aber auch literarisch in einen weit höheren Rang, als man ihm bisher hat zugestehen mögen. Gewiß liegt eine künstlerische Schwäche des Werkes (etwa im Vergleich mit den Schlußbänden des »Silberlöwen« oder mit »Ardistan und Dschinnistan«) darin, daß es sich um eine Art »Nummernoper« handelt, das heißt, daß die großen Gesichte mit weitläufigen »Sprechpartien« wechseln, also mit eindimensionalem didaktischhumanitärem Räsonnement, dessen ästhetische Legitimität man bezweifeln mag, auch wenn es dafür in der Literatur dieses Jahrhunderts manche Parallelen gibt. Andererseits ist es aber doch wieder hocherstaunlich, wie sich bei May die Heimkehr ins Mütterliche, indem sie seine zunächst rein persönlichen Innenkonflikte beruhigte, sogleich in einen zu jener Zeit überaus kühnen, erdumspannenden Pazifismus umsetzte. Diese Transponierung individuellen Schicksals ins Allgemeingültige, in die oft verständnislos umrätselte »Menschheitsfrage« Mays, bietet nicht nur ein für die Psychologie literarischer Schaffensvorgänge exemplarisches Modell. May hat hier auch ein bis heute gültiges literaturpädagogisches Lehrstück geschaffen, das seiner »Botschaft« jenseits des nur Literarästhetischen ihr eigenes Recht sichert.
Dies wird besonders deutlich durch die Abhandlung von Ekkehard Bartsch, die »Entstehung und Geschichte« des Buches auf dem Hintergrund der Zeithistorie sorgfältig rekonstruiert und manches anders sehen lehrt, als man es bisher angenommen hatte. Die werkgeschichtliche Darstellung wird ergänzt durch die von Hansotto Hatzig übersichtlich zusammengestellten Textvarianten der Erstfassung. Nichts bezeugt die sozialpolitische Aktualität von »Und Friede auf Erden!« besser als der Umstand, daß die »Lehre« des Buches sich von Anfang an gegen wechselnde Zeitströmungen immer wieder mühsam behaupten mußte. Die Streitschriften, die schon May gegen einige ihn wohl absichtlich mißverstehende Kritiker abzufassen genötigt war, haben wir im vollen Wortlaut wieder abgedruckt. Sie sind biographisch bewahrenswert, weil sie erkennen lassen, wie man - in heute noch sehr beliebter Weise - den Mann bekämpfte, wenn man die Sache meinte. Sie zeigen May aber auch literarisch von einer neuen Seite: als gewandten Polemiker, der (ungeachtet seiner vielen verwundbaren Stellen) in der publizistischen Arena treffsicher zu fechten verstand.
Ein viel beredetes, aber wenig geklärtes Thema wird durch den
Beitrag Heinz Stoltes zum erstenmal umfassend aufgearbeitet: die pädagogische Beurteilung der Wirkung, die Mays Schriften auf die Jugend unvermindert ausüben. Die jahrzehntelange Diskussion dieser Frage hat über eine verwirrende Fülle meist reichlich hausbackener Meinungen und Gegenmeinungen bisher kaum hinausgeführt. Stoltes Arbeit, deren ersten Teil dieses Jahrbuch vorlegt, schafft hier eine Grundlage, die in Zukunft ein differenzierteres Urteil ermöglichen wird. Welche didaktischen Maximen May selbst bei der Konzeption seiner Jugendschriften leiteten und wie sie sich im Licht moderner pädagogischer Auffassungen darstellen, wird Stolte im nächsten Jahrbuchband am Beispiel der »Sklavenkarawane« sichtbar machen. Auch auf diesem Feld ist der Forschung noch ein großes und sehr bedeutendes Arbeitsgebiet zu erschließen.
Die biographischen Arbeiten über die - von der Forschung bisher am wenigsten ergründete - abenteuerliche Frühzeit Mays werden mit den Abhandlungen von Klaus Hoffmann und Hainer Plaul fortgesetzt. Ihre Beiträge, die längst verloren geglaubtes Quellenmaterial mit akribischer Detailbesessenheit ausschöpfen, gestatten es, den merkwürdigen Wegen Karl Mays in der Zeit seiner Straftaten mit höchsterreichbarer Genauigkeit nachzugehen. Kein ernst zu nehmender Mensch wird diese Jugendverirrungen heute noch benutzen können, um den Dichter herabzuwürdigen. Ihre gründliche, dokumentarisch gesicherte Aufklärung aber ist von höchster Wichtigkeit. Sie trägt nicht nur zur Beurteilung umstrittener biographischer Hypothesen (wie etwa der bekannten Frühreisen-Theorie) Wesentliches bei. Sie reinigt auch das Bild Mays von zahlreichen legendären Beschuldigungen, führt irrige Verurteilungen auf den wahren Sachverhalt zurück, hilft, die von Wollschläger aufgewiesene schwere Neurose, an der May zu jener Zeit litt, vom Erscheinungsbild seiner Taten her besser zu verstehen, und ist auch für die Erforschung seines Werkes, das die Begebenheiten seiner frühen Jahre in vielfältiger Weise spiegelt, unerläßlich. Auch Werner Poppes Studie über die Herkunft des Namens »Winnetou« - ein ebenfalls von jeher lebhaft umstrittenes Thema - reicht in ihrer Bedeutung über die eng begrenzte Fragestellung hinaus. Sie macht anhand eines relativ geringfügigen etymologischen Streitpunktes die literarische Entwicklung der Reiseerzählungen im Ausschnitt sichtbar und ermöglicht es, unter
Zuhilfenahme der von May benutzten Sprachwerke die Entstehung früher Texte exakter als bisher zu datieren.
So versucht auch dieses Jahrbuch - biographisch, deutend und wertend - den ganzen Karl May zu zeigen: einen Menschen, dessen Leben und Werk von den untersten Tiefen bis zu beträchtlichen Höhen hinaufreicht und dessen Anziehungskraft für den Forschenden gerade auch aus dieser komplexen Vielgestaltigkeit kommt. Mir bleibt nur noch der Dank des Herausgebers, der wiederum allen Mitgliedern der Karl-May-Gesellschaft, den Mitarbeitern des Jahrbuchs und besonders unseren beiden Redakteuren gilt, die trotz schwerer Behinderungen ihre Arbeit mit niemals nachlassender Hingebung durchgehalten haben. Erst eine spätere Zeit wird ihre Leistungen angemessen würdigen können.