Hier in Regensburg*, wo wir uns in diesen Tagen versammelt haben, um aus dem uns gemeinsamen Interesse an der Gestalt und dem Werk des Schriftstellers Karl May Gedanken und Meinungen auszutauschen, erinnern wir uns gewiß lebhaft der Tatsache, daß nicht nur jene Reiseerzählungen Karl Mays, die den Kern seines Werkes ausmachen, von dieser Stadt aus als ein durch Jahre hin unversiegter Strom in die Welt hinausgegangen sind, sondern daß hier auch der Ruhm dieses Schriftstellers, der ihn bald so prächtig hoch in das öffentliche Ansehen, aber auch in das Wolkenkuckucksheim seiner eitelsten Torheiten hinaufschweben lassen sollte, seinen Anfang genommen hat. Von dem Ereignis, das eine so erstaunliche Kettenreaktion zur Folge haben sollte, der Anwerbung Karl Mays als Autor der Familienzeitschrift Deutscher Hausschatz durch den Regensburger Verleger Friedrich Pustet, trennt uns ja heute schon fast ein volles Jahrhundert: in fünf Jahren könnte man eines runden Säkularjubiläums gedenken. Und doch beginnt, was der Hausschatz-Autor Karl May in dreißig Jahren seiner Tätigkeit für Pustet geschrieben hat, erst heute so recht ernsthaft die etablierte Literaturwissenschaft zu beschäftigen; keineswegs, weil sie diesen Karl May etwa als ein verschollenes Stück Vorwelt entdeckt hätte, sondern weil er noch immer, mit jenen alten Hausschatz-Mären, als ein heute wie je präsenter Bestseller-Autor Millionen junger und alter Leser zu entzücken vermag. Der magische Glanz und Ruhm dieser seiner Evergreens beginnt denn nun auch die blasiertesten oder verstocktesten und fanatischsten unter seinen Gegnern
* Dieser Essay entspricht im Wortlaut einem Vortrag, den der Verfasser auf dem Festabend anläßlich der Tagung der Karl-May-Gesellschaft zu Regensburg am 6. Oktober 1973 gehalten hat.
aufs neue sehr nachdenklich zu machen. Woher dieser Ruhm und diese Präsenz?
Am Anfang war freilich Camouflage im Spiele. Dieser Schriftsteller hatte seinen Lesern nicht gesagt (was er doch im Alter freimütig bekannte): Ich erzähle euch Märchen, schöne, bunte, auch spannende und wilde Märchen, Märchen wie aus Tausendundeiner Nacht, und wenn ich ein bißchen dabei flunkere und mich selbst in eigener Person mit hineinbringe in meine Geschichten, dann geschieht's, damit ihr's lebendiger, spannender, hautnäher nacherleben könnt, aber auch - natürlich - weil ich doch selber, ich armer Schlucker und Erdenwurm, mir gern ein bißchen Wunschzauber vormache, vielleicht auch - das will ich nicht in Abrede stellen - damit ihr ein Stück Herz an mich hängt, manchmal um mich bangt und zittert, manchmal mich bewundert und feiert -, das tut einem so wohl, dem sonst nicht eben viel Liebes im Leben begegnet ist.
Nein, das sagte er nicht. Er sagte, als mehr und mehr mit dem literarischen Erfolg, mit dem großen Ruhm auch die Fragen, vielleicht die Zweifel, seiner Leser an ihn herantraten: Ich bin es selbst, bin Old Shatterhand, bin Kara Ben Nemsi, habe den Grizzly-Bären gejagt und den Schut entlarvt, bin mit Winnetou und Halef geritten, trage die Narben noch an meinem Körper. Und er ging hin und ließ sich feiern in Glanz und Gloria, den großen Weltreisenden und Entdecker, den Freund der Völker und den Rächer der Enterbten. Er blähte seinen Mythos auf, so groß er ihn blähen konnte, nahm Audienzen bei Kaiserlichen Hoheiten und gab selber Audienzen, die Lande auf und ab.
Bis alles zusammenbrach. Bis es herauskam, ans Licht gebracht wurde, daß der, der da so herrlich dahergekommen war in Tatenruhm und Doktorwürde, jene Zeiten, in denen er Afrika und Amerika durchstreift haben wollte, vielmehr hinter sächsischen Gefängnis- und Zuchthausmauern abgesessen hatte. Da war es nun aus mit ihm. Es erhob sich der Sturm der Empörung, der Schwall der Verachtung, und nicht aus der Sahara, sondern aus der geballten feurigen Wolke der deutschen Presse schlug dem ertappten Sünder der vernichtende Glutwind ins Gesicht: Literarischer Hochstapler, geborener Verbrecher, Verderber der Jugend, Schmierfink der Kolportage, dies und viel anderes mußte er sich öffentlich sagen lassen. Und so gebrandmarkt,
so - wie es schien - auf immer gekennzeichnet, ging der arme Mensch, nach zwei Jahrzehnten literarischer Mühen und Erfolge, in sein Alter hinein. Ging hinein aber nur, um alsbald ein zweitesmal als Phönix aus seiner eigenen Asche aufzufliegen, wie schon einmal dereinst, als sich die Zuchthaustore wieder vor ihm geöffnet hatten, um ihn in eine fragwürdige Freiheit zu entlassen.
Daß übrigens die Verbindung Karl Mays mit seinem Verleger Pustet in Regensburg die grausame Entlarvung und den abgrundtiefen Sturz des Autors - nach mancherlei Schwierigkeiten - am Ende doch überdauert hat, so daß noch das vorletzte seiner großen Erzählwerke, Der Mir von Dschinnistan (später Ardistan und Dschinnistan benannt), im Deutschen Hausschatz erscheinen konnte, das dürfte, als ein Beweis freisinniger Humanität einem so schwer Bedrängten gegenüber, nicht das geringste Ruhmesblatt in der Geschichte dieses Verlages sein.
Überhaupt - so scheint es mir - muß jenes grandiose Spektakel um Karl May, das um die Jahrhundertwende das öffentliche Interesse ganz Deutschlands auf sich zog, unter die erstaunlichsten Begebenheiten der neueren deutschen Literaturgeschichte gerechnet werden; und ich gestehe für mich selbst, daß nichts mich von Anfang an so sehr an der Gestalt dieses Menschen und Schriftstellers gefesselt hat wie das zutiefst erschütternde Schauspiel, das sein schwindelerregender Aufstieg und sein ebenso schwindelerregender Fall jedem am Menschlichen und Allzu-Menschlichen der Literatur Interessierten darbieten. Da steht uns ein großes Modell vor Augen. Da läßt sich studieren, was die Gnade, aber auch der Schrecken, die Verzauberung, aber auch die Bedrohung vermögen, denen der schöpferische Phantast, der geniale Erzähler ausgeliefert ist, der die eisernen Gesetze des Alltäglichen und Bürgerlichen hinter sich läßt. Das läßt sich studieren, wie an einem Experiment, weil niemand unter Seinesgleichen das Exempel so durchsichtig vorgeführt hat wie dieser Karl May in seiner schier unglaublichen Naivität und Fahrlässigkeit. Und andererseits -: da haben wir auch das Schauspiel - das überdimensionale - einer Inhumanität, wie sie immer von Zeit zu Zeit die gesittet-zivilisierte Politesse unseres öffentlichen Lebens lustvoll durchbricht, um ihre Vernichtungsorgien zu feiern. Jeder, der an Massenmedien und
ihrer Geschichte interessiert ist, sollte dieses klassische Beispiel studieren.
Im Gezeter um den Mann war durch Jahre hin immer wieder dieses der gravierendste Vorwurf, daß er eben das, was erlebt zu haben er vorgegeben hatte in all den vielen, vielen Abenteuergeschichten, durchaus nicht erlebt, sondern sich frei ersonnen hatte. Man wird heute gewiß geneigt sein - und ich bekenne mich zu dieser Meinung - gerade diese Tatsache als eine schlechthin in ihrer Art genialische Leistung schöpferischer Phantasie zu deuten. Aber damals gab es den Aufschrei der Empörung, denn er hatte ja ausdrücklich versichert, mündlich und schriftlich, zu vielen Malen, er müsse doch, wie er sagte, der größte Schriftsteller der Welt sein, wenn die Gabe ihm eigen wäre, sich solches alles auszudenken. Nein, was er schreibe, das sei nicht D i c h t u n g, sondern die volle W a h r h e i t. So stand er denn nun als Lügner da, und nicht nur dies, sondern auch - weil ja der Erfolg seiner Schriften nicht zum geringsten Teil darauf beruhte, daß viele Tausende naiver Leser ihn ganz wörtlich genommen hatten - auch als so etwas wie ein literarischer Hochstapler.
Es hat ja durchaus nicht, in all den Jahren, auch an Versuchen gefehlt, den entlarvten Mohren weiß zu waschen, ihn zu entschuldigen. Man möge sich doch, so hieß es, an Münchhausen erinnern, der habe auch solche Flunkergeschichten erzählt, und in dieses Genre müsse man auch den Fall Karl May einstufen. Aber es stimmt nicht: den Münchhausen hat nie jemand ernst und wörtlich genommen. Man hat dann gesagt, auch Dante sei nicht in der Hölle gewesen und habe seinen Gang durch's Inferno doch mit aller Akribie beschrieben. Auch dieser Vergleich stimmt ja nicht, denn Dante hat nie einen Zweifel daran gelassen, daß seine Höllenfahrt eine rein dichterische Fiktion sei. Und weiter haben seine Freunde erwogen (was er denn doch noch selber bis zuletzt angedeutet, aber geheimnisvoll offen gelassen hatte, auch in seiner Selbstbiographie), ob er nicht doch ein paar Reisen gemacht habe, nach Amerika und nach Nordafrika, in seiner ganz frühen Zeit, und ob denn nicht also seine Geschichten, wenn zwar vielleicht nicht ganz wortwörtlich wahr, so doch freie Nachschöpfungen ehemaliger wirklicher Erlebnisse des Autors sein könnten. Wir gehen hier nicht näher auf den Streit um solcherlei Argumentation ein,
denn niemals ist es gelungen, einen wirklich stichhaltigen Nachweis für diese Hypothese zu führen. Wir wischen - hier und jetzt - das ganze kuriose Knäuel von Vorwürfen und Gegenthesen, so interessant sie für die Aufhellung der Biographie dieses seltsamen Autors im einzelnen sein mögen, als für eine literaturwissenschaftliche Betrachtung des Problems irrelevant ganz endgültig vom Tisch. Es bleibt dabei, er war nicht in Amerika und nicht in Afrika und im Orient, ehe er anfing zu schreiben, und hier eben beginnt denn, so meinen wir, dies Phänomen, auf einer anderen und höheren Ebene, ein solches der reinen Literatur, ein Problem der Literaturpsychologie zu werden.
Wenn auch gewiß nicht aus der Sicht wütend-enttauschter Naivlinge, auch nicht aus dem Aspekt von Juristen und Moralisten, so bleibt dennoch die Frage nach dem Verhältnis von Dichtung und Wahrheit - seit Goethe dergleichen am Beispiel eigenen Lebens und Schaffens aufgezeigt hat - eine der wichtigsten und höchstinteressanten für jeden, der sich im Ernst mit jenem Typus des homme de lettres, um den es sich hier handelt, beschäftigen und dessen Geheimnissen nachspüren möchte. Wilhelm Dilthey hat später, auf philosophischer Ebene, das Verhältnis als ein solches von »Erlebnis« und Dichtung bezeichnet und das Wesen der dichterischen Phantasie darin zu analysieren vermocht, daß es nie und nirgends Dichtung geben könne, die nicht aus wirklichem Erleben herstamme. Denn woher sonst sollte ein Dichter, ein Erzähler, Welt und Leben im literarischen Kunstwerk darstellen können als aus demjenigen Bestand seines Erinnerungsvermögens, das seine eigenen Erfahrungen mit Welt und Leben speicherte? Aber dichterische Phantasie ist nicht einfach Erinnerung an Erlebtes; es muß dabei ein Umformungsprozeß walten, der, obgleich er nach strenger Gesetzmäßigkeit gemäß der besonderen psychischen Struktur eines gegebenen Charakters verläuft, dennoch in einer gewissen schöpferischen Freiheit mit dem gespeicherten Erlebnismaterial verfährt. Einer Freiheit, die wir als poetische Lizenz bezeichnen. Und diese Fähigkeit gerade, das Erlebnis zu transformieren, ist es doch, die den Dichter, den Künstler macht. Wenngleich in oft höchst verfremdeten Ausdrucksgebärden, so muß dennoch in allen poetischen Motiven, die ein Autor verwendet, der Kern von Erlebnissen sich uns darstellen, wenn es uns nur gelingen könnte, etwas schärfer in die
psychischen Prozesse hineinzuleuchten, die jenen Umformungsvorgang auslösen und bestimmen. Eines ist sicher: jeder Schaffensprozeß an literarischen Kunstwerken ist auch ein solcher der Katharsis, das heißt der Reinigung, Befreiung, Heilung. Reinigung von den ausgebrannten Schlacken, die das Leben in den Tiefen einer Psyche abgelagert hat; Befreiung von bedrückenden Ängsten, aber auch von quälenden Wünschen; Heilung von den Wunden, die das Leben geschlagen hat, vom Trauma der Seele, das den Menschen zum Versehrten, zum Krüppel macht, sofern nicht das Beschädigte abgestoßen werden kann durch Objektivierung im literarischen Werk. Es gibt kein literarisches Oeuvre, so hoch oder so niedrig es rangieren möge auf der Stufenleiter unserer Wertungen, in dem nicht dieser Lebenskern wirkte und dieser Bekenntnischarakter aufzufinden wäre, und auch der letzte Schreiber der Kolportage könnte nicht um Geld sein Handwerk treiben, gäbe es nicht in ihm die bisher beschriebene Fähigkeit und innere Nötigung. »Und so begann ich denn«, so formulierte es Goethe, der es ja wissen mußte, »diejenige Richtung, von der ich mein ganzes Leben über nicht abweichen konnte, nämlich dasjenige, was mich erfreute oder quälte oder sonst beschäftigte, in ein Bild, ein Gedicht zu verwandeln und darüber mit mir selbst abzuschließen, um sowohl meine Begriffe von den äußeren Dingen zu berichtigen, als mich im Innern deshalb zu beruhigen.« (Dichtung und Wahrheit)
Bemerkt man wohl schon, daß den Fall Karl May von einer solchen Warte her betrachten ihn als ein höchst bedeutsames Problem entdecken heißt? Was Goethe betraf, so weiß ja doch heute jeder Kenner, auf wie lautere und fast unverstellte Art bei ihm das Erlebnis zur Dichtung und die Dichtung zum »Bruchstück einer großen Konfession« geworden ist. Wie er beispielsweise die eigene Lebens- und Liebeskrise, die ihn zu Wetzlar ergriffen und an den Rand eines Selbstmordes getrieben hatte, alsbald in seinem Werther verobjektivierte, indem er den Protagonisten seines Romans eben das vollbringen ließ, was er selber nicht tat -, dies ist ja seit jeher einer der klassischen Belege der Diltheyschen Hypothese.
Aber K a r l M a y?
Wie steht es mit ihm in dieser Beziehung? Sagten wir nicht gerade, seine Reiseromane seien nicht als ein Niederschlag wirklich erlebter
Reisen zu betrachten? Eben dies ist das Interessante. Die Frage bleibt weiter bestehen: wenn er n i c h t den Orient bereiste, bevor er für Pustet seine orientalischen Geschichten schrieb -, welches war wohl d a n n jenes echte Stück Leben, aus dem das große mythische Fabuliergeflecht um Kara Ben Nemsi herausgesponnen werden konnte?
Wir sehen ihn ja da fast leibhaftig vor uns, den kleinen Mann an seinem Schreibtisch in Dresden oder Radebeul - so stellen wir es uns jedenfalls vor -, das blasse und von vielen Nachtwachen hagere Stubengesicht abwechselnd über die Manuskriptblätter gebeugt und aufblickend wiederum mit schwimmenden Träumeraugen seinen inneren Gesichten nachsinnend, als stünden sie näher oder ferner vor ihm im Raume. Und natürlich - ganz gewiß spann er seinen Faden keineswegs aus dem hohlen Nichts heraus, wie denn überhaupt aus dem Nichts nichts entstehen kann. Denn lag nicht in der Tat ein Leben hinter ihm? Ein Leben von so ganz ungeheuerlichem Zuschnitt, daß, wer heute davon liest, es kaum begreiflich finden mag, wie einer sich überhaupt aus einer so schlimmen Verstrickung zu einer fast heilen, fast bürgerlich anmutenden Existenz herauszuwinden vermag. Ein Leben, in dem sich nicht hier und da einmal Böses ereignete, um etwa das eine oder andere Trauma, diese oder jene Frustration anzurichten, sondern eines, das randvoll war von Schrecken und Ängsten und das, im Unterbewußtsein wie im bewußten Erinnern dieses Mannes, als eine einzige große Wunde, ein einziges Trauma schmerzvoll weiter schwären mußte.
Es scheint mir, ein Mann wie dieser hätte gewiß nicht erst in den Orient zu fahren brauchen, um Erfahrungen zu besitzen, Erfahrungen mit dem Leben in jeglicher Gestalt, die ihn befähigt hätten, seiner schöpferischen Phantasie ein Vehikel zu finden. Er brauchte nur hinabzusteigen in die Tiefenschichten der eigenen Vergangenheit, wo das alles aufbewahrt lag, brauchte nur den Spuren zu folgen, die der eigene Lebensschmerz ihm wies, um Lebendiges, Erschütterndes und Spannendes heraufzufördern für mehr als ein literarisches Lebenswerk. Er brauchte nur ins eigene Innere zu reisen - wie wir es ausgedrückt haben -, um seinem Schreiben jene Substanz zu geben, die geeignet gewesen wäre, viele Leser zu faszinieren.
Aber, so fragen wir nun, tat er das denn etwa nicht? Doch, er tat es.
All sein Reisen, mit dem er seine Bücher anzufüllen vermochte, war recht eigentlich eine »Reise ins Innere«. War ein unermüdliches Aufspulen und Aufarbeiten dessen, was aus seiner Vergangenheit heraufdrohte. Ein Sich-Herumschlagen mit Gewesenem und Gewünschtem, ein Berichtigen - wie Goethe gesagt hat - dessen, was falsch gewesen war, ein Sich-Beruhigen über Angst und Schrecken. War ein Rekapitulieren schlimmer Niederlagen und ein Kompensieren erlittener Schwäche. Das alles freilich nicht nackt, nicht unverhüllt, sondern eben, wie es Dichters Art ist und ganz legal bei solchem literarischen Geschäft, verkleidet in parabelhafte Erzählmotive, verschlüsselt und verfremdet, so daß denn jene große orientalische Reise seines Kara Ben Nemsi, die mit Durch die Wüste beginnt und in Ardistan und Dschinnistan endet, als eine einheitliche große Chiffre gelesen werden muß, als Ideogramm jener ganz anderen Reise, die immer mehr und tiefer in den Innenraum der eigenen Seele geführt hat.
Wir sagen mit diesem allen nicht einmal etwas ganz Neues. Wir verallgemeinern eigentlich nur, was schon an Einzelheiten des Mayschen Erzählwerks gelegentlich beobachtet worden ist. Man hat schon früher auf sogenannte »Spiegelungen« hingewiesen, meist aber auf Figuren in den Büchern, in denen Personen aus der späteren Zeit Karl Mays wiederzuerkennen waren. Und neuerdings hat Hans Wollschläger ein paar, wie mir scheint, wichtige Beobachtungen vorgetragen (in zwei Jahrbuch-Aufsätzen), indem er sozusagen als Entdecker in die künstlerischen Strukturen der beiden Spätwerke Und Friede auf Erden und Am Jenseits eingedrungen ist, um dort das in diesen Büchern besonders stark eingelagerte Erlebnismaterial aus lange zugeschütteten Bewußtseinsbereichen aufzuspüren, das erst der alternde Autor in den genannten Büchern abzubauen und zu verarbeiten gewußt habe.1 Wollschläger ging es dabei, als einem Psychoanalytiker der strengen Observanz, vor allem anderen um die etwaigen Traumata, die der Psyche im frühkindlichen Alter schon zugefügt worden seien, und er führte auf diese Ursachen manche seltsamen Motive der Reiseerzählungen, wie die Überdimensionierung der Heldengestalt des »Ich« und eben auch die nach Liebe der Mitwelt süchtige Selbst-Identifizierung Karl Mays in der Zeit seiner Torheiten zurück. Da ist höchst Bemerkenswertes zu Tage gefördert worden. Wir meinen aber, über
Freud hinaus, daß keineswegs nur die frühkindlichen Erlebnisse bleibende Formierungen und Deformierungen einer Psyche verursachen, sondern daß, durch sein ganzes Leben hindurch, der Mensch durch jedes Erlebnis, das an den Kern seiner Existenz rührt, auf eine bleibende Weise belastet und verändert und in bestimmte Bahnen seines Handelns und Denkens gelenkt wird. In bestimmte Bahnen auch, wo es um einen E r z ä h l e r geht, seiner schöpferischen Phantasie. Wir wollen Beispiele dafür geben, denn darum geht es ja im Kern dessen, was hier näher ausgeführt werden soll.
Wir halten uns an den blassen, kleinen Mann mit den Manuskriptblättern im Dresdener oder Radebeuler Studierzimmer, dessen Bild wir schon kurz heraufbeschworen haben. Was lag denn an solchem Erleben, das an die Existenz rührte, unmittelbar hinter ihm, als er sich an sein Schreiben machte? Jahre der Zuchthaushaft, Jahre hinter Gittern, in einer Einzelzelle (wie wir wissen), Gefangenschaft also, völlige Einschließung und Stillsetzung auf engstem Bewegungsraum. Das war gewiß ein sehr schmerzliches, zutiefst in die Existenz einschneidendes Erleben, und zwar durch insgesamt sieben Jahre hindurch ertragen. Es war ein Erlebnis, das gewiß geeignet sein mußte, einen Menschen für den ganzen Rest seines Lebens entscheidend zu formen und - unter Umständen - zu deformieren. Nun hat Karl May, wie man sicher weiß, nicht unfreundlich von seinen Haftjahren berichtet (in Mein Leben und Streben) und ihnen eine beruhigende, abklärende Wirkung auf seine bis dahin so chaotisch daherbrausende Vitalität zugesprochen. Wir stimmen ihm darin vollauf zu. Ja, wir meinen, daß - bei aller von vornherein dagewesenen Phantasiebegabung - die Jahre der Haft erst den Schriftsteller aus ihm machten, der späterhin durch Jahrzehnte geduldig an seinem Schreibtisch zu verharren vermochte. Sublimierung nämlich der all seinen Straftaten zugrunde liegenden Phantastik zu jener nicht mehr zu wirren Taten umschlagenden reinen Meditation und Intuition, die ja eben den Dichter ausmacht, das war für ihn der große Gewinn dieser sieben Jahre, in denen er das geduldige, aber tatenlose Fortspinnen reiner Phantasiegebilde von Grund auf und für immer einlernen mußte.
Und auf weiteres will ich hinweisen. Der spätere Autor Karl May hat ja mit seinen »Reiseromanen« ein ganz eigenes, vorher kaum
aufgetretenes Genre der Literatur erfunden, eine höchst originale Leistung, wie man erkennen muß. Ein Genre, von dem man sagen könnte, es sei gedichtete, d.h. in epische Kunstform transponierte Geographie. Daß er sich dieser literarischen Form, seiner spezifischen Schöpfung, später so geradezu ausschweifend und süchtig gewidmet hat, auch diese verwunderliche Tatsache, so meinen wir, geht auf unmittelbare Ursachen zurück, die im Erlebnis der Haftjahre liegen. Wir wissen, daß dieser Häftling manches Jahr lang die Gefängnisbücherei seiner Anstalt mit betreuen durfte, auch daß er diese Gelegenheit zu ausgedehnten Studien nutzte. Was enthalten aber solche Bibliotheken? Sicherlich keine Räuberpistolen, sondern dafür viel Erbauliches und Belehrendes. Muß man es sich nun erst ausmalen, wie ein geistig reger, aber eher plastisch-phantastisch als abstrakt begabter Mensch seine Lektüre auswählte? Geographische Lehrbücher und Expeditionsberichte werden es vor allem gewesen sein, die ihn fesselten, weil sie seiner bildhaften Vorstellungsweise am ehesten entgegenkamen. Entgegenkamen aber auch und vor allem den schmerzhaften Wünschen und in Jahren aufgestauten Bedürfnissen eines Mannes in der Zelle, den Träumen von großer Freiheit, großer Weite, von ungehemmtem Hinausschweifen in die Welt, und zwar in eine Welt, ganz weit ab von den engenden, bedrängenden Kerkermauern seiner eigenen Misere. So mag er denn also die Seiten seiner Geographiebücher in unzähligen Wachträumen mit den Wunschbildern seiner Phantasie erfüllt haben, mag er sich selber tausendmal auf die Reise geschickt haben in so inbrünstigen Visionen, daß das Gitter seiner Zelle davor ins Imaginäre versinken mußte. Kann man nicht sagen, er habe, in all diesen Jahren, Amerika und Afrika heftiger, leidenschaftlicher und eindrucksvoller e r l e b t als einer, der ganz nüchtern mit Schiff, Bahn und Kamel die Reise gemacht hätte? Ein Amerika, ein Afrika freilich, das im eigenen Inneren lag und mit der Seele zu suchen war. Sein Roß war nicht Rih, sondern Pegasus.
Da verbanden sich aber auch mit diesem Komplex der Reisewünsche, der im Treibhaus der Gefängniszelle so üppig ins Kraut schießen mußte, die anderen Wunsch-und Schreckensträume des Gefangenen. Die Schrecken des einstmals Gejagten, das grauenhafte Erlebnis der Überrumpelung und Inhaftierung, die Qual des Eingesperrtseins, und
auch die Wunschvorstellungen von kühner Befreiung und Flucht. Sie alle spannen sich bunt und verlockend, aber auch ängstigend und verwirrend in die Reisevisionen ein. Wir müssen es nicht im einzelnen belegen, jeder, der May-Bücher gelesen hat, kennt den spannenden Reiz, der gerade von diesen Motiven ausgeht, ja, man könnte pauschalierend behaupten, in den Erzählungen dieses Autors gehe es überhaupt nur um diese Verfolgungen, Fesselungen, Einkerkerungen, Befreiungen und Fluchten, in immer neuen Varianten und Umkehrungen zu einer schier endlosen Kette aneinandergefügt, und alles andere sei nur Füllwerk und Rankenspiel um diesen Hauptstrang aller Geschichten. Dieses nun aber ist wahrlich Erlebtes.
Der Hypothese, die hier aufgestellt wird, nämlich daß die Gefängnisjahre das gewesen seien, was als Erlebniskomplex das neue literarische Genre der Reiseromane habe entstehen lassen, und zwar im Keim bereits in der Gefangenschaft selbst -, dieser Hypothese könnte man entgegenhalten, daß das berühmte »Repertorium C. May«, jene stichwortartige Skizzierung literarischer Pläne für die Zukunft, die er in der ersten Haftzeit anfertigte, von solchen Reise-Abenteuern in der Ich-Form noch keine Spur einer Andeutung enthält.2 Das besagt freilich - so meine ich - nur, daß ihm, als er das Repertorium schrieb, ein Wirken als Schriftsteller zunächst nur nach Muster der volkstümlichen und erbaulichen Heimatschriftsteller vorschwebte, aber Motive wie Im wilden Busch und Der Stern der Savannen werden immerhin schon notiert. Der literarische Durchbruch zu den eigenen großen geographischen Fernenträumen, ihr Hineinnehmen in erzählerische Pläne, das erfolgte wohl etwas später erst. Aber wir haben keinen Anlaß, grundsätzlich zu bezweifeln, was er selbst in Mein Leben und Streben darüber berichtet hat:
Ich habe die in mir schreienden Stimmen . . . auch in der Zelle vernommen. Ich habe mit ihnen gekämpft und sie stets zum Schweigen gebracht. . . . (Ich hatte) die Bibliothek der Gefangenen zu verwalten, und auch die Bibliothek der Beamten stand mir offen. Die Werke. . . bezogen sich nicht etwa nur auf Strafrecht und auf Strafvollzug, sondern es waren alle Wissenschaften vertreten. Ich habe diese köstlichen, inhaltsreichen Bücher nicht nur gelesen, sondern studiert und sehr vieles daraus gewonnen . . . So verwandelte sich für mich die Strafzeit in eine Studienzeit, zu der mir größere Sammlung und größere Vertiefungsmöglichkeit geboten war, als ein Hochschüler jemals in der Freiheit findet ... Noch heut bin ich ganz besonders dankbar dafür, daß es mir nicht verboten war, mir fremdsprachige Grammatiken anzuschaffen und hierdurch den eigentlichen Grund zu
meinen späteren Reisearbeiten zu legen, die aber bekanntlich gar keine Reisearbeiten sind, sondern ein ganz anderes, bis jetzt unbebautes Genre bilden sollen . . . Ein Leser in Freiheit und ein Leser in Haft, das sind zwei ganz verschiedene Gestalten. Bei dem Letzteren kann das Lesen geradezu zum seelischen Existenzbedürfnisse werden. Sein Wesen wendet sich, es kehrt sich um. Die äußere Persönlichkeit hat unter der Anstaltszucht ihre Geltung aufzugeben; die innere tritt hervor. . . Sie strebt mit Macht heraus aus dem Gefängniskleide, und sie verlangt mit Heißhunger nach einer Kost, an der sie ethisch gesunden und erstarken kann, um sich von den Fesseln, in denen sie bisher schmachtete, zu befreien . . . Es wurde zwischen meinen vier engen Wänden hell; sie weiteten sich. . . . Ich war angekettet im tiefsten, niedrigsten, verachtetsten Ardistan und schickte meine ganze Sehnsucht und alle meine Gedanken zum hellen, freien Dschinnistan empor. Ich stellte mir vor, die verloren gegangene Menschenseele zu sein, die niemals wiedergefunden werden kann, wenn sie sich nicht selbst wiederfindet. . . . Ich will Gleichnisse und Märchen erzählen, in denen tief verborgen die Wahrheit liegt. . . Ich will Licht schöpfen aus dem Dunkel meines Gefängnislebens . . . Ich muß selbst zum Märchen werden, ich selbst, mein eigenes Ich . . . Ich nahm mir vor, zunächst noch weiter an meinen Humoresken und erzgebirgischen Dorfgeschichten zu schreiben . . . Dann aber wollte ich zu einem Genre greifen, welches im allgemeinsten Interesse steht und die größte Eindrucksfähigkeit besitzt, nämlich zur Reiseerzählung . . . Vor allem galt es, sich tüchtig vorzubereiten, Erdkunde, Völkerkunde, Sprachkunde treiben. Ich hatte meine Sujets aus meinem eigenen Leben, aus dem Leben meiner Umgebung, meiner Heimat zu nehmen und konnte darum stets der Wahrheit gemäß behaupten, daß Alles, was ich erzähle, Selbsterlebtes und Miterlebtes sei. Aber ich mußte diese Sujets hinaus in ferne Länder und zu fernen Völkern versetzen, um ihnen diejenige Wirkung zu verleihen, die sie in der heimatlichen Kleidung nicht besitzen.3
Wir sagten, man dürfe die Wahrheit dieses Berichts in seinem Kern nicht bezweifeln. Das war wirklich so, das muß so gewesen sein, so muß das Genre der Reiseerzählung einst vor die Seele des Häftlings getreten sein, und nur eines werden wir tunlichst von diesem Bericht noch abzuziehen haben, nämlich daß hier als planvolle und gewissermaßen leserpädagogische Maßnahme dargestellt wird, was doch ganz gewiß ein aus der Lebensnot des Häftlings hervorgepreßter Kompensations- und Überkompensationsvorgang, ein irrationaler Prozeß gewesen ist, den nur der Alternde aus der Rückschau als im Plan seines Lebens sinnvoll zu begreifen suchte. Aber ganz sicher ist dies das e c h t e Erlebnis jener Haftzeit, daß - wie er sagt - die enge Zelle sich weitete, daß die innere Persönlichkeit in die Freiheit drängte und daß es Selbsterlebtes und Miterlebtes gewesen sei, was sich in seinen Reiseerzählungen nur der heimatlichen Kleidung entledigt und in ferne Länder und zu fernen Völkern transponiert habe. Seine Gegner haben das als eine späte Schutzbehauptung aufgefaßt, eine Notlüge, die nur dazu dienen sollte, seine Eskapaden der stolzen »Renom-
mierzeit« in etwa zu rechtfertigen. Wir meinen aber, daß er hier die Wahrheit gesprochen hat, und können es auch beweisen. Man kann es beweisen insbesondere die Bände seiner orientalischen Reiseerzählungen auf und ab, aber wir wollen hier nicht die Einzelheiten häufen und solchen Beweis in die Länge zerren. Eindrucksvoller und vielleicht auch interessanter und lehrreicher ist es, wenn ich hier eine zentral wichtige Episode herausgreife und an ihr die Probe aufs Exempel vorführe.
Der Fabrikherr, dessen Schule mir an vertraut worden war, hatte kontraktlich für Logis für mich zu sorgen. Er machte sich das leicht. Einer seiner Buchhalter besaß auch freies Logis, Stube mit Schlafstube. Er hatte bisher beides allein besessen; nun wurde ich zu ihm einquartiert; er mußte mit mir teilen. Hierdurch verlor er seine Selbständigkeit und seine Bequemlichkeit; ich genierte ihn an allen Ecken und Enden, und so läßt es sich gar wohl begreifen, daß ich ihm nicht sonderlich willkommen war . . . Im übrigen kam ich ganz gut mit ihm aus . . . Er hatte von seinen Eltern eine neue Taschenuhr bekommen. Seine alte, die er nun nicht mehr brauchte, hing unbenutzt an einem Nagel an der Wand. Sie hatte einen Wert von höchstens zwanzig Mark. Er bot sie mir zum Kaufe an, weil ich keine besaß; ich lehnte aber ab, denn wenn ich mir einmal eine Uhr kaufte, so sollte es eine neue, bessere sein. Freilich stand dies noch in weitem Felde, weil ich zuvor meine Schulden abzuzahlen hatte. Da machte er selbst mir den Vorschlag, seine alte Uhr, wenn ich in die Schule gehe, zu mir zu stecken, da ich doch zur Pünktlichkeit verpflichtet sei. Ich ging darauf ein und war ihm dankbar dafür. In der ersten Zeit hing ich die Uhr, sobald ich aus der Schule zurückkehrte, sofort an den Nagel zurück. Später unterblieb das zuweilen; ich behielt sie noch stundenlang in der Tasche . . .
lassen, daran hatte ich in meiner Ferienfreude nicht gedacht. Als ich bemerkte, daß sie sich in meiner Tasche befand, war mir das sehr gleichgültig. Ich war mir ja nicht der geringsten unlauteren Absicht bewußt. Dieser Abend bei den Eltern war ein so glücklicher. Ich hatte die Schülerzeit hinter mir; ich besaß ein Amt; ich bekam Gehalt. Der Anfang zum Aufstieg war da. Morgen war heiliger Abend . . . Ich sah die Abgründe hinter mir gähnen, vor mir aber keinen mehr, denn mein Weg schien zwar schwer und mühevoll, aber völlig frei zu sein . . . In diesen Gedanken schlief ich ein, und als ich früh erwachte, war der Vormittag schon fast vorüber, und ich mußte nach dem Hohensteiner Christmarkt, um noch einige kleine Einkäufe zur Bescherung für die Schwestern zu machen. Dort traf ich einen Gendarm, der mich fragte, ob ich der Lehrer May sei. Als ich dies bejahte, forderte er mich auf, mit ihm nach dem Rathause zu kommen, zur Polizei, wo man eine Befragung für mich habe. Ich ging mit, vollständig ahnungslos. Ich wurde zunächst in die Wohnstube geführt, nicht in das Bureau. Da saß eine Frau und nähte. Wessen Frau, darüber bitte ich, schweigen zu dürfen. Sie war eine gute Bekannte meiner Mutter, eine Schulkameradin von ihr, und sah mich mit angstvollen Augen an. Der Gendarm gebot mir, mich niederzusetzen, und ging für kurze Zeit hinaus, seine Meldung zu machen. Das benutzte die Frau, mich hastig zu fragen: »Sie sind arretiert! Wissen Sie das?« - »Nein«, antwortete ich, tödlich erschrocken. »Warum ?« - »Sie sollen Ihrem Mietkameraden seine Taschenuhr gestohlen haben! Wenn man sie bei Ihnen findet, bekommen Sie Gefängnis und werden als Lehrer abgesetzt!« Mir flimmerten die Augen. Ich hatte das Gefühl, als habe mich jemand mit einer Keule auf den Kopf geschlagen. Ich dachte an den gestrigen Abend, an meine Gedanken vor dem Einschlafen, und nun plötzlich Absetzung und Gefängnis! »Aber die ist ja gar nicht gestohlen, sondern nur geborgt!« stammelte ich, indem ich sie aus der Tasche zog. »Das glaubt man Ihnen nicht! Weg damit! Geben Sie sie ihm heimlich wieder, doch lassen Sie sie jetzt nicht sehen! Schnell, schnell!«
Da ist sie denn, diese schreckliche Episode, das Tor zum Inferno, mit dem alles seinen Anfang nahm, die lange Reise in die Nacht. Die Episode, von der er an anderer Stelle, in seiner Beichte sagte: Dieses Entsetzen hat mich nicht wieder verlassen; es gab mich nicht wieder frei. Es krallte sich in mir fest und fraß mich innerlich auseinander. Der Gedanke an die mir widerfahrene Schande und an das Herzeleid meiner armen Eltern und Geschwister bohrte sich so tief und so vernichtend in meine Seele ein, daß sie schwer und gefährlich erkrankte.5 Trauma der
Seele also, schmerzender Komplex in den Tiefen der versehrten Existenz, des lädierten Ich. Dies zu heilen, zu berichtigen, zu beruhigen, zu überwachsen, war denn wohl auch der kathartische Antrieb, der den Autor Karl May in die verfremdete Welt seiner Reisemärchen hineinzwang.
ahnen, was da heraufdroht. Man begreift, wie hier die Phantasie des Erzählers auf geheimnisvolle Weise, einem inneren Zwang gehorchend, auf den Spuren, in den vorgezeichneten Bahnen der einst erlebten Schrecknisse laufen muß. Und wir lesen diese Spuren so deutlich ab wie Kara Ben Nemsi jene im Wüstensand, die ihn, als er sie verfolgt, alsbald mit den beiden Mordgesellen zusammentreffen läßt. Die sind gerade dabei, ihre Beute zu teilen. Sie liegt noch da, weil die beiden keine Zeit gefunden hatten, sie zu verbergen: ein seidenes Taschentuch, eine goldene Uhr nebst Kette, ein Kompaß, ein prachtvoller Revolver und ein in Maroquin gebundenes Taschenbuch.8 Wir lesen die Spur, meine verehrten Zuhörer, wir lassen uns nicht verwirren durch das Hors d'oeuvre, das schmückende Beiwerk in diesem kleinen Stilleben, wir halten uns an die Hauptsache: die U h r, da liegt sie, wir haben auf ihr Auftauchen schon geradezu gewartet, seit wir begriffen haben, was sich da wohl zusammenbraut. Muß er nicht, unser Wüstenheld, diese Uhr noch in seine Tasche bekommen, wie der verräterische Ring schon an seinem Finger steckt? Er muß. Ich öffnete die Uhr und fand auf der Innenseite des Deckels ganz dieselben Buchstaben eingraviert(nämlich P.G.) »Woher hast du sie?« - » Was geht es dich an? Lege sie von dir!« Die Mörder sind feige, sie liefern dem Kara Ben Nemsi am Ende ihre Beute aus, während er sie selbst der Rache Gottes zu überlassen verspricht. »Hier, nimm das Drehgewehr, die Uhr, den Kompaß und das Tuch.«
um ihn zu vernichten und loszuwerden. So kann ein Guter das Opfer eines Bösen werden. Und das war nun allerdings, so wundert sich Kara Ben Nemsi, ein eigentümlicher, wunderlicher Verlauf, den unsere Audienz bei diesem Beamten nahm. Aber nicht nach der Uhr wird hier geforscht, sondern nach einem Mörder. Das Delikt hat sich verwandelt, ins Großdimensionale erhöht, es geht um Leben und Tod. Findet man nun wohl die Uhr bei ihm, das Indiz, das ihn vernichten könnte? O nein, keineswegs, so listig ist unsere schöpferische Phantasie, nach der Uhr wird gar nicht erst geforscht. So verdrängt unsere Psyche das Peinlichste ganz aus dieser Geschichte, denn damals -, damals hätte man eben lieber auch nicht nach ihr suchen sollen. Indessen, die Gerechtigkeit hierzulande ist nur summarischer als anderswo, und so wird auch ohne große Beweise zur Verhaftung geschritten: »Faßt ihn!« gebot der Wekil seinen Soldaten, indem er auf mich zeigte.10
nun übel genug. Wie sollte es anders sein? Kara Ben Nemsi, das eigentliche, das erträumte »Ich«, kehrt den Spieß um, befreit sich mit Halefs und Sadeks treulicher Hilfe und nimmt seinerseits Wekil und Denunzianten gefangen. Da ist nun, nach Märchenart, ausgeglichen, was ungerecht war, eine ganz alte Rechnung bezahlt.
sollst Gerechtigkeit haben an ihrem Ende. Wir erlassen uns den Bericht davon, wie die »Sonne vom Dscherid« ihrem Wort die Taten folgen läßt, es sei genug der Märchenspäße.
den inneren Richter treten. Halef sogar, der liebenswerte, der sich die Würde eines Hadschi andichtet, die ihm nicht gebührt, sich mit Namen schmückt und mit Taten brüstet, er stammt aus jener düsteren Ecke der abgelebten Vergangenheit, in der einst der »Hochstapler« Karl May sein Unwesen getrieben hat. Und wenn Kara Ben Nemsi in Kairo das Ansehen eines großen Arztes genießt und ausnutzt, wenn er als vermeintlicher Zahnarzt den Tyrannen von Mossul behandelt, dann fordert jener Dr. Heilig, in dessen Rolle der amtsenthobene Schullehrer einst als Trickbetrüger aufgetreten war, erneut seinen Tribut. Aber auch die böse Versagung, die einst den Wunsch des Knaben, einmal Medizin zu studieren und Arzt zu werden, an der Ernstthaler Weber-Misere scheitern ließ. Wenn kaum achtzig Seiten nach dem hier behandelten Gerichtsabenteuer Kara Ben Nemsi erneut als Gefangener und Angeklagter vor einem Gericht steht, und wenn er sich wiederum aus dem Angeklagten schließlich in den Ankläger verwandelt, der aber, der ihn angezeigt hat, Abrahim Mamur, der eigentliche Verbrecher ist, und alles wieder glorreich endet - dann erkennen wir das Zwanghafte deutlich, das in dieser Art von Phantasiespielen wirksam ist. Und wieder Gefangenschaft und wieder Befreiung - wir wollen die gleichnamigen Episoden nicht weiter aufzählen. Aber Sprachgebärden von immer wieder umwerfend eindeutiger und entlarvender Signalfunktion tauchen in diesem breit dahingehenden Strom des Fabulierens zahlreich genug wie Leuchtbojen an die Oberfläche empor. »Ich lenke sofort um«, sagt beispielsweise14 der Schiffsführer in einer heiklen Situation, und » Warum?« fragt Kara Ben Nemsi. »Um die Polizei zu vermeiden.« Worauf unser Held sich stolz in die Brust werfen und versichern muß: »Ich fürchte die Polizei nicht«, und nochmals, eine halbe Seite später: » . . . ich möchte im Gegenteil die hiesige Polizei einmal kennen lernen.« Ach ja, das sagen wir da so scheinbar harmlos vor uns hin, als hätten wir sie nicht, die »hiesige«, zur Genüge und darüber hinaus schon kennengelernt. Und wie sagt Halef doch so erstaunt, als sie den Geldschatz der Räuber entdeckt haben: »Was Sihdi? Du willst kein Geld mitnehmen? Du willst diesen Räubern das Geld lassen, welches wir so notwendig brauchen?« Aber: »Willst du ein Dieb werden?« fragt Kara Ben Nemsi dagegen und antwortet selber im Brustton der tiefsten Überzeugung,
die kein Wässerlein trüben kann: »Nein!«15 Mit einem emphatischen Ausrufungszeichen. Und wiederum hören wir Kara Ben Nemsi16 versichern: »Mir hat noch keiner ungestraft ein Pferd gestohlen . . . «, und wir glauben es ihm aufs Wort, doch steht, was er da sagt, auf dem Kopf, und stellen wir's vom Kopf auf die Füße, dann müßte es heißen, daß er, Kara Ben Nemsi alias Karl May, zu seiner Zeit nicht ungestraft ein Pferd gestohlen hat. Er hatte ein Pferd gestohlen und war dafür bestraft worden, das ist die betrübliche Wahrheit hinter jenem stolzen Wort des Helden. Doch »daß ich nicht gekommen bin, dir den Hengst zu rauben«, läßt der Autor seinen Kara Ben Nemsi dem Scheik der Haddedihn feierlich durch Ehrenwort und Pfand versichern.17 Und dennoch, wieder ist Gerichtsverhandlung, und es sind Pferderäuber, die nun den Kara Ben Nemsi des Pferderaubs anklagen, so verkehrt geht es zu in der Welt, wir kennen das nun schon. »Wer ist ein Pferderäuber?« so donnert der Scheik der Abu Hammed, »Du bist es! Wem gehört das Pferd, welches du geritten hast?« - »Mir.« - »Lüge nicht!«18 Ja, das sind Reminiszenzen, so sieht man, aus abgelebten Vergangenheiten, und sie sind immer wieder lebendig da und zur Stelle, so oft der Schriftsteller sich daran macht, seine Fäden zu spinnen.
schlagen mit den Schrecken des eigenen Schicksals, dieses Schauspiel heißt Regeneration der versehrten Psyche, heißt Rehabilitation der Persönlichkeit, heißt Suche nach der verlorenen Menschenwürde. Wie furchtbar muß hier ein Mensch verletzt, verstümmelt, reduziert worden sein, um so hypertrophierende Apotheosen seines »Ich« dichten und eine so ungeheure Gegenwelt erzeugen zu müssen. Rehabilitation ist der Sinn von dem allen: was verachtet ist, soll wieder Ehre haben, was gefangen ist, Freiheit, und was verhaßt ist, Liebe. Und das bleibt nicht aufs eigene enge Ich beschränkt, das weitet sich, je tiefer wir fortschreiten in unserem orientalischen Reiseabenteuer, ins Allgemeine und Menschheitliche; in einem ersten großen Aufschwung, wenn das ganze Volk der »Teufelsanbeter« rehabilitiert wird zur Würde religiöser und sittlicher Geltung, bis hin zum großen Gleichnistraum von Ardistan und Dschinnistan, der nur noch Seeleninnenraum ist.
dann - so werden wir sagen müssen - war er, Karl May, genannt Kara Ben Nemsi, ein ganzer Mensch und ein ganzer Dichter.
1 Hans Wollschläger, »Die sogenannte Spaltung des menschlichen Innem, ein Bild der Menschheitsspaltung überhaupt«, Materialien zu einer Charakteranalyse Karl Mays (I), in: Jb-KMG 1972/73, 11 ff.; Ders., Der »Besitzer von vielen Beuteln«, Lesenotizen zu Karl Mays Am Jenseits (Materialien zu einer Charakteranalyse II), in: Jb-KMG 1974, 153 ff.
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Eine der wichtigsten Episoden seines Lebens überhaupt ist ohne Zweifel die, durch die der eben erst bestallte Junglehrer einst jäh aus der bürgerlichen Gesellschaft ausgespien und mit dem Odium der Kriminalität beladen wurde. Der Bruch in seinem Leben, der Beginn seines Infernos, der Anfang aller Schrecken, die sein Dasein auf viele Jahre ausfüllen sollten. Wenn etwas in dieser Seele aus der Vergangenheit heraus nach Bewältigung schrie, dann muß es diese Episode seines Schicksals gewesen sein. Hier ist sie -, ich will sie Ihnen, verehrte Zuhörer, hier zu Gehör bringen, wie der Autor sie selber in seiner Autobiographie auf so klassisch-schlichte Weise dargestellt hat (und auch der, dem dieser Text bekannt ist, wird ihn gewiß gern und mit Aufmerksamkeit rekapitulieren).
Da kam Weihnacht. Ich teilte ihm mit, daß ich die Feiertage bei den Eltern zubringen würde, und verabschiedete mich von ihm, weil ich nach Schluß der Schule gleich abreisen wollte, ohne erst in die Wohnung zurückzukehren. Als die letzte Schulstunde vorüber war, fuhr ich nach Ernsttal, nur eine Bahnstunde lang, also gar nicht weit. Die Uhr zurückzu-
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Meine Bestürzung war unbeschreiblich. Ein einziger klarer, ruhiger Gedanke hätte mich gerettet, aber er blieb aus. Ich brauchte die Uhr einfach nur vorzuzeigen und die Wahrheit zu sagen, so war alles gut; aber ich stand vor Schreck wie im Fieber und handelte wie im Fieber. Die Uhr verschwand, nicht wieder in der Tasche, sondern im Anzuge, wohin sie nicht gehörte, und kaum war dies geschehen, so kehrte der Gendarm zurück, um mich abzuholen. Mache ich es mit dem, was nun geschah, so kurz wie möglich! Ich beging den Wahnsinn, den Besitz der Uhr in Abrede zu stellen, sie wurde aber, als man nach ihr suchte, gefunden. So vernichtete mich also die Lüge, anstatt daß sie mich rettete; das tut sie ja immer; ich war ein - - - Dieb! Ich wurde nach Chemnitz vor den Untersuchungsrichter geschafft, brachte die Weihnachtsfeiertage anstatt bei den Eltern hinter Schloß und Riegel zu und wurde zu sechs Wochen Gefängnis verurteilt.4
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Nun aber lassen wir den Vorhang fallen, und wenn wir ihn wieder aufheben zu jener ersten Episode, mit der das Buch Durch die Wüste beginnt, hat sich die Szene ganz verwandelt. Kara Ben Nemsi reitet durch die Sahara, begleitet vom treuen Hadschi Halef Omar, und der Hadschi spricht das erste Wort: »Und ist es wirklich wahr, Sihdi, daß du ein Giaur bleiben willst, ein Ungläubiger, welcher verächtlicher ist als ein Hund, widerlicher als eine Ratte, die nur Verfaultes frißt?«6 Man kennt den Humor dieser Szene, der sich dann leitmotivisch durch alle sechs Bände dieser Reihe hinzieht, indem des Hadschi Halef Bekehrungseifer sich am Ende ins Reziproke umkehrt. Aber bemerkt man auch, was solcher Humor eigentlich ist und wo er wurzelt? Bemerkt man wohl auch, daß Halefs Frage, so schelmisch sie hier behandelt wird, recht eigentlich in Wahrheit die furchtbar ernste Existenzfrage ist, die dieser Mensch sich selber hat stellen müssen, die Frage, um die es ihm wirklich geht, ob es nämlich wahr ist, daß er das bleiben muß und wird: verächtlicher als ein Hund und widerlicher als eine Ratte? Durchschaut man die Maskerade schon hier, so wird man von allem Zweideutigen und Umdeutenden der folgenden Szenen nicht mehr überrascht sein.
Ein Verbrechen wird entdeckt. Die beiden einsamen Reiter finden im Sande die Leiche eines Erschlagenen. Ein Mord. Die Mörder haben den Toten ausgeraubt, bis auf einen Ring, den er am Finger trägt, und ein paar zerknüllte Zeitungsausschnitte. Ich nahm die Papiere an mich, so heißt es dann, wie ich auch den Ring an meinen Finger gesteckt hatte . . .7 Hier stutzen wir schon. Wie? Er steckt diesen Ring an seinen Finger? Bedenkt er denn nicht, daß er, wenn dieser Ring bei einer Untersuchung bei ihm gefunden würde, in einen fürchterlichen Verdacht geraten könnte? Ist das nicht der gleiche Leichtsinn, den der Lehrer Karl May einst beging, als er jene Uhr, das für ihn so verhängnisvolle corpus delicti, mit sich in den Weihnachtsurlaub nahm? Ohne Zweifel, es ist die gleiche Fahrlässigkeit, und schon mag man auch
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Da trägt er sie nun also in der Tasche mit sich davon, die Uhr (dies schreckliche Ding, geeignet, einen Unschuldigen als Schuldigen, als Verbrecher erscheinen zu lassen), und es ist genau so wie dazumal, nur daß dieser, Kara Ben Nemsi, nicht nach Ernstthal fährt, eine Bahnstunde weit, sondern über das gefährliche Salzmoor nach dem Wüstenort Seddada reitet, aber aufs Rathaus geht es auch dort sogleich, weil doch die Mordsache zu melden ist beim türkischen Wekil, der die Polizeigewalt und Gerichtsbarkeit ausübt. Es kommt, wie es kommen muß. Der Mörder ist vor ihm beim Kadi gewesen, und so wird Kara Ben Nemsi ins Verhör genommen. »Er hat uns angezeigt?« so fragt er, »Weshalb?« - » Das werdet ihr noch hören . . . «9 Ja, so muß es gewesen sein bei jenem Verhör in Ernstthal damals: Er hatte ihn angezeigt, der Zimmerkamerad, einen Unschuldigen angezeigt, aus reiner Bosheit,
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Das ist sie, die furchtbare Szene, die das Leben einst in seinen Grundfesten zerbrochen hat. Aber hier? Aber jetzt? Jetzt sind wir mitten im Märchen, im Zauberreich unbegrenzter Möglichkeiten; da läßt sich Schrecken in Komik, Niederlage in Sieg verwandeln. Wie auf dem Exerzierplatze erhoben sie den linken Fuß; der Flügelmann markierte »sol - sagha, sol - sagha - links - rechts - links - rechts!« sie marschierten um mich herum und blieben, als der Kreis gebildet war, auf das Kommando des Unteroffiziers stehen. - »Onu tutmyn - ergreift ihn!« Zwanzig Hände mit gerade hundert braunen, schmutzigen Fingern streckten sich von hinten und vorn, von rechts und links nach mir aus und faßten mich am Burnus. Die Sache war zu komisch, als daß ich eine Bewegung zu meiner Befreiung hätte machen mögen.11
Die Sache war zu komisch! In der Tat, zu komisch ist sie, als daß sie uns nicht verriete, was hier in Wahrheit ins Spiel gekommen ist. Die Rache des Untertanen an jener so mechanisch in sein Leben eingreifenden Macht, die Persiflage jener uniformierten Autorität, die ihn jahrelang hinter Gitter und jahrelang unter Polizeiaufsicht gesetzt hatte. Und dieser Autor, er baut uns einen Türken, wie man so sagt, indem er Türken figurieren läßt in einem Possenspiel, das eigentlich in Sachsen spielen sollte, wie denn auch der Wekil-Tyrann von Seddada den Wachtmeister-Tyrannen von Ernstthal vertreten muß. Dem aber, dem Wekil, wie auch dem Denunzianten und Mörder, ergeht es
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Indessen, wie spiegelbildlich sich hier auch die alte Ernstthaler Szene wiederholt hat, indem sich in ihr, wie bei Spiegeln üblich, die Seiten vertauscht haben und natürlich einiges mehr -, wir vermissen im Personal dieser Posse noch eine sehr wichtige Figur. War nicht die Frau des Wachtmeisters selbst die Warnerin gewesen, die den Verhafteten hatte retten wollen und dennoch das Unglück noch schlimmer gemacht hatte? Aber da ist sie auch schon, ein wenig verspätet, doch noch zur rechten Zeit, ein gewichtiges Wort dabei mitzureden: Noch ehe ich antwortete, erscholl der angstvolle Ruf einer Weiberstimme. Ich blickte auf und bemerkte eine kleine dicke, weibliche Gestalt, welche vom Eingange her mit möglichster Anstrengung auf uns zuge - - kugelt kam. »Tut - halt!« rief sie mir kreischend zu. »ÖIdirme onu; dir benim kodscha - töte ihn nicht; er ist mein Mann!«12 Ja, da ist sie, die Frau aus dem Rathaus von Ernstthal, sie konnte nicht ausbleiben, ins komische Kugelwesen freilich verfremdet und verpoppt. »Töte ihn nicht, er ist mein Mann!« So hat sich also ihre Rolle verwandelt, als Retterin nicht mehr des armen Delinquenten und Uhrendiebes, sondern des eigenen Gatten muß sie sich verwenden. Sie hat freilich leichtes Spiel bei Kara Ben Nemsi, er wird ihn nicht töten, den Wekil, er ist milde gestimmt. Aber: »den Wekil«, spricht Kara Ben Nemsi, »habe ich gebunden, weil er mich schlagen und dann vielleicht sogar zum Tode verurteilen wollte, ohne mir Gerechtigkeit zu geben.« Worauf die Statthalterin, und hier spricht sie doch auch schon wieder aus der Gesinnung der Dame im Rathaus von Ernstthal heraus, die es so gut mit dem jungen Lehrer meinte: »Du sollst Gerechtigkeit haben!«13 Da haben wir denn das Wort, und wieder verhüllt und chiffriert, ins Possenspiel versteckt und einer Figur aus dem Kaspertheater in den Mund gesprochen, ein Wort, das doch das entscheidend wichtigste ist in diesem ganzen Spektakel, dasjenige, um deswillen die ganze Komödie in Szene gesetzt wurde. Da schließt sich der Bogen. Die Frage, ob er das bleiben müsse: verächtlicher als ein Hund, sie stand am Anfang unserer Geschichte, du
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Aber »diese sehr ernsten Späße« (wie Thomas Mann sich ausdrücken würde) haben uns einiges verraten. Verraten zum Beispiel, wie es um den Humor bestellt ist; daß Humor aus dem Leid, ja aus den Schrecken des Lebens stammt als die Fähigkeit, Tragik in Komik umzukehren, Licht aus dem Dunkel und Kraft aus der Schwäche zu schöpfen, aus Gnaden der das Erlebte in Freiheit umschaffenden Phantasie. Und verraten haben sie uns wohl auch, was es mit eben dieser Freiheit dichterischer Phantasie auf sich hat: sie ist Freiheit doch nur insofern, als sie fähig ist, das gespeicherte Material der Erlebnisse nicht unverändert zu verwenden, sondern es umzumodeln, es plastisch zu verformen zu oft überraschend neuen Figuren und Motiven; aber eben diese Phantasie, die solche Erzählungen schafft, bleibt andererseits wieder unfrei, nämlich gebunden an das Gesetz, nach dem sie angetreten ist. Es sind da Gleise gelegt, auf denen sie dahinfahren muß bei all ihren Fahrten ins Traumland. Es sind da Programmierungen gesetzt, nach denen allein der scheinbar so frei fabulierende Geist verfahren muß. Pegasus ist kein Wildpferd auf offener Steppe, sondern muß unermüdlich die Kurse der einmal gesteckten Hürdenbahn ableisten. Es sind da Modelle festgelegt, nach deren Struktur der Erzähler immer wieder den Plan seiner Geschichten gestalten muß. Und daß dies alles, dieses Zusammenspiel von Freiheit und Notwendigkeit im dichterischen Prozeß, im Fall des großen Naiven Karl May so besonders deutlich zutage tritt, so genau studiert werden kann, das eben macht unseren Autor zu einem ergiebigen Objekt literaturpsychologischer Forschung.
Denn wie wir es an e i n e m Fall aufgezeigt haben, so geht es ja weiter, durch sein ganzes Werk hindurch. Immer stößt die biographische Wahrheit durch die Schichten poetischer Verfremdung hindurch. So kann man denn fast sicher sein, daß dort, wo dieser Karl May humorige Späße treibt, komische Nummern und Clownerien vollführt, nur allzuoft ein Schrecken, ein Trauma, ein Komplex des eigenen Lebens sich zu Worte meldet, und die komischsten Figuren sind manchmal die ernstesten Zeugen, die anklagend oder entlastend vor
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Reminiszenzen, Fetzen, Reste, Ruinen dessen, was da versunken ist und doch nicht versunken ist - diese Wahrheit hinter der Dichtung ist ein widerhallender Raum voller Schrecken, voller Revenants, Wiedergänger, Gespenster, die nicht Ruhe finden können und immer wieder beschworen werden müssen. Der Sinn hinter dem allen? Man könnte versucht sein, das Furchtbar-Naive in all diesen Gebärden abgeschmackt und lächerlich zu finden, wenn nicht eine seltsame Würde, eine anrührende und geheimnisvolle Integrität darin läge, die sich gelegentlich auf merkwürdige Weise artikuliert: »Du bist ausgegangen wie ein Sultan, welcher unerkannt große Taten verrichtet, und noch die Kinder unserer Kinder werden von deinem Heldentum erzählen.«19
Werden sie das? Nicht s o, nein, gewiß nicht so vordergründig wollen wir hier und heute die »Taten« auffassen, die er vollbrachte. Aber das Schauspiel, das er uns darbietet, dieser ungeheure Aufwand von Phantasie und literarischem Fleiß, um sich ohne Pause herumzu-
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Eine Reise ins Innere -, ja, das ist es wohl gewesen, was Karl May vor rund hundert Jahren begonnen hat mit seinen orientalischen Geschichten für den Hausschatz. In seinem Inneren traf er, dieser andere Ritter von der traurigen Gestalt, auf den Tod und den Teufel, denen es ins Auge zu sehen, die es zu bestehen galt. Er hat es sich nicht leicht gemacht, hat sich redlich und strebend bemüht, und wenn das gilt, was sein Zeitgenosse Henrik Ibsen in seiner berühmten Formel vom Leben und vom Dichten gesagt hat:
L e b e n heißt: dunkler Gewalten
Spuk bekämpfen in sich,
D i c h t e n: Gerichtstag halten
Über sein eigenes Ich,
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2 Repertorium C. May, veröffentlicht in: Karl May, Hinter den Mauern und andere Fragmente aus der Haftzeit; Jb-KMG 1971, 132-143
3 Karl May, Mein Leben und Streben, Selbstbiographie Band I, Freiburg o.J. (1910), 130 ff. (heute in: Ges. Werke Bd. 34, 28. Aufl., Bamberg 1971, 149 ff.)
4 Ebd., S. 103-107 (Ges. Werke, Bd. 34, 124 ff.) - Die wahre Chronologie der Ereignisse weicht von Mays aus der Erinnerung niedergeschriebenen Darstellung etwas ab; vgl. dazu Ges. Werke Bd. 34, 28. Aufl., S.126 (Fußnote), sowie HansWollschläger, Karl May in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1965, S. 21.
5 Ges. Werke, Bd. 34, 28. Aufl. S. 16
6 Karl Mays Gesammelte Reiseerzählungen, Bd. I Durch die Wüste (ursprünglich Durch Wüste und Harem), Freiburg 1892; S. 1 (künftig abgekürzt als Wüste), in Klammern beigefügt sind die Seitenangaben des unveränderten Nachdrucks der ersten Buchausgabe: Ingolstadt 1973 (hier S. 5)
7 Wüste S. 16 (18)
8 Wüste S. 21 (22)
9 Wüste S. 59 (57)
10 Wüste S. 64 (61)
11 Wüste S. 64 f. (62)
12 Wüste S. 69 f. (66)
13 Wüste S. 72 (68)
14 Wüste S. 160 f. (148f.)
15 Wüste S. 221 (202)
16 Wüste S. 327 (298)
17 Wüste S. 362 (328 f.)
18 Wüste S. 383 (347 f.)
19 Wüste S. 314 (286 f.)
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