwei Hälften zerschnittene Brustschild des Dschirbani ist Analogon der zerschnittenen Betelfrucht der Mary Waller; wie diese symbolisiert es ein ersehntes Wiederbeisammen. Und wie das


//48//

Schild-Motiv auf die Abwehr des Wunsches nach der Brust verweist, so verweist die Betelfrucht, diese Kau-Frucht schlechthin, auf den Grund der Abwehr. May dürfte in Ostasien selbst gesehen haben, wie die Betelkauer den blutrot gefärbten Speichel auf die Straße speien. Daß zudem die Betelfrucht in jenen Ländern als Mittel gegen Dysenterie gilt, mag hier noch als Fugenkitt zwischen den amöbengleichen Teilen dieses diagnostischen Puzzles dienen. Ein Seitenblick auf die Maysche Pharmakopöe im ›Waldröschen‹ wird auf Seite 117 des ersten Bandes neben der Beißbeere auch die Brechnuß auftun, und »Erbrechen« ist wie »Dysenterie« eine Metapher für Nahrungsverlust, für Nahrungsentzug (man vergleiche die Vergiftungsszene der Enkelin Marah Durimehs). Eine ostindische Brechnußart, Strychnos potatorum, dient weiters auch zum Klären trüben Trinkwassers.
  Penang aber, der Insel-Ort, wo der historische Raffles als Schreiber des Gouverneurs seine ostasiatische Laufbahn begann, ist mit dem malayischen Namen für eben jene Betelfrucht benannt, die bei der Rettung Wallers eine so auffällige Schloß-Schlüsselrolle spielt. Hier auch, in der Betelstadt, stieg die Fee des Südens wie Aphrodite aus den Wogen.34 Und die marmorne Feengestalt der Yin war mit dem Raffley der Erzählung eng verknüpft: er war Eigner dieses idealisierten Mutterschiffs und zuletzt auch des Mädchens, nach dem die vor Penang ankernde Yacht benannt war. Gerade deshalb aber steht hinter dem jüngeren Raffley der Onkel Governor: der zunächst noch wehrende Schatten des wahrhaft besitzenden Vaters der ödipalen Situation. Der Besitz der Yin bleibt erträumt. Dr. Tsi aber tröstet durch seine Verlobung mit Wallers Tochter Mary, dieser amerikanisch-westlichen Entsprechung der Yin, tröstet mit einer Spiegelentsprechung solcher Vereinigung des himmelweit in 0st und West getrennten Paares: Fiktion der zuguterletzt - und nun gleich doppelt - doch noch gewonnenen Liebe der Mutter: »tsi« heißt »Sohn«. Fu aber, der Vater des Tsi, trägt im Namen die chinesischen Wörter »fu« für »Vater« und »reich« - aber wohl im unbewußten Verständnis Mays auch »fù« für »Weib«, »Gattin«.35 Der Reichtum des Vaters, den Wollschläger als Merkmal Mayscher Vaterfiguren in seiner jüngsten psychologischen Scotland-Yard-Studie über den Besitzer von vielen Beuteln hervorhob,36 erhält somit durch die Doppelbedeutung des chinesischen »fú« noch


//49//

schärfere Kontur. Da John Raffley die west-östliche Verbindung Tsi-Mary durch seine Parallelverbindung zu Yin kontrapunktiert, (auch sie eine Gouverneurstochter! Bd. XXX, 459) erweist sich der Onkel Governor als Entsprechung des reichen Vaters Fu - und als reich ist er denn auch beschrieben. Allerdings scheint der Reichtum - und Reichtum bedeutet hier: Besitz der Mutter - im Bilde des jüngeren Raffley bereits auf diesen übergegangen zu sein, analog zum Reichtum des Dr. Tsi. Das Geld, über das beide verfügen, ist gewissermaßen eine Vorauszahlung auf noch ausstehendes Glück, das zuletzt in den beiden Frauen Mary und Yin sich noch habhafter dem darbenden Gefühl vor den schmachtenden Blick stellt.
  Eine Episode aus dem Leben des historischen Raffles verknüpft diesen schließlich auch noch mit der Figur Wallers. Der schiffsgebürtige Raffles verlor, als er vor seiner Heimfahrt aus Ostasien an Bord ging, durch einen Schiffsbrand im Hafen, noch vor Lichtung der Anker, all seine Sammlungen und Bücher. Der Topos »Bücherverbrennung« - aufschlußreiche Variante Mayscher Brandphantasie - erscheint in der Pax-Erzählung ja als zentrales Ereignis: Waller, der blindwütige Missionar, verbrennt die Bücher der Heiden vor dem Tempel in den Bergen Sumatras. Aber diese Heiden sind nicht irgendwelche, sondern ganz bestimmte: Konfuzianer nämlich, Verehrer der Ahnen. Und mit der Aufforderung, zum Ahnensaal zu gehen, endet die ganze Erzählung. Dies erklärt, warum May so viel mit Edelleuten und Lordschaften im Sinn hat - das ist nicht nur kleinbürgerliche Vergötzung sozial höherer Schichten: Edelleute besitzen Ahnen, einen Reichtum an Ahnen gewissermaßen, und die Plurifizierung der Mutter und des Wunsches nach Besitz der Mutter, der Ahnin schlechthin, dient kaum allein der Verschleierung, sondern drückt noch mehr aus: er will die Mutter möglichst oft, möglichst vielfach, möglichst in häufiger Wiederholung der Glückserfahrung. Eine Deutung, die hier an der Oberfläche bliebe, und nichts sähe als herkömmliche Klischees der Kolportage, die Mays Metaphern von »Reichtum« und »Edelleuten« ausschließlich soziologisch verstanden wissen wollte, fiele auf den Bauch der Erkenntnis, käme bei aller Richtigkeit im Partiellen nimmermehr auf die Füße ihrer materiellen Basis, die sie doch sucht, denn zeitlebens bleibt soziales Verhalten untermustert von der


//50//

sozialen Ersterfahrung des Kindes in seiner Familie. Gerade bei May läßt sich so einiges lernen über den Zusammenhang von kapitalistischem Reichtumsstreben und der solches Streben anpeitschenden frühen Beraubungserfahrung: versagte Liebe, ungestilltes Bedürfnis. Bei May läßt sich lernen über die Kondition unserer Gesellschaft.
  Realer Schiffsbrand und Bücherzerstörung beim historischen Raffles, imaginäre Bücherverbrennung vor dem Ahnentempel durch Waller: wir verstehen jetzt die vielfältige Bezüglichkeit, die May aus der Gestalt des Sir Thomas Stamford Raffles entgegenzüngelte - Schiff und Ahnentempel sind identische Vordergrundsarchitekturen im Bezugssystem seiner Phantasie. Eingerahmt ist die Wallersche Brandszene von umständlichen Schilderungen entzündeter Zigarren und Pfeifen. Und was raucht der Onkel Governor? Cumana! Nicht nur, daß diese Tabaksorte an das erwähnte Wortspiel Macao-Ocama anklingt. Die Provenienz ist designiert durch die Stadt Cumana in Venezuela gegenüber der westindischen Perleninsel Margarita (Ingdscha, diese andere Frauengestalt Mays, heißt ja »Perle« nach dem türkischen Wort »indschi«, und spanisch bedeutet »margarita« das gleiche). Cumaná ist die älteste Niederlassung der Spanier auf dem südamerikanischen Festland - wie Padang, mit den dahinterliegenden Residentschaften Padangsches Unterland und Padangsches Oberland, als älteste feste Niederlassung der Niederländer in Ostindien gilt. »Älteste Niederlassung«: für May war das allemal Ussulistan. Und deshalb erscheint der im Reisetagebuch mit einem Beschreibungstabu belegte Ort seines psychischen Zusammenbruchs - Emmahaven hieß nicht ohne böse Zufallsanzüglichkeit dessen Port - nur abgedeckt beiläufig im Hintergrund der Pax-Erzählung: »Hinter der im allgemeinen flachen und sandigen Küste« - so beschreibt nicht May, sondern ein Lexikon des Jahres 1906 - »2 mit Vulkanen... besetzte Ketten, die eine fruchtbare, seenreiche ...Mulde einschließen«.37 Eine ardistanische Landschaft! Das typische May-Gelände mit der Mulde oben in den Bergen. Wie dichtet ein angeblich persischer Poet im Herzen-und-Helden-Opus? »Es weht wie würzger Sumatra / Dein Hauch mir um die Wangen, / Und leise schleicht dein Arm sich nah / Mich liebend zu umfangen.«38 Da haben wir die Frühform des Cumana-Tabaks des Governors Raffley. Er weht hier bereits von jener In-


//51//

sel, die im Spätwerk wieder so eindringlich ussulistanisch-niederländisch aus der Flut des Unbewußten steigt: Sumatra - sua mater? Und just jenes Ingredienz persischer Färbung ist auch hier schon vorhanden, das in Einzelzügen ardistanischer Landschaft, so etwa in der Pflanzenwelt des Trockengürtels oder in persischen Namen (Ardistan ist ja ein realer Ort im Iran!) durchschimmert. Beim Mir von Ardistan aber raucht man Bachuhr39 - da ist das persische Wort »bahâr«, Frühling und Frühlingsduft meinend, verschnitten mit dem arabischen »bahur«, dem Wort für den Stern Sirius, dessen Aufgang die Nilüberschwemmung anzeigt. Sternblumenduft! So in den Nahen Orient zurückverwiesen, finden wir in Kleinasien den Kultort Comana mit dem in der Antike berühmten Tempel (Tempel!) der Muttergöttin Ma, dessen Gegenstück in Ephesos angeblich in der Geburtsnacht (Geburt!) Alexanders durch Herostrat in Brand gesteckt wurde. Wie sagte doch dessen älterer Mitbürger Heraklit? »Feuer ist Verlangen und Sättigung«. Das zeremoniöse Rauchen der Friedenspfeifen, Sumatra-Zigarren, Cumana-Tabake, der »Chair-and-umbrella-pipe« Raffleys: nichts anderes soll es bewirken als die Rückkunft der erlösenden Wasserflut des Ssul - aber die kommt ja lange nicht, ungeachtet der beiden verkehrten Toasts (»toast« heißt »Trinkspruch« - und Trinksprüche sind sozusagen alle Sätze Mays): der Harrende muß erdulden, daß er ohne zum selbständigen Manne zu werden, noch gegenwärtig an den vertrockneten Brüsten heidnischer Ammen saugt.40 Heidnischer Ammen? Wohl solcher aus dem konfuzianischen Ahnentempel, den Waller just wegen seiner Heidnischkeit in Brand steckt. Nein, es kommen die oralen Schmelzwässer der neiges d'antan erst in den finalen Visionen; kehren als Dichtung zurück. Bis dahin heißt's, mit dem fernen Geruch vorlieb nehmen, mit den trockenen Blättern des langsam glimmenden Tabaks, aus dem nur anfallsweise ein Öl- oder Tempelbrand bricht. Oder mit dem Knoblauchgeruch des Cedrela-Wäldchens von Ardistan - aus Cedrela-Holz werden ja die Zigarrenkisten gefertigt, wenn der abstoßende Geruch des frischen Holzes sich in wohligen Duft verwandelt hat.
  Tabaksblätter und die Blätter eines Buches; Tabaksrollen und Schriftrollen; Einband und »Bauchbinde«; Beschnitt hie wie da: die Topoi »Tabakrauchen« und »Bücherbrand« sind kovalent. Sie sind


//52//

dies vor allem durch die Gemeinsamkeit, die der orale Surrogatcharakter von verbalem Tun und rauchendem Zeitvertreib herstellt, dem die Aura der genüßlichen Kultiviertheit und besinnlichen Muße das Feinsalz der Sublimierung hinzufügt.
  Auch einen Waller hat es historisch gegeben: Edmund Waller (1606 - 1687) - britisches Parlamentsmitglied mit 18 Jahren - durch Verschwörertum, Gefängnisaufenthalt und seinen mundigen Vornamen, mehr aber noch durch seine Liebesgedichte als assoziationsträchtig anzusehen. Berühmt wurden vor allem seine Gedichte an Lady Sidney, die er als »Sacharissa« apostrophierte - und das ist nach dem Sinn und selbst nach der Etymologie ein Name, der mit Mays Schakara zusammenfällt: sowohl das persische »schakar« (»Zucker«) als auch das griechische »sákchar« (»Zucker«) gehen auf eine gemeinsame indische Wurzel zurück.41 Vielleicht wäre trotz solcher Koinzidenzen noch Zweifel angebracht an der Bezüglichkeit des Klischees »Dichter der Liebe«. Aber im ›Surehand‹ finden wir den Taschenspieler Thibaut - und Thibaut hieß ein Minnesänger und König von Navarra, dessen Mutter Blanche genannt war: eine Weiße also. Auch er war Verschwörer (und Orientwaller dazu!).
  Der Name des großen spanischen Dramatikers Lope de Vega Carpio wird entzweigeschnitten wie die Betelfrucht oder der Brustschild des Dschirbani: Vega taucht auf im ›Waldröschen‹, Carpio in ›Weihnacht‹. Das Pseudonym Escosura ist gleichfalls entlehnt: so hieß ein erfolgreicher spanischer Diplomat und Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, Verfasser eines Handbuchs der Mythologie für höhere Schulen, in den siebziger Jahren Gesandter in Berlin (die bei May so beliebte Mischung von Schriftstellerei und politischer Macht). Über die Karlistenkriege - sie waren ein Maysches Frühthema - hat Escosura in einer Form berichtet, die zwischen Autobiographie und Fiktion schwankt. Die Liste ließe sich durch Namen wie von Platen und Veridante (der wahre Dante!) noch mit weiteren Beispielen verlängern: das Prinzip sichtbar zu machen darf hier genügen. Indes steckt im Namen Wallers nicht der Anspruch auf hochliterarische Geltung allein, der Wunsch, zu jenen zu gehören, deren gemachte Namen über die Jahrhunderte tradiert werden. Wallers Name schlägt auch assoziative Brücken zu den beiden großen Figuren neben Old Shatterhand


//53//

und Kara ben Nemsi: zu Hadschi Halef und zu Winnetou. Denn der Hadschi ist ein Waller, wie älterer Sprachgebrauch den Pilger nannte, und wenn Winnetous Name »Brennendes Wasser« bedeuten soll, so wäre in der physikalischen Realität »wallendes Wasser« die größtmögliche Annäherung an den real unmöglichen Zustand, dessen verbale Beschwörung in einem einzigen Bild die Vereinigung des nicht mehr zu Vereinigenden erzwingen möchte. Hinzu tritt mit Wollschlägers Hinweis die Wand42, die in den Felswällen der Talkessel und Schluchten, deren bergende Mutterzüge ich beschrieb, auch als Wall abweisender Steinherzigkeit in Erscheinung zu treten vermag.
  Wie May sich durch die Aufstülpung von Dichternamen auf die abdriftenden Teile seiner Person nicht nur Sozialprestige zusprach, sondern auch sein orales Wunschbild vervielfachte, so hat er gleichfalls die Namen von historischen Seeleuten seinen Persönlichkeitsablegern verliehen: Parker, Hawkins - und Realironie passenden Zufalls, wie so oft bei May: Bart sind nicht ungewichtige Namen martialischer christlicher Seefahrt.43 Natürlich! Die bereits in diesem Text aufgefaltete Symbolik des Schiffs legt es nahe, auch den Herrn und Besitzer des Schiffs zum Recht seiner Gestalt kommen zu lassen. Wie die Mutterinseln ihre Gouverneure, so müssen auch die Schiffe ihre Kapitäne haben, wobei die Anmerkung abfallen mag, daß »Gouverneur« etymologisch vom Lateinischen abzuleiten ist, wo »gubernator« den Steuermann bezeichnet. Henrico Landola, alias Grandeprise, ein großer Prisenmacher also, ein Reicher, dazu mit dem Heinrich-Vornamen des Vaters (und durch die Assoziation zur Prise Tabak auch wiederum dem Komplex Nase-Tabak verknüpft): Henrico Landola ist eine jener Namensfiguren, die Mays Vaterbeziehung in der Vertracktheit all ihrer Aspekte sichtbar macht und die orale wie die ödipale Facette dieser Neid- und Konkurrenzbindung mit Messerschliff aufblitzen läßt. Das Wort Girandola gurgelt melodisch bedrohlich bereits in den frühesten Haftzeit-Notizen des Gemaßregelten.44 Auf deutsch bedeutet das spanische Wort »girándula« ein »Feuerrad«. Auch hier werden wir an den Komplex »Schiffsbrand« herangeführt, wobei in dieser wohl frühesten Vorform des Kapitänsnamens auch das deutsche Wort »Gier« assoziativ enthalten sein mag - analog zu »raffen« im Namen Raffleys. Der venezianische Flottenführer und


//54//

Kreuzzugsdoge Enrico Dandolo, ein Grandeprise der Weltgeschichte45, der Konstantinopel brandschatzte, wo er geblendet worden war; der heiligmäßige Orient-Geheimlehrenkenner Pico de la Mirandola - auch aus solchen Namen mag dieser lautliche Assoziationskern um das Feuerrad assoziativ Zuzug erhalten haben. Tiefer schneidet indes der Kiel des Schiffs, - »gondola« wie spanisch und italienisch die Gondel lautet -, ins unbewußte Wellengekräusel plätschernder Laute; »gondolar« heißt im venezianischen Dialekt »wiegen«. Aus Landola aber klingt unüberhörbar das spanische »landó« heraus: es bedeutet »Kinderwagen« (und May benutzte einen solchen zuletzt zum Transport seiner Habseligkeiten auf der Flucht in die reale sächsische Räuberhöhle)46
  Die Schiffe Landolas, des Psychopiraten - wie hießen sie? »Lion« war eines englisch benannt (wer spanisches »Iío« mitliest - heimliches Liebesverhältnis, Sich-Verhaspeln in der Rede - geht schwerlich fehl); Löwe also, kein ganz beliebiger Name für den späteren Autor des ›Silberlöwen‹, der sich pseudonym niederländisch van der Löwen nannte. Kaum ist's noch überraschend, daß auch diese Löwenfährte bis nach Ostindien führt, wo sie sich gabelt: die linken Tatzensiegel verweisen nach Ceylon, der Insel der Göttin Sita (Sitara?)47, wo Onkel Raffley governiert, denn Ceylons Eingeborene sind Löwenmänner, Singhalesen, vom indischen Wort »singh« für »Löwe«; die rechten Tatzensiegel aber zeigen den Weg zum realen Sir Thomas Stamford Raffles, denn dieser war der Gründer der gleichfalls nach dem Löwen benannten Stadt Singhapur.
  Und das andere Schiff Landolas? »La Pendola«, das bekannte Navikel: zu deutsch heißt es »Schreibfeder«. Aber »péndola« bezeichnet im Spanischen auch allerlei Pendelndes! Hier wird die enge Verzahnung (jawohl: ganz im wörtlichen Sinne) von Mays literarischen Impulsen und seiner oralen Früherfahrung nochmals evident: die literarische Schreibfeder ist der Notmast (spanisch: »bandola«) auf dem für May untergegangenen Mutterschiff. Und Landola, der nach Land und neuen Ländern, anderen und doch unwandelbar immer gleichen suchende Korsar, der die große Prise beschwörende Zauberer Cyprian, der Wörter und Namen aus allen Maul- und Reisetaschen eskamotierende ewige Minne-Thibaut: mit dessen Decknamen noch stellt May


//55//

seine Selbstporträts rings um sich auf, als seien sie Firmenschilder, gemalt von Watteau: Gilles überall, mit den herabhängenden Armen des früh Frustrierten.
  Sankt Antonius, der Heilige des Wiederfindens, wäre für May kein unzuständiger Patron gewesen; vom Antoniusfeuer psychischer Mutterkornvergiftung war er ohnehin stets umzüngelt. Mays Namen in Augenschein nehmen heißt denn, Bekanntes wiederzufinden. Antonio Lifetta zum Beispiel, kaum eine Person, nicht mehr als ein Deckname für Gasparino Cortejo, den Waldröschen-Schurken (»Liebhaber« hieße wörtlich verdeutscht dessen Name): kaum möglich, da nicht an Antonio Pigafetta zu denken, den Begleiter des Magalhaes auf erster Entdeckerfahrt rund um die Erde. Er war's, der als erster Europäer eine umfängliche Wörterliste der malayischen Sprache angelegt hat (bei Chamisso kann man's erfahren)48, und unversehens sind wir wieder aus der westlichen Hemisphäre in die östliche versetzt: in die Malaienwelt Raffleys. »L'acqua ch'io prendo . . .«49 - ja, welche Gewässer waren es, die Antonio Veridante, der »Wahre Dante«, wiederzufinden hoffte? Die beiden Bären, den großen wie den kleinen, haben die Musen May ja gezeigt!50
  Noch bleibt zu sichten, was sich an englischen, insularen, um nicht zu sagen »wasserenglischen« Figuren über das ganze Werk hin und rund um Raffley gruppiert: Emery Bothwell, der die zwei Quellen im Namen trägt und die historische Erinnerung an Queen Marys Entführung; Lord Castlepool, dessen Name Schloß und Pfuhl verbindet; Lord Wellesfield, jener Trink-Geld-Geber, der ein wohlbewässertes Feld namentlich vorgaukelt; Lord Willerforce, der Willen und Kraft zum Ausdruck bringt (oder besser: den Willen zur Kraft, wenn nicht zur Macht), dabei aber anklingt an den amerikansichen Philantropen William Wilberforce, der die Abschaffung des Sklavenhandels durchsetzte, wie Mays Willerforce auch; der Lord Henry Lindsay des ›Waldröschens‹, Graf von Nothingwell - »Nichtsbrunnen« oder Tunichtgut. Und schließlich Lord David Lindsay, bekannteste dieser Figuren, wenngleich nur Segment des Lord-Kreises um Raffley, in dem die meisten Fäden zusammenlaufen. Immerhin, Lindsays Aleppobeule ist ein interessantes diagnostisches Objekt; sie ist sozusagen die verschwiegene Knolle der Rafflesiablüte an der Nase, ist


//56//

zugehörig dem oral-nasalen Komplex, zugehörig dem Vorstellungsraum »Rauchen«, der Geschmack wie Geruch gleichermaßen umfängt. Die Aleppobeule heißt nach der syrischen Stadt Aleppo, deren arabischer Name Chaleb gleichbedeutend ist mit dem arabischen Wort für »Milch«. Auch als Sierra-Morena-Nase wurde - und nicht nur bei May - dieses Geschwür bezeichnet: angesichts der besonderen, bereits ganz früh für May gegebenen Bedeutung der Sierra Morena51 ein assoziationsträchtiger Sachverhalt. Mag sich daran stoßen wer will: die Aleppobeule des Kind-Lind-says ist unverkennbar die wunde Brust der Mutter, die dem Säugling so traumatisch ins Gesicht geschrieben war, daß May sie seiner Lindsayfigur zeitlebens beließ.
  Indes, auch diese Gestalt ist angeschlossen an ein historisches Vorbild: Alexander William Crawford Lindsay, Earl von Crawford und Balcarres, war ein Schriftsteller, Mäzen und Reisender des 19. Jahrhunderts, der eine Expedition nach der Vulkaninsel Mauritius im Indischen Ozean zur Beobachtung des Venus-Durchgangs finanzierte, über Ägypten und Palästina schrieb, arabische und persische Manuskripte sammelte, sich mit etruskischen Altertümern abgab, ein mythisches Epos über das Schiff Argo und dessen Fahrt zum Goldenen Vlies im Kaukasus erdichtete. Unter mysteriösen Umständen verschwand seine Leiche im Mai 1881 aus dem Grab und wurde erst nach einem Jahr in einem Wald wieder aufgefunden - auch hier nimmt die Realität Züge von Kolportage an (man vergl. Lord Eaglenest im Grab des James Burton in ›Deutsche Helden‹). Als der Leichnam des realen Lords verschwand -1881 - tauchte die Lindsay-Gestalt Mays im Wilden Kurdistan auf, um alsbald auch ins ›Waldröschen‹ einzudringen. Lindsay, der Ausgräber von »Fowling-bulls« (und man hat recht, hier das »fowling« mehr mit deutschem Gehör aufzunehmen), wird in Spandareh mit einem niedlichen Gerichtchen geatzt, welches die Form eines Beefsteak hatte und einen solchen Wohlgeruch verbreitete, daß ich selbst noch Appetit bekam.52 Rindfleisch also gab es für den Ausgräber geflügelter Bullen - aber wie sich sogleich herausstellt: es war gar kein Rindfleisch, sondern eine Paste aus dem Fleisch kleinerer geflügelter Tiere, aus Heuschrecken nämlich, die aufgrund ihrer May ebenfalls mundenden Bezeichnung »Heupferde« den Vergleich mit größeren Haustieren aushalten mochten.53 Sie waren in die Erde gelegt worden,


//57//

bis sie anfangen zu riechen und mußten folglich vor dem Verzehr ausgegraben werden. Geflügelte Pferdchen also, eßbar, winzige Pegasoi, herausgeholt aus der Mutter Erde, aus dem Muttergrab des Dschirbani, der dort ja seine Mutter nicht real begraben hatte, wohl aber seine Sehnsucht nach ihr. Die geflügelten Worthappen der Miniatur-Pegasoi waren aus der Fäulnis entstanden, sie sind dem oralen Versagungserlebnis verknüpft, dessen vermutlich krankheitsbedingte Begleitumstände Ekel ins Spiel brachten. Aber in den Heuschrecken frühen Schreckens steckt in orientalischem Kontext noch ein weiteres: ihre Freßgier ist sprichwörtlich, und ihr Wandertrieb resultiert aus solcher Freßgier - wir blicken da auf jene Triebfeder, die May in die Literatur und noch dazu in alle Welt trieb. Diese Beflügelung aus frühen urkulinarischen Impulsen wird ja ganz deutlich in der Wahl eines so verräterischen Wortes wie ›fowling‹, das in der von May gewählten Verbindung mit den archaischen Bullen ganz unenglisch ist, weil es das englische Wort »fowl« für »Geflügel« (also eßbares Fluggetier!) erstklässlerhaft-kühn in Analogie zum deutschen Wort »geflügelt« in »fowling« umphantasiert. Eigentlich wären »fowling bulls« nicht geflügelte Bullen, sondern Bullen auf der Vogeljagd (man vergl. die Gestalt des Vogel-Naz, dazu Hawkens: »Falkenjäger«), und wer zurückblätternd in diesem Aufsatz die vogelnamigen Mutterschiffe wieder in Linie vorbeiziehen läßt, dem wird jetzt die Brigantine »The Hen« plastischer erscheinen. Bullen auf der Jagd nach Geflügel, das noch in Mays Jugend durch die Homerübersetzung des alten Voß als »Gevögel« bekannt war: hier wird sichtbar, wie Phallisches ursprünglich orale Gefühlsschichten überprägt. Der Bulle ist das männliche Partnertier der milchspendenden Kuh, und ich habe in ›Fluchtlandschaften‹ die generelle Muttersymbolik um das Rind erwähnt.54 Hier sei an Cuernavacca (»Kuhhorn«) aus dem ›Waldröschen‹ erinnert, an den Notar (Not?) Belltoucheur ebenda: »Viehtreiber« bedeutet »toucheur« und »la belle« ist die Schöne; »toucher« bedeutet aber auch »berühren«, »das Herz bewegen«, und im seemännischen Sprachgebrauch »einlaufen«, »landen«. Und wenn das Substantiv »touche« hinzutritt, gewinnen wir aus ihm die weiteren Bedeutungen »anbeißen« (von Früchten etc.) und in poetischer Diktion zuletzt »Feder«, »Schreibweise«, »Stil«.


//58//

Kein Rind, immerhin aber ein Schaf, das nicht weniger als die Kuh ein Muttersymbol ist - »Schaf« bedeutet ja der Name der biblischen Erzmutter Rachel - liefert dem kurdistanischen Lindsay jenen riesigen Appetitsbissen55 für seinen geometrischen Mund, der mit einem Bewässerungsgraben56 verglichen wird. Und als ihm ein Heckenschütze das Messer samt dem Bissen vom Mund wegschießt, kommt's ihm vor, als habe er von dem Obersteuermann eines Orlogschiffes eine riesige Ohrfeige erhalten.57 Kein Zweifel, Mays Vater hatte da höchst unpersönlich zugeschlagen, mit der Tabu-Hand der ödipalen Verweigerung. Wie? Als Obersteuermann eines Orlogschiffes? Eines niederländischen Kriegsschiffes also, denn »orlog« heißt holländisch »Krieg« und nicht, wie am Schauplatz zu erwarten, kurdisch oder türkisch. Und Obersteuermann: Gubernator also, Governor, der Mann am Ruder. Da drückt aus der seelischen Unterschicht wieder die gleiche Vorlage durch, die gemildert im Gouverneur des ehemals niederländischen Ceylon, im Onkel Raffleys, zu Tage tritt.
  Auch Waller ist hier präformativ schon da. Wollschlägers These, Wallers Name evoziere die Situation vor der Wand, sei hier übernommen und durch den Hinweis auf die Sarmatin Wanda - früheste Weibsgestalt Mays -, durch den Hinweis auch auf die Hazienda Vandaqua (Wand und Aqua) ergänzt. Lindsays Durchbruch durch die Mauer in die Freiheit, ausgeführt mit einem an seiner Spitze mit Eisen beschlagenen Hebebaume58 ist eine deutlich phallische Szene. Imaginiert wird hier ein Akt der Befreiung, bei dem die Wand der Abweisung durchbrochen werden soll. Aber unmittelbar voraus geht die Entdeckung der kostbaren persischen Wasserpfeife59, welche die ursprünglich orale Natur dieser Abweisung deutlich werden läßt und klar macht, daß Mays ödipale Tabuerfahrung bereits vorgeprägt war durch seine orale Frustration: Schade, daß ich sie nicht gleich anrauchen konnte, da wir nur einige Schlacke Wasser hatten!60 Und offenbar vermag die phallische Befreiung zwar momentan die Wand zu durchbrechen, aber die Freigekommenen sehen sich kurz darauf schon wieder vor einem Wand-Symbol, der aufragenden Felsenfestung Gumri, und der Schutz, der durch die Beschwörung einer doppelten Vater-Mutter-Onkelbindung an den Feind bei gleichzeitiger Übergabe der Waffen erreicht zu werden scheint, ist Trug. Der Bluträcher,


//59//

dessen plötzlicher Angriff mit dem Dolch diesen kurzen Frieden sogleich wieder auflhebt (May hat jetzt die Position des Vaters eingenommen, also das Tabu akzeptiert: der phallische Angreifer ist plötzlich auf der Gegenseite), muß wieder wie eh und je auf Heilung durch die Mutter-Hebamme hoffen, die hier orientalisch vermummt als die Deka von Gumri, als kurdische Wehmutter und Obstetrix erscheint.
  Auch hier, in dieser Szene, wird als halbbewußte Leseanweisung ein Wortspiel oder doch zumindest eine Äquivokation angebracht: der Doppelsinn des kurdischen Wortes »derman«, das sowohl »Schießpulver« als auch »Heilmittel« bedeuten soll, wie May eigens in einer Fußnote anmerkt. Der verletzte Bluträcher verweigert nämlich die Derman-Arznei, die Kara ben Nemsi ihm nach seiner Erwartung anzubieten vorhat, und mutet diesem nun grimmig seinerseits Derman-Schießpulver an. Was aber kann jenes doppeldeutige Derman real meinen, wenn nicht pulverisierte Kohle, die ja sowohl zur Schießpulverbereitung als auch zu Heilzwecken Verwendung findet -so etwa gegen jenen Würgengel Dysenterie, an dem Waller leidet. Doch Feuer läßt sich mit Schießpulver ja ebenfalls legen, wie oft genug in Mayschen Erzählungen beschrieben wird. Das Derman - ohnehin an Darm und Därme anklingend - hat also die gleiche symbolische Feuer-Funktion wie der Missionar Waller. May erinnert sich dieser Kohle auf seiner Orientreise in einem Gruß an Plöhn: Er sei nun das Gegenteil des früheren Karl; dieser sei mit großer Ceremonie in das rothe Meer versenkt worden, mit Schiffssteinkohlen, die ihn auf den Grund gezogen haben . . .61 Im Roten Meer, dem Meer von der Farbe des Blutes, liegt also der frühere Karl: liegt die Neurose.
  Aber wir haben die Kohle auch in der reinen, sublimierten Form: als Diamant, der ja Kohlenstoff ist. Und wenn May die Diamantspitze Sumatras als erste Landmarke der Insel in seinem Tagebuch der Orientreise vermerkt, so ist es Dilke, der dem Sejjid Omar der Pax-Erzählung zum Dank für seine Rettung vor dem Versinken im Meer einen Diamantring schenkt. Die über Wasser gebliebene Kohle darf also diamanten »von reinstem Wasser« strahlen und - ganz typisches Detail: für einen Augenblick hätte der Ich-May der Erzählung den an der Hand seines Dieners blitzenden Dilke-Diamanten beinahe für die glimmende Spitze einer Zigarre gehalten. . .62


//60//

Kündigte im Reisetagebuch die Diamantspitze dem Nahenden Sumatra an, so hat in der Pax-Erzählung der Goldberg diese Signalfunktion übernommen. Gold ist ja wie der Edelstein psychoanalytisch häufig Symbol für die Sublimierung analer Produkte, die aber, wie ich glaube, nicht abgelöst von ihrer oralen Herkunft verstanden werden können (hier trennt die Psychoanalyse oft allzu szientistisch-abstrakt: Orales, Anales und Phallisches geht stets wechselseitig ineinander über, wenn auch mit phasenspezifischer Akzentnierung im Lauf der kindlichen Entwicklung). Der Sprung vom Goldberg oder von der Diamantspitze Sumatras nach der Juweleninsel Ceylon mit dem Adamspic ist für May keiner: niederländisch-wasserenglischer Orient hier wie dort. Wir stehen auf beiden Inseln in den Tropenmarschen Ussulistans am Muttergrab des Dschirbani; den durchs Meer führenden Steindamm, der Ussulistan mit Ardistan verbindet, hat May bei der Fahrt nach Point de Galle auf Ceylon gesehen, und die sogenannte Adamsbrücke, eine dichte Klippenkette, die zwischen der Nordspitze der Insel und dem indischen Festland Verbindung schafft, illustriert diese Struktur im Großen. Im wilden Kurdistan Lindsays lassen sich denn auch die Entsprechungen zu den rafflesischen Gefilden ausmachen. Auf den Mooskissen (!) in der Schänke des alten Juden sitzend, trinken Selim Agha und Kara ben Nemsi Wein von Türbedi Haidari, aus einem Lande, welches niemand kennt und wo Trauben wachsen, deren Beeren sind wie die Äpfel63 - (kurz zuvor, noch im vierten Kapitel, waren Galläpfel erwähnt worden) - und deren Saft kann umreißen die Mauern einer ganzen Stadt.64 Die Mauern Wallers! Denn dieser Wein lag vergraben in einer Ecke des Kellers. Zum Wein wird geraucht - aus Pfeifen, die ohne Spitzen waren - und deutlicher kann auf die Verwundung der Mamillen an den Brüsten der stillenden Mutter Mays durch ein Symbol nicht hingewiesen werden. Wo aber liegt Türbedi Haidari? Das zu wissen dürfte so wichtig nicht sein, wenn man weiß, daß das iranische Wort »türbed« ein Grabmal benennt, »haidar« aber den Löwen.65 Der Wein aus dem Grabe, der Wein der abgelebten Zeiten, der versunkene Schatz, das verborgene Vermächtnis: In solchen Erscheinungsformen bleibt The Mysterious Mother allgegenwärtig. Einer der Väter der Kolportageliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts, Horace Walpole, hat 1768 ein Trauerspiel unter dem


//61//

genannten englischen Titel geschrieben, und poetisch im Angesicht von Ceylon, erfand er die heitere Wortschöpfung »serendipity«, die unerwartetes Finderglück bezeichnet.66 Serendip aber ist Ceylon, ein alter Name der Insel, auf der Onkel Raffley als Gouverneur regierte. Hat May das Wort »serendipity« nicht allzu wörtlich genommen, als er während seiner Orientreise just auf dieser Insel von seiner Schatzgräber-Entdeckung - goldhaltiges Muttergestein61 an geheimem Ort - in Briefen und Fortsetzungs-Postkarten nach Europa berichtete? Bonanza und Romanza galten ihm unbewußt gleich, wie eine Fehlschreibung im Waldröschen - wohl kaum ein Versehen des Setzers - augenfällig macht.68
  Geschwellt von Serendipity, traumwandlerischem Finderglück, ist Mays halbwaches Bewußtsein in der Faktenwelt auf Namen gestoßen, die sich mit knisternden Schleierfäden konzentrisch um seine neurotische Mitte verspannten. Dicht vernestelt ist dieser Knäuel aus doppelt, ja mehrfach gezwirnter Bedeutung, kurios aufgezwirbelt und zusammengefädelt aus dem Spagat eines längst verwohten Altweibersommers vor allzu zeitigem Frost: die Spinne im Wein aus Türbedi Haidari faßt nicht nur solche Vernetzung ins Bild, sondern auch den elementaren Ekel als Ausgangspunkt all dieser Fäden.69 Ein dichter Kokon hat so die nie voll entfaltete, weil zuvor schon eingetrocknete Schmetterlings-Imago einstiger Glückserwartung überspinstet, und Fadenkreuze der Vergangenheitsbeschwörung flocht May auch dann noch, wenn sein Talent nur als mechanisch gehandhabtes Weberschiffchen zeilenschindender Lohnschreiberei oberhalb (aber doch nahe) der eigenen trüben Erinnerung blindlings hin und her schoß. Immer und überall schlug das nie verschwindende Nachbild früher Versagung mit Verzerrung an Lauten und Buchstaben durch: ein schmerzlich bizarres Muster im Grundgewebe schlang sich nach der Manier orientalischer Wehleids-Musik in unendlichem Rapport durchs ganze Werk. Nur von oben her eingeknüpft in diesen Kelim der Verwicklung und Verhüllung sind die leuchtend bunten Wollfäden des Abenteuers, die abgegriffenen Scheidemünzen der Klischees, die kleinen Kaurimuscheln ethnographisch-naturhistorischer Belehrung, die hochliterarischen blauen Türkisperlen gegen den bösen Blick der Mit- und Nachwelt: ein Brautteppich aus Kurdistan. Dieser Autor


//62//

nahm keine Fäden des Erzählens auf - er hing von jeher schon an ihnen, stürzte an ihnen hinab als gehängter Pferdedieb oder rauschte an ihnen empor als ein Harlekin himmlischer Einfalt, den Engelsfittich etwas verschwitzt von güldener Tinte. In seinem Wettlauf mit dem einstigen Schmerz, dem er entfliehen oder den er wieder haben möchte, um ihn endlich - und dann für immer - in sein Gegenteil zu verwandeln, ist der Swinegel präexistenter Bilder und Laute überall auf der Welt schon an Ort und Stelle; ist das Dornenbild des Dschirbani auf humoser Muttererde, ist das Stachelbündel aus dem Urschlamm Ussulistans ihm stets um Nasenlängen voraus. Mays Serendipity, sein Glück, stets erneut und um alle Ecken aufs Bezügliche zu stoßen, nie um drei weitere Seiten verlegen zu sein (denn der nächste Einfall kommt bestimmt, er muß nur ein Lexikon aufschlagen) - dieses Finderglück, diese scheinbare Leichtigkeit fabulierender Invention, um die ihn manch gescheiterer Autor beneiden könnte: in Wahrheit ist sie ganz tragisch. Gezwungen, sich einen, nein: tausend Namen zu machen, um einmal dereinst die vermeintliche Stelle des väterlichen Gouverneurs einzunehmen, die ein undurchschauter böser Zufall ihm verwehrt hatte, pochte er mit kindlicher Schmetterfaust auf alte Rechte an Ceylon und Zeyla. Was unter den leeren Fee-Tisch seiner ersten Speisung gefallen war, fiel ihm zeitlebens mit Namen zwischen den Zeilen zu.

Hern Hansotto Hatzig, der durch Überlassung seines reichen Karl-May-Materials und sachkundige Anteilnahme seit langem meine Arbeiten wesentlich unterstützt hat, sei dieser Aufsatz gewidmet.

1 Charles Wentworth Dilke, Greater Britain; a record of travel in English-speaking countries during 1866-67, 2 Bde., London 1868.
2 F.W. Stapel, Geschiedenis van Nederlandsch-lndie (Nederlandsche Historische Bibliothek, hrsg. v. H. Brugmans, Bd. 16), Amsterdam 1930, 221-235, 241-245, 247 f. und passim
3 Jb-KMG 1971, 189.
4 Vgl. die Annoncen auf den Vorsatzblättem von Murray's A Handbook for Travellers in India, Burma and Ceylon etc., London/Calcutta 1907.
5 Jb-KMG 1971, 134.
6 Brockhaus Enzyklopädie, Bd. 9, Wiesbaden 1970, Artikel »Jamaika«.
7 Karl May (pseudonym: Ramon Diaz de la Escosura), Waldröschen, Dresden 1882, Bd. 3, 1145
8 Karl May, Et in terra pax, in: J. Kürschner (Hrsg), China, Schilderungen aus Leben und Geschichte, Krieg und Sieg, Leipzig-Berlin-Breslau 1901, 3. Teil, 272. - Macao: Ma-kau ausgesprochen! (Vgl. auch Bd. Xl, 522).


//63//

9 Dr. Joh. Christ. Aug. Heyse's Allgemeines verdeutschendes und erklärendes Fremdwörterbuch etc., Berlin 121886, Stichwort »Dueña«.
10 Dr. Friedrich Erdmann Petri's Handbuch der Fremdwörter in der deutschen Schrift- und Umgangssprache, 25. Aufl. o. J., Stichwort »Dueña«.
11 Karl May, Auf der See gefangen, in: Frohe Stunden, Dresden/Leipzig 1878, 369 u.ö.; auch Bd. 11, 416, 457, 460.
12 Karl May, OldFirehand, in: Deutsches Familienblatt, Dresden 1875. In den zweiten Winnetou-Band wurde Swallow als Geschenk des Apachen übernommen.
13 Jb-KMG 1971, 190
14 F.W. Stapel, a.a.O., 59-88 und passim
15 Karl May, Auf der See gefangen, in: Frohe Stunden, Dresden/Leipzig 1878, 371
16 Wobei das »weise« im Sinne von »abgeklärt« durchaus gleichen Stammes ist mit der Farbbezeichnung: eine Parallele finden wir in der Bedeutung des Jargonworts »helle« für »aufgeweckt«. Als »Weiße Frauen« erscheinen vielfach Göttinnen: vgl. Jacob Grimm, Deutsche Mythologie, Göttingen 1835, 537, 541; dazu über die »Weise Frau« ebd. u. 226. Die weißen oder weisen Frauen sind alle Geburtshelferinnen. Das Schneewittchen des Grimmschen Märchens ist ebenso Reflex dieser alten und sehr weit verbreiteten mythologischen Vorstellung wie etwa der bei Turkvölkem vorkommende Mädchenname Apak (»Erzweiß«), den wir im Namen der geliebten kyptschakischen Frau des persischen Dichters Nizami wiederfinden, der als Afaq überliefert ist (Jan Rypka, Iranische Literaturgeschichte, Leipzig 1959, 203). Vgl. Mays Karpala (türkisch »kar« für »Schnee« und »parlak« für »glänzend«) wie auch seine Taldscha (arabisch »thaldsch« fiur »Schnee«).
17 Karl May, Ardistan und Dschinnistan 1, 56.
18 Vgl. Alfred Brehm u.a., Brehms Tierleben, Kleine Ausgabe, Bd. 2, Leipzig/Wien 31915, 490 und 495. Schomburgk erwähnt außerdem den »bisamartigen Geruch« (496) der Boa, ein Merkmal, das zweifellos fiur Mays Phantasie seine eigene Bezüglichkeit hatte.
19 Karl May, Ardistan und Dschinnistan 1, 313.
20 Vgl. Karl Kerenyi, Die Mythologie der Griechen, Zürich 1951, 135.
21 Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände (Brockhaus) Bd. 9, Leipzig 1830, Artikel »Rafflesia Patma«.
22 Karl May, Et in terra pax, 180 und 215 f.
23 Ebenda, 180.
24 Im Urtext: Tò pyr chresmosýne kaî kóros (zitiert nach Franz Josef Brecht, Heraklit, Heidelberg 1936,146; es handelt sich um das Fragment B 65 bei Diels-Kranz). Das Fragment wird von verschiedenen Autoren abweichend übersetzt; ich ziehe hier meine Version vor, die sich nur auf die gewöhnlich gegebenen Bedeutungen der Wörterbücher für die Vokabeln des Satzes stützt.
25 Jb-KMG 1974, 156.
26 Vgl. hierzu die Erörterung von Wemer Poppe im Jb-KMG 1972/73, 248 ff. - Ich selbst habe in meinem Referat bei der Tagung der KMG im Oktober 1973 darauf hingewiesen, daß eine Ortschaft namens Winnetoon in Nebraska existiert. Sie mit Winnetou in Verbindung zu bringen, besteht um so mehr Grund, als diese Siedlung nur 25 Kilometer südlich des Niobrara River liegt, der früher Quicourt hieß. Ribanna, die Rose vom Quicourt, Winnetous frühe Liebe, ist in der Ortschaft Rose präformiert, die nur 115 Kilometer Luftlinie von Winnetoon entfernt sich befindet. Zwischen dem Ort Winnetoon und dem Ort Rose liegt nur eine einzige weitere Siedlung, die sehr passend Venus heißt. In 35 Kilometer Entfernung von Winnetoon liegt außerdem die Ortschaft Star (vgl. Sitara, Stemblume etc.). Femer findet man in Nebraska eine Ansiedlung namens Lindsay. Auch Ribannas Name mag von der Landkarte der USA genommen worden sein: es gibt einen Rivanna River in Virgima. Aus diesem Flußnamen dürfte sich die Verbindung der Ribanna mit dem Quicourt erklären. Der Wechsel von V zu B war May sicher durch das Vorbild des


//64//

Wortes »Savanne« nahegelegt, das an Ribanna ja deutlich anklingt, vor allem in der spanischen Form mit B, die »sabana« lautet. Der Umstand, daß May die Prärie sehr oft als Savanne bezeichnet - höchst unüblicher Weise, denn das Wort Savanne steht korrekt nur für die tropischen Grasfluren Lateinamerikas mit lichtem Baumwuchs - ist ein weiteres Indiz, das meine Deutung stützt. Eine Parallele zur flußnamigen Ribanna gibt die Tschita aus dem Herzen-und-Helden-Roman, die offenbar nach dem Fluß Transbaikaliens benannt ist, deren Name aber von May als »Blume« verdolmetscht wird, womit auch hier die gleiche Verknüpfung von Fluß und Blume vorläge wie im Falle Ribannas, der Rose vom Quicourt. Auf derLandkarte Virginias läßt sich außer dem Rivanna River auch noch ein Parramore Island ausfindig machen - mag sein, daß Parranoh, der Mörder Ribannas, hier seinen Ursprung hat: falls nicht das lateinische »parricida« (»Vatermörder«, Lord Castlepool trägt den Kragen dieses Namens) anzusetzen ist. Die Abweichung des Personennamens Winnetou vom Ortsnamen Winnetoon dürfte sich durch Angleichung an das indianische Gotteswort »Manitou« erklären. Einer solchen theomorphen Stilisierung entspräche auch die von May gegebene Bedeutung »Brennendes Wasser« - eine Gottesmetapher in verschiedenen mystischen Traditionen (»Ariel«, eigentlich »Löwe«, bezeichnete bei den Hebräem zunächst den Brandopferaltar, später auch kabbalistisch den Geist der Wassertiefe). Vielleicht hat jedoch das Dakotawort »minne« für »Wasser« May seine Übersetzung nahegelegt, wobei eine Hintergrundsassoziation an das deutsche »Minne« (dem Feuer entsprechend) zu erwägen bleibt. - Wie ich nachträglich erfahre, soll Anton Haider, Pettnau, bereits früher auf Winnetoon und Quicourt hingewiesen haben, doch ist eine Publizierung dieses Zusammenhangs offensichtlich nicht erfolgt.
27 Jb-KMG 1971, 81 ff.
28 Karl May, Et in terra pax, 151.
29 Karl May, ebenda.
30 Jb-KMG 1971, 190.
31 Karl May, Et in terra pax, 96. - Das Galle Face Hotel (ohne den von May eingefügten Bindestrich) ist authentisch, ebenso das fast 12 Kilometer von Colombos Stadtkem entfernte Grand Hotel auf dem Mount Lavinia (vgl. Murray's Handbook, 473 und 485). Es fällt aber auf, wie gehäuft May in der Pax-Erzählung Hotelnamen nennt und wie ausführlich er vom Hotelleben überhaupt spricht. Natürlich mußte für einen Menschen mit stark regressiven psychischen Zügen das Hotel als Ort der Speisung, Bettung und Zuflucht in der Fremde besondere Bedeutung annehmen: die Wünsche nach Geborgenheit konnten sich hier kristallisieren. Auch in früheren Werken Mays spielen Herbergen und Wirtshäuser eine Schlüsselrolle, nicht selten gerade am Beginn von Erzählung oder Kapitel. Der Trink- und Schlafpalast der MutterThick aus dem Surehand oder das Store and Boardinghouse of Yellow Water Ground nebst dem Hawk Inn der Winnetou-Bände (des letzteren Wirtshausschild wird als riesige Krabbelschildkröte mit Raubvogelzügen beschrieben - Porträt des Säuglings mit seiner Adlerhorst-Eaglenest-Geierschnabel-Hawkens-Gier) sind hierfür Beispiele, ebenso die böhmische Herberge aus »Weihnacht«, Ort unbezähmbaren Löwenhungers (und die Metapher Löwe wird dort breit entfaltet!) auf hangende Räucherwürste. Als Boudins (französisch für »Blutwurst«), erscheinen diese Brüstesymbole bereits in der Erzählung »Im fernen Westen« (S. 91), und der Vergleich mit den Lügen, die wie Blutwürste aus dem Büffelmagen fallen (S. 119), macht den gastronomischen Komplex als Firnis und Deckweiß des frühen Versagungssyndroms vollends durchschaubar: der Zusammenhang zwischen Ausstoßung des Falschen (Blutwürste aus dem Büffelmagen) und Pseudologie (Lügen) wird manifest. Es wird daher nicht abwegig sein, Namenserwähnungen wie jene des »Galle Face Hotels« oder des »Grand Hotels« auf dem nach der römischen Stammutter benannten Monnt Lavinia in solchen Umrissen zu sehen. Galläpfel erscheinen ja als orale Symbole unverkennbar in der Vergiftungsszene der Enkelin


//65//

Marah Durimehs (Tollkirsche statt Maulbeere) aus dem Kurdistan-Band, die ganze Spektralbreite der Symbolik von »Bitterkeit«, »Erbrechen« (Nahrungsentzug) und »Heilung« zusammenfassend, wobei der im 19. Jahrhundert handelsübliche Ausdruck »Aleppogallen« hinzutritt. Über die medizinische Anwendung dieser als »warzig-stachelig« beschriebenen Wespengallen, die zur Bereitung von Tinte (!) wie zur Ledergerbung (auch ein May-Topos!) Verwendung fanden, sei die bei Brockhaus erschienene »Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für gebildete Stände« (Conversations-Lexikon), 11. Aufl., Bd. 6, Leipzig 1865, Artikel »Galläpfel« zitiert: »Die Galläpfeltinktur (Tinctura gallarum), welche durch Ausziehen der türkischen G. mittels Spiritus gewonnen wird, verwendet man in der Heilkunde häufig, äußerlich als zusammenziehendes Mittel bei wunden Brustwarzen, Hautschrunden und nässenden Flechten, innerlich als Gegengift bei Vergiftungen mit narkotischen Pflanzenstoffen (z.B. mit Opium, Morphium, Bilsenkraut u.s.w.).« Bei wunden Brustwarzen! Wer noch deutlichere Indizien verlangen wollte, die meine Theorie abzusichern geeignet sind, sollte sich nicht mehr mit Literatur, sondem nur noch mit Mathematik beschäftigen, wo die geforderte Strenge der Beweisführung allein sinnvoll zu postulieren ist. Die Pharmazie wird zudem ergänzen können, daß das wirksame Alkaloid der Tollkirsche eben jenes Hyoscyamin ist, das auch im Bilsenkraut (Hyoscyamus) gefunden wird: May hat die innerliche Indikation der Galläpfel also gekannt, die äußerliche aber aus evidenten Gründen verschwiegen. So wird er denn nicht ganz von ungefähr Waller-Galler, diese Figur vergällter Mutterbeziehung samt ihrem Antidot-Aspekt, im Galle Face Hotel vermutet haben. Der Scout (S-kaut) Old Death, der leidenschaftliche Spieler und Opiumraucher (das Motiv der Süchtigkeit: bei Raffley ist es das Wetten!), dessen Anfänge auch in ein »Chinesenviertel« verweisen, findet just in diesem Zusammenhang ebenfalls einen Platz: Galläpfeltinktur ist ja auch Antidot gegen Opium. Übrigens wirken sowohl Nachtschattenkaloide wie auch Opiate auf das Verdauungssystem und die optische Wahrnehmung; eine mögliche Relation zwischen Mays Blindheit und seiner oralen Frustration wäre der Überlegung wert.
32 Vgl. etwa C. Kainz, Praktische Grammatik der Chinesischen Sprache für den Selbstunterricht, Wien/Pest/Leipzig o. J., 172.
33 Karl May, Ardistan und Dschinnistan I, 574. Dazu die mir von Hatzig mitgeteilten Stellen aus Bd. I, 272: Die Liebe ist eine Koloquinte. Wer sie ißt, bekommt Bauchgrimmen, und: Ein gutes Weib ist wie eine Pfeife von Jasmin und wie ein Beutel, dem nimmer Tabak mangelt. Das letzte Beispiel zeigt übrigens, daß psychoanalytische Deutung sich nicht auf das isolierte Detail stützen kann, sondern das Detail im Kontext anderer Einzelzüge sehen muß: Beutel und Pfeife sind hier eben nicht einfach simple phallische Symbole, wiewohl natürlich unbewußt die Zielbilder der Sexualität sich mit den körperlichen Medien der Zielerreichung teilweise decken. So gibt es in der Mythologie nicht wenige Beispiele für die Überlappung phallischer und mastöser Symbole, und der Jung-Schüler Erich Neumann hat diese Doppeldeutigkeit verschiedentlich analysiert. Ko-itse heißt Feuermund lallt daher Mays Unbewußtes angesichts des Ogellallahs im Sehkreis von Winnetous Fernrohr, kurz ehe der Text Helldorf-Settlement erreicht (Winnetou III), und der als Lügner, also als Pseudologe qualifizierte Häuptling, hat sein Zelt in einem Lager aufgeschlagen, das knapp zuvor noch Fleisch-Camp gewesen ist, jetzt aber - das Fleisch ist inzwischen wohl ziemlich trocken - der Vorbereitung kriegerischer Aktion dient. Zwischen dieser Szene und dem voraufgehenden Antritt der Fahrt in die Teton-Berge liegen kennzeichnende May-Topoi: »Probeschuß auf himmelweit entfemten Vogel«; »Eisenbahnkatastrophe«; Gewässernamen voll Süße, Bitterkeit und Milch (daß sie realen Vorbildern entsprechen, verschlägt nichts), »Rauchtrinken«, dazu »Kohlenfelder«, welche der Wüste Zukunft geben sollen. Das mit den unechten Zähnen des Pseudologen ausgestattete rosige Babygesicht des Fred Walker (das k gegen I getauscht - schon wär's Waller!) verfolgt auf dem Pferd »Viktory« (»Sieg! Großer


//66//

Sieg!«) Samuel Haller (hier wird der Widerhall von Wallers Wand echolaut). Nach Walnußblättern riecht der Tabak Walkers - auch sie sind bitter, und im 19. Jahrhundert waren sie offizinell gegen Skrofulose. Vielleicht ist May tatsächlich mit ihnen behandelt worden, denn seine frühe Krankheit läßt sich einordnen in das Raster skrofulöser Symptomatik, und zahlreiche physiognomische und konstitutionelle Sonderbarkeiten Mayscher Figuren erscheinen wie Umschreibungen skrofulöser Erscheinungsbilder. Die Anwendung der Walnußblätter und Walnußblüten galt vor allem der Stillung des skrofolösen chronischen Darmkatharrs (Wallers Dysenterie). Weitere Merkmale: wulstige Lippen (Old Wabble), kolbige Nase (Snuffles, Lindsay etc.), Hautausschläge mit Vergrindung im Kopfbereich (Dschirbani = der Räudige), Verdickung des Halses (Tante Droll), Dauerschnupfen, Augenentzündung mit extremer Lichtempfindlichkeit bis zur Erblindung, infolge von Hornhauttrübung. Da dieses Krankheitsbild nicht nur Erblindung, sondern auch noch andere Charakteristika zu erklären geeignet sein könnte, die bei Mayschen Figuren auftreten, ziehe ich es dem Wollschlägerschen Vorschlag auf eine der beiden frühkindlichen Ophthalmien vor, wenngleich ich mit ihm übereinstimme, daß die Krankheit zu Abweisung und Liebesversagung durch die Mutter geführt hat. Allerdings scheint mir gerade die Ätiologie der Skrofulose - nämlich frühkindliche Mangelernährung - ein Hinweis auf die älteren Versagungserfahrungen oraler Natur zu sein, die jener späteren Zurückstoßung die Voraussetzung ihrer traumatischen Vehemenz schufen.
34 Karl May, Et in terra pax, 152.
35 C. Kainz, a. a. O. 172. - Der Vater ist deshalb reich, weil er die Mutter besitzt. Das entsprach sowohi ödipaler Vorstellungweise als auch späterer Einsicht in die Geldverhältnisse der Familie, falls diese nicht etwa gar nach dem psychischen Modell nachträglich zurechtphantasiert wurden (vgl. hierzu auch Wollschlägers Ausführungen in Jb-KMG 1974, 157 f.).
36 Jb-KMG 1974, 153-171.
37 Herders Konversations-Lexikon, Bd. 6, Freiburg i. B. 1906, Artikel »Padang«, Unterstichwort »Padanger Oberland«.
38 Karl May, Deutsche Herzen, deutsche Helden I (Fischer-Ausgabe), 274.
39 Karl May, Ardistan und Dschinnistan II, 106. - May umschreibt das arabische Lautzeichen »Ha«, das etwas stärker aspiriert wird als das deutsche »H«, mit einem deutschen »CH«, das in der Regel für die Wiedergabe des stark aspirierten arabischen »He« reserviert bleibt. Da die meisten Umschriften orientalischer Lautzeichen auch im 19. Jahrhundert sich an die Umschreibung des »Ha« mit »H« und des »He« mit »CH« hielten, kann vermutet werden, daß May selbst das »CH« in das Wort hineingebracht hat, nicht weil er einen späteren Interpreten namens Bach vorausgeahnt hätte, sondern weil die Vorstellung fließenden Wassers so evozierbar wurde. ln der unmittelbar vorausgehenden Szene brechen ja die Hunde herein und verlangen Wasser und Fleisch (!). Und der mit dem arabischen Wort »bahur« bezeichnete Hunds-Stern Sirius ist der Anzeiger der Nilflut. Der Topos »Stern« tritt nochmals auf im Namen des mit dieser Szene verbundenen Schloßvogts, des »Nahsir es Serahja«. Zwar erinnert »Nahsir« an das arabische »nazir«, das tatsächlich »Vogt« bedeuten kann. Mehr aber noch erinnert es an das arabische »nahs« - und das ist »Unstern«. Im Mir wie im Schloßvogt schillern Vateraspekte im Bezug auf das Verhältnis des Kindes May zu seiner Mutter; natürlich gehört der Titel »Schloßvogt« semantisch in die Reihe der Gouverneure. Der »Stern des Erlösers« am Himmel von Bet Lahem (der arabische Name Betlehems, der »Haus des Fleisches« bedeutet) wird auch die Rückkunft des Wassers ankündigen, wie dies der Sirius für den Nil tut. Der Mir selbst entzündet den Wasser-Stern - es ist also kein Zufall, daß die Raffley-Erzählung am Nil beginnt, denn hier wie dort ist der Vater-Gouverneur die Machtinstanz, die über Gewährung oder Versagung befindet: der wasserspendende Sirius geht über der Pax-Landschaft nur langsamer auf als über der Landschaft des Ssul, worin das arabische Pax-Wort »ssulh« sich spiegelt.


//67//

Da Merhameh (»Barmherzigkeit«) der Yin (»Güte« nach May) entspricht, ist Halefs Vergleich »daß sie ein Engel ist, sogar ein Stern« (Ardistan und Dschinnistan I, 533) im Hinblick auf Wasserengel und Sirius aufschlußreich. May könnte diesen Zusammenhang Stern-Wasserengel arabischer Legende entnommen haben: der zufolge beginnt der Nil in der »Lejlat an-nukta« (»Nacht des Tropfens«) zu steigen weil ein Engel eine Träne weint (vgl. Carl R. Raswan, Trinker der Lüfte, Rüschlikon/Zürich 1942, 154). Allerdings kennt bereits die altpersische Tradition die Gleichsetzung von Sirius und Wasserengel: im Awesta ist der wasserbringende Engel Tischtrya gleichgesetzt mit dem Sirius (vgl. Jan Rypka, Iranische Literaturgeschichte, Leipzig 1959, 10); hier ist wohl eine Übernahme aus altägyptischen Vorstellungen anzunehmen, laut denen der Sirius mit der Göttin Sothis als Bringerin der Nilflut identifiziert wurde, die ihrerseits wieder mit der kuhgestaltigen Muttergöttin Isis zusammenfiel (vgl. Erik Hornung, Der Eine und die Vielen - ägyptische Gottesvorstellungen, Darmstadt 1971, 279f.). DadieTriangel das symbolische Zeichen der Sothis ist (Alexander von Humboldt, Kosmos, Bd. 3, Stuttgart o.J., Cotta-Ausg., S. 144 f. mit Wiedergabe eines Briefes des Agyptologen Lepsius) wäre das Dreieck des Mayschen Wasserengels in Übereinkunft mit ältester Mythentradition. Das Dreieck des vom reichen Vater Fu überreichten Geheimbriefs der Pax-Erzählung enthält Zeichen, deren Übersetzung lautet: Erhebung des Lebens des Waisen (ich übersetze hier nach den bei Kainz, op. cit., angegebenen Bedeutungen der von May wiedergegebenen chinesischen Wörter). Welcher Art diese Elevation zu sein hätte, mag aus dem Bild des dreieckigen Paradiestors geschlossen werden (A. u. D. I, 338), das über Ussulistan sich öffnet: zwischen Feuerpfeilern, die sich oben zu einer blutig hellrot glänzenden Spitze vereinigten. Aus diesem Tor aber bricht der Stern, der sich als Eruption eines Vulkans erweist. Die Feuereruption präludiert der Wassereruption des Vulkans Dschebel Allah am Ende der dschinnistanischen Emporfahrt. »Brennendes Wasser« auch hier! Übrigens wird erst im Licht des auf diese Weise zu Astrallampenhelle entfachten Sterns das Sternabzeichen der Winnetous und Winnetahs im vierten ›Winnetou‹-Band völlig transparent, und die Fahrt des historischen Lindsay in den Indischen Ozean zur Beobachtung der Venus gewinnt vor einem solchen Hintergrund mehr als Detail-Gewicht. May hat nur ein einziges großes Buch geschrieben, und erst die wechselseitige Beziehung aller Einzelzüge schafft das Gesamtbild. So kann die Deutung des Namens Münedschi als Verschnitt von osmanisch »münedschim« (»Astronom«, »Astrolog«) und »müntschi« (»Schreiber« »Schriftsteller«) im Hinblick auf den Bachur-Tabak des Mir und seine Sternassoziationen ein viel griffigeres Relief gewinnen, zumal wenn bewußt bleibt, daß dieser Münedschi als starker Raucher geschildert wird. Semava-Gökela (der erste Name bedeutet persisch, der zweite türkisch den Himmel) ist in solchem Kontext als Ziel astronomischer Bemühungen verständlich, und Raffleys kurioses Universalinstrument, das Pfeife, Fernrohr und Sessel in sich vereint (die ägyptische Urmutter Isis, die mit der Sothis des Nilflut-Sirius identisch ist, trägt die Hieroglyphe für »Thronsessel« auf dem Haupt!), verliert an komischer Schnurrigkeit und gewinnt psychische Realität unbeschadet technischer Zweifelsgründe. Die Erhebung aber, die den Blick ins Astronomische führt, stellt sich dar als die Schriftstellerei: die Sublimierung des oralen Urbedürfnisses. Als der Chinese Fang, der Mays Oralität auf noch mcht ganz geläuterter Stufe vertritt, das geheime Dreiecksdokument »Pu« (»Wiedergutmachung«, » Umkleidung«) zu Gesicht bekommt, führt er sich in diese Szene durch Anrufung des Himmels ein (S. 116). Er besitzt ein gleiches »Pu« wie der Ich-Erzähler der Pax-Novelle, aber es fehlt das Wort »k'i«, das die oberen, luftigen Dinge und die Bewegung dorthin bezeichnet: Fangs Dokument trägt nur die Aufschrift »Leben des Waisen«. Verdiene dir ein »k'i«, dann wollen wir weiter miteinandersprechen, eher aber nicht! (S. 118) sagt Mays höheres Ich zu seinem niederen. Die Vokabel »k~i« bedeutet aber nicht nur »Erhebung«, sondern auch »Geruch«. So greift ein Bild ins andere.


//68//

40 Karl May, Et in terra pax, 126.
41 Johann Baptist Hofmann, Etymologisches Wörterbuch des Griechischen, München 1966, Stichwort »sákchar«. - Auch die Hiluja aus den »Deutschen Herzen« ist von diesem Namenstypus, da sie auf das arabische »haluija« (»Süßigkeiten«) zurückgeht.
42 Jb-KMG 1972/73, 90 (Anmerkung 136). Wollschlägers Arbeit ist für jede psychologische Deutung des Mayschen Werks - mögen andere Deutungen im Detail auch nicht unwesentliche Akzentverschiebungen erkennen lassen - als grundlegend anzusehen, da sie nicht nur literarisches, sondem auch biographisches Material in extenso interpretiert. Im Großen gesehen ergänzen sich biographische und werkimmanente Deutungsmethode sowohl in den einzelnen Analysen als auch in deren Summe. Wer mehr vom Text ausgeht, wird es dankbar begrüßen, wenn hierbei gewonnenen Einsichten Bestätigung aus der Sichtung biographischen Materials zuwächst.
43 Jean Bart (1651-1702) war ein französischer Seeheld unter dem Szepter Ludwigs XIV., der gegen die Engländer Siege errang. Man vergleiche dagegen Mays Robert-Surcouf-Novelle. Allerdings ist, wie Klaus Hoffmann in einer seiner vorzüglichen Arbeiten (Jb-KMG 1972/73) gezeigt hat, das Vorbild Sam Barths vor allem in Hohenstein selbst zu suchen (S.231 f.), wiewohl die Vomamensverbindung zu Sam Hawkens über dessen Nachnamen wieder ins Seeheldentum hineinführt: Sir John Hawkins war Kaperkapitän und Sklavenhändler in westindischen Gewässem, ehe er Vizeadmiral der gegen die Armada operierenden Flotte wurde. Die britische Familie Parker stellte im 18. und 19. Jahrhundert eine Reihe von berühmten Admiralen, die mit Westindien und Ostindien durch Flottenunternehmungen verbunden sind. Einer gewann als Kommandant einer Fregatte namens »Amazon« (Amazone bedeutet: »die Brustlose«) gegen ein französisches Schiff namens »Belle Poule« (»Schöne Henne«) seinen spektakulärsten Seesieg. Ich erwähne solche Schiffsnamen, um zu zeigen, welches Spielmaterial in der Realität für eine kombinatorische Phantasie vom Schlage der Mayschen nahezu überall bereitlag. Immerhin läßt May eine Brigantine »The Hen« durch die ›Rose von Kairwan‹ kreuzen, und ein Deckname des Waldröschen-Landola ist Kapitän Parkert.
44 Jb-KMG 1971, 141 (Nr. 114).
45 Man vergleiche die auf Gloriolanstrich so ganz und gar verzichtende Schilderung dieses Mannes bei Hans Wollschläger, Die bewaffneten Wallfahrten gen Jerusalem, Zürich 1973, 129 ff.
46 Vgl. Klaus Hoffmanns Ausführungen im Jb-KMG 1972/73, 226 f.
47 Vgl. Heinrich Zimmer, Maya - der indische Mythos, Stuttgart/Berlin 1936, 270 (Lanka ist der alte Name der Insel Ceylon, wohin Sita durch den Dämon Ravana entführt wird, der Name Sita bedeutet »Ackerfurche«, vgl. S. 231).
48 Adalbert von Chamisso, Reise um die Welt mit der Romanzoffischen Entdeckungs-Expedition in den Jahren 1815-1818 auf der Brigg Rurik, Kapitain Otto von Kotzebue; Zweiter Theil: Anhang, Bemerkungen und Ansichten, hier eingesehen nach Chamisso's Werke, hrsg. von Wilhelm Rauschenbusch, Bd. 2, Berlin 1894, 372.
49 Dante, La Divina Commedia, Paradiso II, 7; »Die Wasser, so ich nahm ...«.
50 Die folgende neunte Zeile aus dem zweiten Gesang des Paradiso enthält Dantes Feststellung, daß ihm die neun Musen die beiden Stembilder des Großen und Kleinen Bären gezeigt haben. Über die Symbolbedeutung des Bären als Leibtier der Großen Mutter vgl. Jb-KMG 1971, 54. Die beiden Tonkawa-lndianer aus ›Der Schatz im Silbersee‹ heißen »großer Bär« und »kleiner Bär«.
51 Jb-KMG 1971, 41 und 45. -EinweitererNamederAleppobeule: »Biskarabeule«, wie Nachschlagewerke des 19. Jahrhunderts verzeichnen, läßt ferner noch Assoziationen an »Biß« und »Kara« zu.
52 Karl May, Durchs wilde Kurdistan, 134.


//69//

53 Vgl. a.a.O., 152.
54 Jb-KMG 1971, 67.
55 Karl May, Durchs wilde Kurdistan, 496.
56 a. a. O., 444.
57 a. a. O., 498.
58 a. a. O., 410. - Vgl. hierzu den Beginn der »Surehand«-Erzählung, wo die Topoi »entstacheltes Futter«, »gebratenes Fleisch«, »Honigsammeln«, »Gräbersuche« und »Einrennen der Mauer« (mit dem Bärentöter!) wie auf der Perlschnur aufgereiht erscheinen. Am Ende dieser Kette taucht der Name Needler auf, der auch in der ›Pax‹-Erzählung herumspukt, und der das englische Bedürfniswort »need« mit dem Stachelwort »needle« verbindet.
59 Sie befindet sich in einem »Etui«, wie zum Beispiel auch die Kerzen aus ungereinigtem Bienenwachs, die im Wasserengel liegen (ohne Etui kommen solche Kerzen im »Kurdistan«-Band vor, Seite 386, und auf der nächsten Seite schon folgt die Mahlzeit aus getrockneren Maulbeeren und in Asche geröstetem Kürbis, dazu Wasser). Es wird also auch hier die Verbindung von Brenn- oder Verzehrungsprozessen mit Stichworten der Oralität sozusagen »quergeschlossen« durch die einzelnen Buchabteile des Mayschen Monomythos. Das »Etui«-Motiv ist übrigens nur Sonderfomm der umfassenderen Verhüllungs- und Verkleidungssymbole (dazu auch die vielen »Decknamen«), welche den Prozeß der psychischen Verdrängung thematisieren.
60 Karl May, Durchs wilde Kurdistan, 405
61 Jb-KMG 1971, 181. - Zum Komplex »Kohle-Asche« lassen sich in den Texten genug Beispiele finden: die Kohlestücke, mit denen Pfeifentabak entzündet wird; verkohltes oder veraschtes Fleisch (zu Beginn von ›Winnetou‹ III wird Fleisch mit Schießpulver eingerieben und anschließend raucht man Herzblätter virginischen Tabaks), im ›Schatz im Silbersee‹ wird verkohlter Braten mit chinesischer Tusche verglichen (S. 331 der Unions-Ausg.). Mays Orientname »Kara«, Schwärze evozierend, fügt sich hier ebenso ins Gesamtbild, wie der Raffley-Deckname »Blackstone« aus der ›Pax‹-Erzählung. Die »Melancholia« (»Schwarzgalligkeit«) des frustrierten Säuglings wird eindeutig als oral-gastrisch bedingt erkennbar.
62 Karl May, Et in terra pax, 198 f. - Der Diamant erscheint hier im orientalischen Verbalkostüm als »Almaß« - man mag den Frauennamen »Alma« heraushören, der die »Gütig-Nährende« bezeichnet. Im dritten ›Winnetou‹-Band wird erzählt, wie der Steinschneider Hillmann begeistert Berichten von Edelsteinfunden in den Tetonbergen lauscht - die Tetonberge aber heißen nach den »tétons« (wie französische Coureurs sie tatsächlich benannten): also nach den Titten. Edelsteine, Gold oder Schätze symbolisieren deren Inhalt vor der Verkohlung: Die Berge des Innern ... bestehen aus vorkarbonischem Schiefer, welcher von goldhaltigen Quarzgängen durchzogen ist, heißt es in der ›Pax‹-Erzählung über Sumatra. Es gab also eine Entstehungszeit des Goldes, die vor dem Karbon, vor der Kohlezeit liegt! Der Zusammenhang von Diamant und Rauchgenuß, der ja Verkohlung des Tabaks einschließt, wird auch deutlich in der Rede des Hobble-Frank im ›Silbersee‹, wo die Erzählung vom Diamanten des Moritzburger Glasers die Austauschbarkeit von Pfeife und Diamant als Realität fingiert (S. 352 Unions-Ausgabe).
63 Karl May, Durchs wilde Kurdistan, 230 f. - Zu den Mooskissen der kurdistanischen Schenke vgl. die von Hillmann, dem Steinschneider (cutter! Der bürgerliche Name Old Wabbles, der außerdem aber auch noch einen Schiffstyp bezeichnet) in der Teton Range gefundenen Moosachate. Vielleicht darf man auch den verschiedentlich bei May auftauchenden »moose« (nordamerikanische Bezeichnung des Elchs) hierher stellen, als Elentier gehört er zu den kuhähnlichen Muttertieren, wobei dieser Name die Brücke zu dem Namenskomplex »Ellen« schlägt (vgl. Tibo-wete-elen im ›Surehand‹) der in mannigfaltigen Varianten sich durchs ganze Werk zieht und noch durch Tatellah Satah durchschlägt. Wenn meine Erinnerung nicht trügt, hat bereits Arno Schmidt auf diese Lall-Lautverbindung hingewiesen.


//70//

64 a.a.O., 231.
65 May erscheint Türbedi Haidari wohl als Ortsname (was stimmen mag). Um eine Stadt im eigentlichen Sinne handelt es sich zweifellos nicht, allenfalls um ein Dorf. Oder aber meinte May die iranische Weinstadt Kaswin mit Haidarije-Lehranstalt samt blauer Gebetsnische? Auf S. 300 wird über den Wein von Türbedi Haidari gesagt: Reißt einen Elefanten nieder. Süß wie Honig und stark wie ein Löwe! - hier erscheint der Löwe im Klartext, begleitet von der Honigmetapher (vgl. die zwei Riesenkürbisse mit berauschendem Honigwasser zu Beginn des 3. Kapitels im ›Silbersee‹), dazu der Topos des »Niederreißens«, der wieder in die Nähe der Waller-Mauer führt. Tatsächlich sind »Turm« (also Mauerwerk) und »Elefant« kovalente Muttersymbole, ihre Austauschbarkeit belegt die Geschichte der Schachfiguren. Übrigens sagt May auf S. 299 deutlich, daß mit diesem Wein Milch gemeint ist, Milch, die aus den Bäumen des Paradieses fließt (dazu die mit Moos (!) ausgepolsterte Baumhöhle der voraufgegangenen Passage). Der Honig wiederum ist Pflaster auf eine Beule (290): also die Aleppobeule Lindsays. Die Deklarierung des Weins aus Türbedi Haidari als besonders heilkräftige Medizin wirft nicht nur ein Licht auf die indianischen »Besitzer von vielen Medizinbeuteln« (um Maysches Material hier seiner immanenten Intention gemäß zu variieren), sondern überhaupt auf den Komplex »Medizin «, »Arzt« und »Heilen«, der ja gerade für die ›Pax‹-Erzählung so zentral ist. Wenn die javanische Rafflesia-Art Heilmittel ist gegen Blutungen, wenn Rafflesia, die Riesenblume, unmittelbar aus dem Erdboden herauszuwachsen scheint, dann dürfte sie, von der May zweifellos wußte, aufgrund solcher Symbolträchtigkeit irgendwo im Werk in Erscheinung treten. Unmöglich, für jeden Aufsatz über May das Gesamtwerk nochmals durchzulesen - vielleicht also wird die Rafflesia noch tatsächlich dingfest gemacht. Bis dahin aber verweise ich auf die Grandifloria des Hobble-Frank (›Silbersee‹, 323), kein schlechtes Deckwort für die größte Blüte der Welt. Aus der Versenkung tauchen mit ihr die zum Tode verurteilten wieder auf (der Grabaspekt der verdrängten Medizin, der im vergrabenen Wein mit dem Grabmalsnamen in Analogie vorliegt), und wenn aus der Grandifloria über Verbesserung und Gegenverbesserung schließlich ein »Gran« wird, dessen Funktion als Apothekergewicht hervorgehoben ist, dann wird dadurch auf den Medizinalcharakter der Großblüte hingewiesen. Die Verdeutlichungswörter Glück, durch die Blume und Busenfreund bedürfen keines Kommentars mehr, ebensowenig wie das zuvor im Text genannte gastronomische Spiegelteleskop, dessen oral-phallischer Charakter ja auch an der chair-and-umbrella-pipe Raffleys (umbrella = Ella) ablesbar war, wobei das Riesenfernrohr Lord Castlepools der Riesenblüte der Grandifloria in der Inflation der beide Pole verbindenden Gefühiswallung entspricht. Die Dampfkräne, die Hobble-Frank der Grandifloria hämmernd vorausschickt, lenken den Blick in die Landschah Wawa Derricks (»derrick« heißt »Kran«, auch »Erdölbohrturm«), auf das Schmiedehämmerduell im dritten ›Surehand‹-Band, auf Schmetterhand und Hammerdull und den Riesenhammer der Geisterschmiede, wo der Bohrer wieder erscheint, der in Schloß Rodriganda wurzelt (»rodriganda« heißt: »die zu durchbohrende«, von »rodrigar« gleich »Pfähle in die Erde bahren«). Das ›Surehand‹-Kapitel über Old Wabbles, des wulstlippigen Cutters, grausamen Tod im Baum, setzt in seinem Riesenpanorama (also dem Sehnsuchtsblick durch das lordschaftliche Riesenfernrohr) einen Anfang, der das Motiv der fraulichen Blüte mit dem der Mauer und dem der Arznei samt dem Topos »Edelmetall« zu einem einzigen Rundgemälde zusammenrafh: da balanciert Frau Flora über die Granitmauern der Felsengebirge, mit Gold gekrönt an Bächen flüssigen Silbers vorbei, und die Balsamtannen (Balsam dient ja zur Wundbehandlung!) evozieren mit einem anderen Bild die Milchbäume des Paradieses. Der Baum, aus dem Milch und Honig fließt, ist aber Old Wabbles Grab - der Wein aus Türbedi Haidari hat dem löwenmähnigen Cowboy wohl den wankenden Gang verliehen, der ihm den Namen gab. Die Klemme, in der Old Wabble stirbt, ist zuletzt jenem goldenen Klemmer iden-


//71//

tisch, den Raffley mit zitternden Lippen (!) bis zur Grenze des Absturzes von derMords-Lords-Nase rutschen läßt, und den er doch ständig in der Hoffnung trägt, eine welterschütternde Entdeckung zu machen. Diese Welterschütterung mit nachfolgender Entdeckung illustriert jenes Erdbeben, das dem vulkanischen Wasserausbruch des »Sohnes« im ardistanischen Gipfelmassiv des Dschebel Allah vorausgeht und expressis verbis die Rückkunft des Paradieses ankündigt (Bd. XXXII, 522, 564ff.). Das Bild der Schildkröte vom »Hawk Inn« wühlt hier die Erde auf, panoramisch vergrößert, als meilenlange Riesenschildkröte (S. 582). Die Rollende Prärie am Schwarzen Bärenfluß aus dem ›Silbersee‹ gerät in Schwingung, erschüttert vom Schüttelgang Old Wabbles, der schwankenden Gestalt. Und so farbenprächtig, wie das geschliffene Kelchglas erscheint, aus dem einstürzenden Sohn-Krater Ardistans emporgerüttelt, so farbenprächtig sind auch die heilenden Wässer des Quacksalbers im ›Silbersee‹: die Aqua Chimborassolaria ist bereits das Wasser aus dem Vulkanberg Ardistans, denn der Chimborazo ist ein Vulkan. Und die buntschillernde Medizin, die mit botanischer Namensbildung (-laria) aus tiefer Erde hervorzubrechen prätendiert, als sei die humusentsprossene, wasserfassende Fleischblüte der Rafflesia nicht weit, führt tatsächlich nach Sumatra: Aqua sumatralia verabfolgt Quacksalber Hartley mit seinem »Famulus« (Waller-Haller: Walhalla sozusagen - und auch ein Ort für Schmaus und Trunk) der Farmersfrau gegen beginnenden Kropf. Kropf: das ist eine Entsprechung zum Gesichtswulst der Aleppobeule, das ist die einschnürende Verengung am Hals, das Würgen, projiziert auf eine Mutterfigur als das verursachende Prinzip. Die mit Bilsenkraut (vgl. Anm. 31) vergiftete Kuh, die als animalischer Patient zugleich mit der Farmersfrau behandelt wird, deckt den Gedanken an die Milchspenderin fast allzu durchsichtig ab. Mit Aqua sylvestropolis, Waldenburger Wasser also, will der Quacksalber das Milchspendeleiden kompensieren: May wurde Dieb, weil er sich nehmen mußte, was er als das ihm Zustehende erahnte hinter den Dingen, die er tatsächlich nahm. Der erschlichene Doktortitel, vom eigenen Bedürfnis verliehen, weist den Quacksalber als Selbstporträt Mays aus. Die Gleichung Faust-Shatterhand (»wenn ihr Magister und auch Doktor seid«) steht verschummert hinter dieser Figur, deren Name Hartley, mit Raffley endungsgleich, das englische (wasserenglische!) Herz ebenso beschwört wie den Hirsch (hart), den der Mir von Dschinnistan, die Bibel zitierend, als Sehnsüchtigen nach Wasserquellen aufruft, kurz ehe der Traum von der Kollektivschuid der Ahnen (Wallers Ahnentempel!) beim Schein vulkanischer Feuersäulen gebeichtet wird. Die Reihe der Aquae Hartleys, Pseudo-Medizinen allesamt, bringen mit zerfließenden Wasserfarben Mays Innenwelt als knappe Pinselskizze. Aqua salamandra evoziert den Salamander als das Feuersymbol, das er noch im Volksglauben des 19. Jahrhunderts war - als »Brennendes Wasser« ließe sich diese Medizin winnetouesk verdolmetschen. Das Tier mit der Giftdrüsenhaut lieh seinen Namen aber auch dem studentischen Trinkspruch, und die beiden »verkehrten Toasts«, Trinkspruch-Appetithappen sind nicht weit. Aqua peloponnesia ist Wasser jener Halbinsel, die unvermittelt in ardistanischen Gesprächen auftaucht (Bd. XXXI, 203) und nach Pelops benannt ist, dem Stammvater eines Geschlechts, das Ahnenschuld im griechischen Mythos exemplarisch verkörpert. Wenn May den Tantalos-Mythos im verschmachtenden Gambusino der Winnetou-Erzählungen für den Wilden Westen adaptierte, so verlieh er dem Vater des Pelops diese Goldgräbermaske. Und der jüngere Name des Peloponnes, Morea, »Insel der Maulbeere« bedeutend, läßt sich schon deshalb einschlägig oralisch verstehen, weil die getrockneten Maulbeeren (vgl. Anm. 59) einen gar zu maygerechten Fingerzeig geben. Die Aqua invocabulataria benennt denn auch unmißverständlich Mays Methode, seine Geheimnisse »in vocabula« zu verschlüsseln. Aqua sensationia evoziert erhitzte Sinnlichkeit von Kolportagetemperatur. Aqua furonia verweist mit klarem Anklang an lateinische Diebstahisvokabeln auf den sylvestropolitanischen Übeltäter, wie Aqua ministerialia auch: ministerialis, also Verwalter in klösterlich strengen Ver-


//72//

hältnissen, ist May als »Lichtwochner« in Waldenburg gewesen. ›Ein Drama auf der Prärie‹ ist jenes Silbersee-Kapitel überschrieben, das mit dem Hungermotiv und Rauchfleisch beginnt, die Pfeife nicht ausläßt und damit endet, daß der Smocky-hill-Fluß aus dem Nebel ans Licht tritt. Der Fluß der rauchenden Hügel - aber mit »ck« fehlerhaft geschrieben. Fehlerhaft? Das Wort »smock« bedeutete im Sprachgebrauch der amerikanischen Pionierzeit die Unterkleidung der Frauen. Und Brinkley, der in diesem Kontext die abgründige Situation an Wassers Rand mit Raffleytöniger Namensendung heraufbeschwört (»brink« = Ufer, Schluchtenrand), präludiert dem Sprung Dilkes hinab in die Flut wie dem ardistanischen Panthersprung, den der Sprung des schwarzen Panthers im ›Silbersee‹ (diese Unterart ist auf Sumatra heimisch!) vom Deck des Arkansas-Dampfers seinerseits wieder vorwegnimmt. Tante Droll, komisches Prinzip wider die Melancholie, tötet diesen schwarzen (kara!) Panther. Ihr deutscher Bürgersname: Pampel. Sie ist die Hampel-Pampel-Muse des Dichters May. Die Pampelmuse, Frucht der Citrus maxima, größte aller Agrumen also, führt wieder in die Malayenwelt Raffleys: Auf Java ist dieses Gewächs zu Hause, und es kompensiert durch brustgroße Exotenfrüchte das Mehlbrei-Surrogat früher Versagung, die Pampe der sächsischen Armutsheimat.
66 Horace Walpole, The Three Princes of Serendip, 1754.
67 Jb-KMG 1971, 186.
68 Karl May, Waldröschen 1, 391.
69 Karl May, Durchs wilde Kurdistan, 302.


Inhaltsverzeichnis


Alle Jahrbücher


Titelseite KMG

Impressum Datenschutz