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HANS WOLLSCHLÄGER

»Die sogenannte Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung überhaupt« ·

Materialien zu einer Charakteranalyse Karl Mays



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Ich kann über unsere Fahrt keine sogenannten »Reiseabenteuer« berichten an welchen sich doch nur die Oberflächlichkeit ergötzt; wer aber einen Sinn für die unendlich gestalten- und ereignisreiche Seelenwelt des Menschen hat und ein Verständnis für die Tiefe besitzt, in welcher die äußeren Vorgänge des Menschen- und des Völkerlebens geboren werden, der wird nicht mißvergnügt, sondern ganz im Gegenteile mit mir einverstanden darüber sein, daß ich ihn in diese Tiefe führe, anstatt ihn für einen Leser zu halten, der nur nach der Kost der Unverständigen verlangt ... (1)

   Daß die psychoanalytische Methode das literarische Werk wie Anamnesematerial behandelt und ihm Erkenntnisse über das Unbewußte seines Urhebers abzugewinnen weiß, begegnet heute immer noch stark formulierten Einwänden und Widerständen. Deren affektive Besetzung ist freilich zu auffallend, als daß sie mit ihr nicht zugleich entkräftet sein müßten; aber auch wo ihnen die intellektuale Deckbegründung gelingt, wird, wer zu einiger Einsicht in die seelische Grundmechanik schöpferischer Prozesse gelangt ist, nicht zögern, sie zu verwerfen. Der Anteil bewußt kontrollierter und organisierter Materialbildung und -formung kann im Werk hochintellektueller Autoren sehr hoch sein, kann Höchststufen der sublimativen Verwandlung erreichen; ganz fehlen, unsichtbar, unkenntlich bleiben aber wird der Unterraum, aus dem es sich erhoben hat, nie. Die analytische Methode kann darum niemals unzuständig sein, sie sieht sich in Grenzfällen nur vor oft unlösbare Aufgaben gestellt. Auch bei einem Denker und Künstler von allerhöchstem Rang wie Nietzsche hat Thomas Mann, in einer Analyse der »Töchter der Wüste«, eine Unterschicht freigelegt; und ein so kühl stilisierender Artist wie Oscar Wilde gibt die Wahrheiten seines Unbewußten auch dem Laienauge erkennbar preis: sein Märchen vom


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»Sternenkind« etwa, in vor-analytischer Zeit geschrieben, spiegelt das Charakterbild des Narzißten mit allen seinen Entwicklungsstufen in einer Reinheit, als sei es von analytischer Theorie entworfen worden. Umso größere Durchsichtigkeit darf bei Kunstleistungen vermutet werden, deren Struktur weit weniger von Vorentwurf und Beaufsichtigung des Bewußtseins bestimmt ist, die vielmehr gleichsam im Wildwuchs entstehen und ihre Ordnung aus der psychischen Tiefe, in der sie wurzeln, fertig mit heraufbringen. Wo solche Arbeiten sich gar, wie bei May, ganz unverhüllt als Ich-Darstellungen erweisen, wäre das Verbot an die analytische Methode ein Erkenntnisverbot schlechthin.

   Claus Roxin hat auf das »Dranghafte« in Mays Schreiben hingewiesen, das schon im Quantitativen deutlich werde, und mit Bezug auf den - wie vielfach belegt, beispiellos faszinierenden - mündlichen Erzähler May von seinen »sich offenbar während des Erzählens selbstproduzierenden Geschichten« gesprochen. (2) Dieser Zug bezeichnet seine Produktionsweise überhaupt, auch und gerade die schriftliche. Es scheint, daß May ein Werk stets ohne jede präzise Vorstellung von Fortgang und Lösung der Handlung begann; seine - oftmals durchaus kunstvollen - Durchführungen entstehen dann viel mehr aus sich selbst als aus dem exponierten Material, von dem sie oft erstaunlich viele Motive einfach liegen lassen. Die Konzept-Blätter zum Spätwerk, die erhalten geblieben sind, beweisen dies deutlich: sie enthalten nirgends auch nur Ansätze zu einem Rahmenentwurf, sondern sind durchweg Datenspeicherung zum bereits Geschriebenen. May bedurfte beim Schreiben der Stützung seines Gedächtnisses ersichtlich mehr als der seiner konzeptiven Phantasie: deren allzeitige Präsenz war ihm sicher, die Erinnerung aber verließ ihn oft schon nach Stunden. Seine Vergeßlichkeit für das eigene Werk ist zuweilen hocherstaunlich: in »Friede« blickt er zweimal auf Szenen im zuvor geschriebenen »Silbernen Löwen« zurück, die in dieser Gestalt dort nirgends zu finden sind (3); im »Mir von Dschinnistan« erhält der »Urgaul« im Abstand von nur etwa einem Dutzend MS-Seiten zwei verschiedene Namen (4); selbst eine so zentrale Gestalt wie der Mörder Santer erscheint am Ende in »Winnetou IV« permanent in falscher Schreibung: - die Beispiele ließen sich beliebig vermehren. Solche Durchlässigkeit des Gedächtnisses läßt jedoch nur einmal mehr die starke Suspension der Bewußtseinskontrolle während der Arbeit


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erkennen: man darf sagen, daß Schreiben für May grundsätzlich, in selten totalem Grad, die Abfuhr von Innen-Konflikten bedeutete; waren diese, die sich immer neu gebärenden »ausgetragen«, so durften, ja mußten sie für einige Zeit »vergessen« sein. Diese Abfuhr, zu der gedämpftes Bewußtsein wie eine Bedingung gehörte, gedieh natürlich nie zur wirklichen Erledigung: die schubartige Wiederkehr ihrer Notwendigkeit bewirkte so Mays eigentliche, stupende Produktivität. Auch die Wiederkehr des Ähnlichen in der Motivik gehört hierher: sie zeigt schon an der Oberfläche den Zwangscharakter des Zeremoniells. Mays schöpferische Arbeit bestand nicht in der Komposition von mit höchster geistiger Anstrengung und Geduld erarbeiteten Mikrodetails, sondern in der Kanalisierung ausbrechenden, strukturell vordeterminierten Innen-Materials. Dem entspricht die panische Hast und Fahrigkeit, die gerade in seinen größten Entwürfen fühlbar wird, ja manchmal geradezu ein Bewußtsein der Ohnmacht vor dem eigenen, übermächtig gewordenen Werk. (5) Die im Alter hundertfach wiederholte Formel vom Skizzen-Charakter seiner Arbeiten ist zuletzt nur ein Versuch, der Erfahrung seines Produzierens theoretisch beizukommen; es änderte sich, auch im Alter, nie. Seine »inspiration«, ihm selber rätselhaft und zahlreicher Ersatzerklärungen bedürftig, trat schub-, ja anfallartig auf. Ich skizziere. Damit ist Alles gesagt. Ich schreibe oft monatelang kein einziges Wort. Dann sind plötzlich in einer einzigen Nacht wohl über hundert Seiten fertig geworden. Man hat das Lüge genannt; es ist aber wahr! Es ist ohne allen Zweifel wahr, und lägen solche Zeugnisse nicht in Fülle vor, so dürften wir den Tatbestand vermuten. Das Empfinden der Ohnmacht vor dem eigenen Werk kehrt bezeichnend wieder auch in der Beteuerung seiner Unantastbarkeit: An diesen Seiten ändere ich nichts; sie werden auch nicht von dem Concepte ins Reine geschrieben. Ich schicke sie früh fort, und wie die Zeilen aus der Feder kamen, so werden sie gesetzt und gedruckt. Änderungen dulde ich nicht! (6) Und noch in den Sätzen der Selbstbiographie über seinen Stil, in denen er seine Texte nun nicht mehr aus der Feder, sondern ganz schlicht und richtig aus der Seele kommen sieht, ohne sogenannte künstlerische Form, geordnet nur nach Bedarf oder nach der Stimmung, in der ich schreibe, muß in aller apodiktischen Starrheit die Schutzformel stehen: Ich verändere nie, und ich feile nie. (7) Äußerungen dieser Art finden sich in den späten Niederschriften so


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zahlreich, daß sie Mays »Bearbeitern« hätten zu denken geben müssen (falls ihnen überhaupt etwas zu »denken« geben könnte), und wir werden sie schon darum einmal zusammenzutragen haben, um die Barbarei der Textveränderungen nach Mays Tode sichtbar zu machen. Ich habe meinem Geiste und meiner Seele ein irdisches Gewand gegeben, Roman genannt ... Dieses Gewand ist der einzige Körper, in dem es meinem inneren Menschen »möglich ist, mit »meinen Lesern zu reden, sich ihnen sicht- und hörbar zu machen. Es darf kein Wort, keine Zeile daran geändert werden. Jede kleine Änderung, sogar die allerkleinste, bedeutet eine Wunde; jede größere aber macht ihn gar zum Krüppel ... (8) Die Scheu, das nach außen gebrachte Material nachträglich anzutasten, gehorcht derselben Kraft, die seine tarnende Entstellung bewirkte: nur was durch eine vom Bewußtsein geleitete Revision im Innersten gefährdet würde, beugt sich so strengem Verbot. Tiefste Unter-Mächte bewegten Mays Phantasie und Produktion; und wie ihre Personifizierungen ihm während der Arbeit gleichsam entgegenkamen und zu realen Gestalten wurden, mit denen er »lebte« (so weit, daß sie am Ende alle »er selbst« wurden Derivate seines Ichs), - in gleicher Weise kam auch er selbst ihnen »nach unten« entgegen, tauchte ein in jenen dämmrigen Zwischenbezirk, in dem das Ich die schwere Vermittlungsarbeit zwischen den psychischen Instanzen und der Außenwelt zu leisten hat. Man ist bei May dauernd genötigt, zu extremen Formulierungen zu greifen, so auch hier: die Mechanik seiner schöpferischen Arbeit gehört zu den allererstaunlichsten Phänomenen, und Heinz Stolte hatte recht, als er feststellte, daß sie »der Literaturpsychologie geradezu den großen, klassischen Fall« liefere. (9)

   Der hochneurotische Charakter von Mays Leben und Werk ist befähigten Beobachtern nicht verborgen geblieben. In einer Besprechung der Selbstbiographie erklärte schon 1910 der Anthropologe Friedrich Krauss, sie sei »für den Psychoanalytiker ... ein kostbares Geschenk: Ohne es selber zu merken, entwirft May von sich ein ganz vortrefflich anschauliches Bild eines schwer belasteten Neurotikers, der seine durch eine verpfuschte Jugend krankhaft gesteigerte Sexualität endlich zu einem religiös mystischen Edelmenschentum sublimiert hat ...« (10) Der Psychotherapeut Richard Engel schloß auf »schwere Hysterie« (11), ebenso Otto Forst-Battaglia (12); beide irrten nur in der Diagnose, in der Rich-


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tung nicht. Die Vorsicht, die noch Stolte ganz allgemein vom »psychopathischen Traumgänger« May sprechen ließ (13), darf dem Wagnis des exakteren Urteils weichen, wenn man es unternimmt, nicht nur die Selbstdarstellung, sondern auch das gesamte, vor allem das späte Werk Mays psychoanalytisch zu untersuchen. Hier mag instinktive Skepsis uns widersprechen, und wir wollen ihr einstweilen nichts anderes entgegenhalten als die Tatsache, daß eine solche Verfahrensweise vor allem Mays eigenen Wünschen entspräche. Psychologie war das Lieblingswort seiner späten Jahre (in welch bedeutendem Sinn auch da, wo es wie bloßer Schall anmutet, gerade durch seine unablässige Wiederholung, werden wir noch sehen); von ihr, die ihm als tiefste aller Wissenschaften galt, erwartete er das Verständnis, das seinem wunderlichen Werk von der seßhaften Kritik verweigert wurde; daß seine Bücher auf psychologischer Grundlage beruhen, sprach er noch eine Woche vor seinem Tode im Interview wie eine Ermahnung aus. Wenn er selber die exotischen Schauplätze seiner Erzählungen als den Boden begriff, in den ich meine inneren Erlebnisse verpflanzen konnte (14), so dürfte dies wohl Berechtigung genug sein, sie einmal mit ganz anderen Augen aufzusuchen, und für die Mühseligkeit des Weges mögen am Ende die Erkenntnisse, die wir zu gewinnen hoffen, volle Entschädigung bieten.




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»Hast du die Liebe?«
Warum tat ich grad diese Frage?
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   Überblicken wir Mays Lebensgeschichte in allen ihren Zeugnissen - die Kindheit mit ihrem inneren und äußeren Elend - das Scheitern der frühen Versuche, in der feindlichen Realität eine gesicherte Existenz zu finden - den Sturz in den Abgrund von Schuld und Strafe - die lange, immer wunderbar anmutende Rekonvaleszenz - den jähen Aufstieg zu Ruhm und Souveränität - den rätselhaften Zusammenbruch während der Orientreise, der seine Persönlichkeit wie auch sein Werk vollkommen veränderte - die mystische Existenz seiner letzten Jahre schließlich - , so erkennen wir die Schicksale einer schweren Narzißtischen Affektion, und zwar in so reiner, modellhafter Ausprägung, daß wir uns über die Hysterie Diagnose früherer Beurteiler nur wundern


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und sie leicht als rein phraseologisch beiseite legen können. Wir sind uns bewußt, wie wenig der bloße Begriff, als These an den Anfang unserer Untersuchungen gestellt, dem Laien zu sagen vermag, und wenn wir im folgenden einen ganz knappen Umriß des Krankheitsmechanismus geben, so kann dieser nicht die Verpflichtung ersparen, aus der Literatur die profundere Kenntnis zu erwerben. Bei einem so komplexen, riesig angewachsenen wissenschaftlichen Gebiet wie der Psychoanalyse sind Darstellungen für den Laien fast eine Unmöglichkeit; allein die Definitionen der Terminologie würden einen Umfang fordern, der unserer Studie versagt ist. Daß wir es trotzdem versuchen, geschieht in der Erwartung, daß die Befunde, die wir anschließend in das theoretische Modell einzutragen haben, auch dem Nicht-Fachmann konkret genug sein werden, um Teilnahme und Verständnis zu entbinden.

   Der Begriff »Narzißmus«, von P. Näcke für klinische Bilder des Autoerotismus im gleichen Jahr eingeführt, in dem Karl Mays großer Charakterzusammenbruch erfolgte (1899), wurde von Freud 1914 für die Psychoanalyse umfassend definiert (16) und später vor allem von Wilhelm Reich für die therapeutische Praxis interpretiert. (17) Er umfaßt eine neurotische Erkrankung, in deren Ursachen-Zentrum bedingungsmäßig eine schwere Liebesversagung durch die wichtigste Bezugsperson (beim Knaben durch die Mutter) steht, eine Versagung, die die Ich-Entwicklung des Kindes entscheidend verändert. Mechanistisch ist dies folgendermaßen vorstellbar: Zu einem bestimmten Zeitpunkt beginnt das Kind, aus dem Reservoir seines Ichs gewisse Libido-Quantitäten an die Außenwelt abzugeben, mit ihnen »Objekte zu besetzen«, vorab dasjenige Objekt, an das es durch Nahrungs- und Pflege-Abhängigkeit gebunden ist. Die vorübergehende Verarmung, die durch solche Libido-Aussendung in der Ich-Substanz entsteht, wird alsbald ausgeglichen durch eine erwidernde Libido-Abgabe seitens des Objekts, und es entsteht ein affektives Wechselspiel, das zur Grundlage der Umweltseinordnung und der sozialen Bewegungs- und Leistungsfähigkeit wird: - wir fassen es in dem schlichten Begriff »Liebesfähigkeit« zusammen. Wird dieses Wechselspiel nun jedoch dadurch gestört, daß die Bezugsperson die vom Kind ihr zugesandte Libido unerwidert und unbeachtet läßt, so tritt eine katastrophale Folge ein: das Ich nimmt seine echolosen Besetzungsversuche als eine Kette von Substanzverarmungen wahr, und


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es bildet sich schließlich die unbewußte »seelische Erfahrung« heraus, daß Libido-Abgabe grundsätzlich gleich Ich-Verlust sei. Folgerichtig beginnt das Kind seine Objektbesetzungen, dem ökonomischen Prinzip zufolge, einzuschränken, und zwar desto mehr, je umfassender die Verlusterfahrung war; es entsteht eine zunehmende Besetzungsunfähigkeit, die im Extremfall zum völligen Erlöschen des Liebesvermögens führt. Nun findet die Umwandlung von Ich-Libido in Objekt-Libido aber nach wie vor im Ich statt, und damit ergibt sich für dieses die Notwendigkeit, gleichsam ein Ersatzziel zu finden, das den Triebansprüchen genügt. Dieses Ersatzobjekt wird das Ich selbst, und zwar, da es durch die Grundschädigung traumatisch geschwächt ist, in psychisch erhöhter, gleichsam veredelter Gestalt, der des sogenannten Ich-Ideals. Seine Ausbildung setzt im 4. bis 5. Lebensjahr mit der - dem Narzißten nicht vollständig gelingenden - Überwindung des Ödipuskomplexes ein und tritt dessen Erbschaft als Über-Ich in zentralen Identifizierungen an; beim Knaben übernimmt es in der Regel die Züge des Vater-Feindes, der im Ödipus die äußere Triebeinschränkung bewirkte: indem es ihm ähnlich wird, eignet es sich seine Macht gleichsam an und neutralisiert so ihre Gegnerschaft. Die früher vollzogene Anlehnungs-Identifizierung mit der Mutter dagegen, die durch die Liebesversagung in Haß umschlug und in der Kompromißbildung der Ambivalenz aufging, muß fortan als höchste Gefahr für das Ich verdrängt werden und bedingt sämtliche Reaktionsbildungen des narzißtischen Charakters.

   Unter Charakter verstehen wir im Sinne Freuds und Reichs eine Schutzpanzerung des Ichs (»Reizschutzapparat«), die der durch traumatische Fixierung geschwächten Instanz ermöglicht, ihrer schon erwähnten Vermittlerrolle zu genügen. Der gesunde Mensch entwickelt hinreichend Ich-Kraft, um die Realitätsanpassung und Beherrschung seiner Triebtendenzen zu vollbringen; beim Neurotiker hat diese Ich-Kraft eine frühe Entwicklungshemmung erfahren, so daß ein übermächtiger Konflikt zwischen konträren Strebungen entstand. Ausdruck dieses Konflikts sind die neurotischen Symptome; ihre Reaktionsbasis ist der Charakter. Dieser faßt die Verdrängungsnotwendigkeiten des Ichs sozusagen in einem Ritual zusammen: er stellt eine Summe von automatisch ablaufenden Reaktionsweisen dar, in der die flexiblen Abwehrleistungen gleichsam erstarren und die so eine Verdrängungs-


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aufwand ersparende Schutzrüstung bildet. Beim narzißtischen Neurotiker gilt sie vorab der drohenden Wiederkehr der einstigen Liebesversagung, d. h. einer Regression auf die anale Stufe der Kindheit, auf der die Auslieferung des Ichs an die Mutter zum Sturz ins Nichts geworden war. Wir können die vielfältigen Züge des narzißtischen Charakters hier nicht aufführen und dürfen auf Reichs Übersicht verweisen (18); der unterrichtete Leser aber mag vielleicht schon aus diesem sehr vereinfachenden Rahmenmodell erkennen, welcher zentrale Konflikt uns nicht nur das Lebensverhalten Karl Mays, sondern auch ein Werk erklären und verstehen lehren wird, in dem er, immer wiederkehrend, seine Bewältigung erfuhr.

   Rudolf Kurtz begriff 1910 »die ungeheure Festigkeit eines Individuums kaum, das nach schrecklichen Martern lichte, von keinem bitteren Wort entstellte Bücher schreiben konnte«. (19) Wir werden diese Kraft kennenlernen; wir werden aber auch einiges über die Martern erfahren, von denen Kurtz nur die Oberfläche sah. Liebe war das Achsenwort, um das Mays ganzes Spätwerk sich bewegte: dieses Wort resümiert ».meine philosophische und künstlerische Weltanschauung. (20) So inbrünstig, so über alle kalte Wirklichkeit hinweg, so in die höchste Illusion hinauf, wie er es tat, konnte nur einer nach ihr verlangen, den es lebenslänglich vergebens nach ihr verlangt hatte. Ich wünsche, daß die Menschheit sich lieben lerne! (21) hieß noch im Wiener Interview ein Satz. Daß sie  i h n  lieben lerne, war sein heimlichster, letzter Sinn.




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»Welch eine schwere, fremdartige und mir fast unbegreifliche Aufgabe haben Sie sich da gestellt!«

   Er schüttelte den Kopf und erwiderte lächelnd: »Nicht unbegreiflich, sondern die einzig richtige und allein erklärliche ist sie für einen Jeden, der die Krankheit kennt, um welche es sich handelt ...« (22)

   Die eine große Liebesversagung durch die Mutter, das frühe, alles entscheidende Trauma in Mays so schadenreichem Leben, hat unleugbar stattgefunden: der riesige Symptomenkreis läßt daran keinen Zweifel. Die Frage stellt sich nun, ob es gelingen kann, auch über seine Qualität zu einer präzisierenden, eingrenzenden Vorstellung zu kommen, ob es


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überhaupt möglich ist, in der Finsternis von Mays frühester Kindheit auch nur den Umriß von Vorgängen und Ereignissen zu erkennen. Eine Ambition, Mays neurotische Konflikte bis auf den Grund aufzuklären, kann naturgemäß nicht bestehen. Der Sinn der Analyse des lebenden Patienten, die Therapie, weicht bei der historischen Persönlichkeit dem Interesse, die erbrachte Kulturleistung und ihre Eigenartigkeit zu erklären und psychosystematisch erkennen zu lernen. So sind auch Teilaspekte wertvoll; die Totalität, für den Heilerfolg Bedingung, muß nicht mehr gefordert werden. Dies macht aber wiederum den Versuch erst möglich, der andernfalls bereits aus theoretischer Skepsis resignieren müßte. Denn Gewißheit ist in keinem Fall zu erreichen; der einzige Beweis in der therapeutischen Analyse, das Verschwinden der Symptome, entfällt. Wenn also jede Erklärung zwangsläufig Hypothese bleibt und sich entsprechende Beschränkung auferlegen muß, so ist doch ohne Zweifel die hypothetische Bearbeitung sinnvoll auch da, wo es nicht gelingt, in die untersten traumatischen Gründe eines Seelenbildes vorzudringen.

   Für die ersten vier Kindheitsjahre Mays sind wir ausschließlich auf die Selbstbiographie angewiesen. Ihre äußeren Daten sind weitgehend nachprüfbar; wo sie Inneres berichtet, wird man sie entsprechend mit innerer Logik messen. Wir werden jedoch nicht annehmen, daß May, bei aller inbrünstigen Absicht, das so bizarre Muster seines Lebensganges von innen her zu erhellen, imstande gewesen sei, eine bewußtseinsgeklärte Auskunft über dessen dunkelste Stelle zu geben. Im Gegenteil, wäre eine solche Auskunft vorhanden, so müßten wir an ihrem Schlüsselwert zweifeln: Mays Bewußtsein hat den Zugang zu seinem Geheimnis nie gefunden, das sonst nicht virulent geblieben wäre. Wenn der Entschluß, sein Leben ohne Rückhalt darzustellen, für das Unbewußte gleichsam eine starke Versuchung, ja Nötigung brachte, das entscheidende Material nach außen zu tragen, so konnte dies nur in riesiger Entstellung geschehen, in einer Verformung, in der das Trauma dem Unterdruck wie seinem Selbsterhaltungsgebot zugleich Genüge tat. Alle direkten Bezüge müßten in einer solchen Äußerung unkenntlich gemacht, Zeit und Ort verändert, Worte von Doppelbedeutung vollkommen abgeschirmt sein - kurz, die »Urszene« , nach der wir suchen, könnte, wenn sie je zur Sprache kam, nur in einer vollkomme-


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nen Deckerinnerung Unterkunft gefunden haben. Dies erweitert die Untersuchungsfläche bedeutend, und wir haben vor allem jene Berichterstattung beizuziehen, die seelische Zustände direkt zum Thema hat: in ihrem Kontext dürfte eine besonders hohe Anziehung für Signale des Unbewußten vermutet werden. Wenn es gelänge, ein Textfeld zu finden, das den Bedingungen des in seinem Grundsinn zweifelsfrei feststehenden Traumas voll entspräche und zugleich alle Merkmale starker Entstellung aufwiese, so dürften wir sicher sein, aus ihm wertvolle Auskünfte über Mays frühe seelische Erkrankung zu gewinnen.

   Das Bild, das May in der Selbstbiographie von seiner Mutter gibt (23), ist ohne auch nur den Schatten eines Makels, eines Widerstands, einer Kritik. Aber gerade dieser stumme Glanz, der den Flecken nicht duldet, ist das Fluidum der psychischen Kanonisierung, einer Erhöhung ins Irreale, deren Kraft in solchem Ausmaß nur der Verdrängungszwang verschafft. Eine Märtyrerin, eine Heilige ... ein Segen für jeden ... - man bedarf keiner eigens tiefen Einsicht in die Neurosen-Ätiologie des europäischen Kulturkreises, um genötigt zu sein, ein solches Mutterbild als völlig unwirklich zu verwerfen. Wir tun dies bei May gegen den Widerstand einer Überredungskraft, der wir uns nur entziehen können, indem wir sie selbst als zwanghafte Zutat dem Mutterbild entziehen. Nie, niemals habe ich ein ungutes Wort aus ihrem Mund gehört ... - kann ein solcher Satz anderes sein als eine maßlose Hyperbel? Oder, konkreter, ganz konkret: Hat May wirklich nie ein »ungutes« Wort aus ihrem Mund gehört? (24)

   Er hat aus ihrem Mund ein durchaus furchtbares Wort gehört, eine Kette furchtbarer Worte, und er hat sie selber überliefert, hat die ganze Entsetzensszene ausgeschrieben, die sein Leben krank machte und liebesarm und die zugleich seine geniale Unerschöpflichkeit begründete. Sie steht im Zentrum jenes Abschnitts der Selbstbiographie, der durch seine grell herausspringende Schilderungsgewalt, sein mächtiges, an keiner Stelle sonst so hoch wieder ausbrechendes Crescendo immer fasziniert hat: in der Beschreibung jener Spaltungserscheinungen, in deren Metaphorik May die Ursache seiner Straftaten zu begreifen suchte und in denen er deren wirkliche, unterste Ur-Sache mit preisgab.


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   Der Morgen graute. Ich ging den Leichenweg hinab, über den Markt hinüber und öffnete leise die Tür unsers Hauses, stieg ebenso leise die Treppe hinauf nach der Wohnstube und setzte mich dort an den Tisch. Das tat ich ohne Absicht, ohne Willen, wie eine Puppe, die man am Faden zieht. Nach einiger Zeit öffnete sich die Schlafkammertür. Mutter trat heraus. Sie pflegte sehr zeitig aufzustehen, ihres Berufes wegen. Als sie mich sah, erschrak sie. Sie zog die Kammertür schnell hinter sich zu und sagte aufgeregt, aber leise:

   »Um Gotteswillen! Du? Hat jemand dich kommen sehen?«

   »Nein«, antwortete ich.

   »Wie siehst du aus! Schnell wieder fort, fort, fort! Nach Amerika hinüber! Daß man dich nicht erwischt! Wenn man dich wieder einsperrt, das überlebe ich nicht!«

   »Fort? Warum?« fragte ich.

   »Was hast du getan; was hast du getan! Dieses Feuer, dieses Feuer!«

   »Was ist es mit dem Feuer?«

   »Man hat dich gesehen! Im Steinbruch - - im Walde - - auf dem Felde - - und gestern auch bei dem Haus, bevor es niederbrannte!«

   Das war ja entsetzlich, geradezu entsetzlich!

   »Mut - - ter! Mut - - ter!« stotterte ich. »Glaubst Du etwa, daß - - -«

   »Ja, ich glaube es; ich muß es glauben, und Vater auch,« unterbrach sie mich. »Alle Leute sagen es!«

   Sie stieß das hastig hervor. Sie weinte nicht, und sie jammerte nicht; sie war so stark im Tragen innerer Lasten. Sie fuhr in demselben Atem fort:

   »Um Gottes willen, laß dich nicht erwischen, vor allen Dingen nicht hier bei uns im Hause! Geh, geh! Ehe die Leute aufstehen und dich sehen! Ich darf nicht sagen, daß du hier warst; ich darf nicht wissen, wo du bist; ich darf dich nicht länger sehen! Geh also, geh! Wenn es verjährt ist, kommst du wieder!«

   Sie huschte wieder in die Kammer hinaus, ohne mich berührt zu haben und ohne auf ein ferneres Wort von mir zu warten. Ich war allein


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und griff mir mit beiden Händen nach dem Kopfe. Ich fühlte da ganz deutlich die dicke Lehm- und Häckselschicht. Dieser Mensch, der da stand, war doch nicht etwa ich? An den die eigene Mutter nicht mehr glaubte? Wer war der Kerl, der in seiner schmutzigen, verknitterten Kleidung aussah, wie ein Vagabund? Hinaus mit ihm, hinaus! Fort, fort! ... (26)

   Was an dieser Szene vor allem auffällt, ist ihr dramatischer Charakter, ja wir dürfen sagen: ihre Dramatisierung. Denn hier reißt die zuvor breit strömende, von freilich zunehmender agogischer Unruhe gesteigerte Berichterstattung jäh in Dialog auf - einem Stilisierungsmittel, das in Mays »Leben und Streben« nur an ganz raren, meist hochbrisanten Stellen Verwendung findet. Der Mörtel, der einen Riß im Grundgemäuer schließen sollte, wird zu ornamentalen Stukkaturen aufgeputzt. Wir müssen nicht ausführen, warum wir darunter eine besonders brüchige Stelle vermuten - warum solche überpräzisierte Erinnerung uns die Schmuckbedürftigkeit der Wahrheit beweist und unser Mißtrauen weckt, erst recht wenn May wenige Zeilen später auf die selbstgestellte Frage, wohin er nach dieser Szene gegangen sei, die Antwort gibt: Die Erinnerung läßt mich im Stich. Erkennen wir also bereits in den Stilmitteln das Wirken einer Entstellungskraft, so wird es nicht müßig sein, direkt nach dem äußeren und inneren Wahrheitsgehalt der Szene zu fragen. Hat sie in dem Zeitraum, in den May sie verlegt (27), stattgefunden, - ist es auch nur wahrscheinlich, daß sie so stattgefunden hat? Der Hinweis auf die Tatsache, daß nach allen erhaltenen Dokumenten May niemals eine Brandstiftung zur Last gelegt worden ist, mag insofern nebensächlich sein, als er selbst die von ihm berichtete Anschuldigung wenig später als Irrtum wieder tilgt (und bezeichnenderweise wiederum in einem Dialogmuster (28)). Aber auch sonst gelingt es nirgends, einen Hinweis darauf zu finden, daß in dem hier behandelten Halbjahr in einem oberhalb der Stadt Hohenstein-Ernstthal gelegenen nächsten Dorf überhaupt ein Haus gebrannt habe. (29) Wir wären also nicht imstande, den Beweis für Mays Darstellung anzutreten. Viel gewichtiger aber bleibt die Frage, ob sie innere Wahrscheinlichkeit besitzt. Können wir die Reaktion der Frau, die ihrem Sohn weniger glaubt als dem, was alle Leute sagen, die ihn fort, fort, fort stößt um eines unbewiesenen Verdachtes willen, die ihn nicht länger


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sehen darf (darf?), die kein Wort der Erklärung abwartet und keinerlei Abschiedsgeste findet, - können wir diese Reaktion mit dem Mutterbild vereinbaren, das May vor uns aufgerichtet hat? Fort? Warum? Ja, warum eigentlich, um Gottes willen? Warum ein viermaliges Geh! und ein dreimaliges Fort! aus diesem Munde, der doch nie ein ungutes Wort gesprochen haben sollte? Wir zögern nicht, den Schluß zu ziehen, daß wir in dieser Szene und ihrem gesamten Prodromos eine dicht geschlossene Deckerinnerung vor uns haben, deren innere Wahrheit ganz anderswo zu suchen ist, zu ganz anderer Zeit und unter ganz anderen Umständen.

   Denn daß sie »wahr« ist, daß die Mutter ihrem Sohn in einem entscheidenden Lebensabschnitt ihre Liebe versagte, unterliegt keinem Zweifel: Mays ganzes Leben und Werk wurde der Beweis. Die Katastrophe hat stattgefunden; doch der Mensch, der sie erlitt, an den die eigene Mutter nicht mehr glaubte, war ein Kind von noch nicht vier Jahren. Wir sind uns natürlich bewußt, daß eine solche These beweisbar höchstens durch ihre Eignung sein kann, große Zusammenhänge zu erschließen und neues, widerspruchsfreies Verständnis zu schaffen. Gleichwohl mag eine winzige Fehlleistung Mays auch als direkte Stütze anerkannt werden. Es heißt da von der Mutter, daß sie sehr zeitig aufzustehen pflegte, ihres Berufes wegen. Aber in der Zeit, in die May die Szene stellte und entstellte, 1868/69, war die Mutter längst Hebamme in Ernstthal, und das ist nicht unbedingt ein Beruf, zu dem man grundsätzlich im Morgengrauen aufzustehen hat. Wohl aber muß man es tun, wenn man den Beruf hat, neben einem versagenden Mann unendlich fleißig zu sein (30) und eine Familie von vier Erwachsenen und drei Kindern, eins davon blind, nicht nur zu versorgen, sondern auch mit zu ernähren. Dies war vor dem März 1846 der Fall. Und noch ein weiteres Indiz wird uns von der genauen Beobachtung erschlossen. Wer in Ernstthal den Leichenweg hinab (31) kam, mußte nicht über den Markt hinüber gehen, um in das Haus neben der Kirche St. Trinitatis zu gelangen, in dem die Familie May seit dem April 1845 wohnte; er mußte es aber tun, wenn es ihn weiter geradeaus in die Niedergasse zog, auf das Haus zu, in dem May geboren wurde und seine frühe Kindheit verbrachte. Diese Indizien sind nicht überzubewerten. Aber sie erlauben den Hinweis, daß auch in den Zeit- und Ortsbestimmungen


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der Szene ganz schattenhaft die Kindheit sichtbar wird, in die uns der innere Mechanismus verweist.

   Das Kind auch, das blinde Kind, werden wir eher als den Erwachsenen in dem Wesen wiedererkennen, das ohne Absicht, ohne Willen, wie eine Puppe, die man am Faden zieht, in die furchtbare Szene hineingeraten ist. Die Verwandlung, die Rückbildung in die infantile Erkenntnis- und Verständnislosigkeit, ist bereits im unmittelbar vorangegangenen Abschnitt zu erkennen. Da ist in May plötzlich alles erloschen. Ich war dumm, vollständig dumm. Mein Kopf war wie von einer dicken Schicht von Lehm und Häcksel umhüllt. Ich fand keinen Gedanken. Ich suchte auch gar nicht danach. Ich wankte beim Gehen. Ich lief irr. Ich torkelte ... lehnte mich an die Mauer ... weinte ... (32) Und an dieser Stelle des kindlichen Weinens dringt die stärkste Erinnerung der Hilflosigkeit wie von selbst mit ein: die Tränen schienen meine Augen zu reinigen und zu stärken ... - was für Augen? Die kranken, blinden Augen eines Kindes, dessen Erinnerung nun, »zu Hause« angekommen, nichts mehr sah, sondern nur noch  h ö r t e.




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Es ist unmöglich, die Stimmung zu beschreiben, in welcher ich mich jetzt befand. Über uns der mit einem nicht eigentlich sicht- aber doch wahrnehmbaren Schleier bedeckte Himmel, an welchem nur die Sterne bis mit vierter Größe zu sehen waren, um uns die im unzureichenden Schein dieser Sterne liegende Wüste mit ihrer geheimnisvollen Verschwiegenheit, vor uns der rätselhafte Mann, der für das Diesseits blind war, aber für das Jenseits sehend zu sein behauptete, und in uns die Ahnung der Enthüllung und Beleuchtung einer bisher unerforschten Dunkelheit! (33)

   Wir haben hier kurz auf Mays frühes Augenleiden einzugehen. Was wir darüber wissen, ist wenig, doch reicht es aus, ein Bild zu gewinnen. Ich war weder blind geboren noch mit irgendeinem vererbten, körperlichen Fehler behaftet... Daß ich kurz nach der Geburt sehr schwer erkrankte, das Augenlicht verlor und volle vier Jahre siechte, war nicht Folge der Vererbung, sondern der rein örtlichen Verhältnisse, der Armut, des Unverstandes und der verderblichen Medikasterei, der ich zum Opfer fiel. (34) Es läßt sich denken, daß der Kampf ums Elendsdasein in


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den erzgebirgischen Dörfern für die heute selbstverständliche Säuglingshygiene nicht viel Zeit und Beachtung ließ. So könnte Karl May an der damals sehr häufigen Ophthalmia neonatorum erkrankt sein, einer Infektion, die am 3. oder 4. Tag nach der Geburt auftrat, bei falscher Behandlung sehr häufig über Hornhauttrübungen nach kürzester Zeit zum Verlust des Sehvermögens führte, jedoch im kindlichen Alter meist leicht heilbar war. Eine zweite Wahrscheinlichkeit böte die Ophthalmia pustularis (phlyktänuläre Ophthalmie), eine ebenfalls damals sehr häufige infektiöse, sehr hartnäckige Krankheit, die nach der ersten Zahnperiode entstand, sich in einem Bläschenausschlag der Bindehaut und der Hornhautränder zeigte und mit außerordentlich starker entzündlicher Schwellung, Tränenfluß, Wundwerden, Krustenbildung usw. verbunden war. Zu der auch über die Heilung hinaus bleibenden erhöhten Reizbarkeit und Empfindlichkeit bei diesem Krankheitsbild paßt, daß Mays Augen bis ins Alter besonders anfällig waren: ihre tränende Verschleierung ist auf manchen Bildern deutlich zu erkennen (35), und noch George Grosz, der May im Herbst 1910 besuchte, notierte sich die Beobachtung: »Die Augen ... tränten in den Ecken, als seien sie in den Wind oder Zug gekommen ...« (36) Daß es sich bei Mays früher Blindheit um ein erworbenes Leiden des beschriebenen Typus gehandelt haben muß, geht aus der Art ihrer Heilung hervor. Die Mutter hatte sich bei ihrer Hebammenausbildung in Dresden das Wohlwollen der beiden Professoren Grenzer und Haase erworben und ihnen von mir, ihrem elenden, erblindeten und seelisch doch so regsamen Knaben erzählt. Sie war aufgefordert worden, mich nach Dresden zu bringen, um von den beiden Herren behandelt zu werden. Das geschah nun jetzt, und zwar mit ganz überraschendem Erfolge ... (37) Es ist mit Sicherheit anzunehmen, daß die Behandlung ohne operativen Eingriff erfolgte, auf rein diätetischem Wege: die beiden Ärzte waren Gynäkologen. Wir sind jedoch nicht genötigt, uns zwischen den angeführten Krankheitsbildern zu entscheiden; es genügt festzustellen, daß ihnen vor allem eines gemeinsam ist: eine starke, durch Schleim- und Eiterfluß abstoßende Entstellung der Augen. Wenn wir diese Vorstellung festhalten, so gelingt es uns vielleicht, in der großen Deckerinnerungsszene, in der wir den Ausbruch kindheitlichen traumatischen Materials vermuten, eine erste Grundschicht freizulegen.


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   Um Gotteswillen ... Wie siebst du aus! Schnell wieder fort, fort, fort ...!

   Das Elend in der Familie May war nach allem, was wir wissen, unbeschreiblich groß. Existenzangst, Armut, Entbehrung, deren Ausmaß die Grenze zu Mangelkrankheiten weit überschritt, - die Worte bleiben arm vor der Wirklichkeit. Von den vier Kindern, denen Karl May folgte, starb das erste nach knapp neun Monaten; das dritte wurde keine zwei Jahre alt, das vierte nur sechs Wochen; die sechs letzten Kinder starben sämtlich kurz nach der Geburt. Ist es da unwahrscheinlich, daß die Mutter nur voller Bedrückung auf den Sohn blicken konnte, der am Leben blieb, doch entstellt war und hilflos, und von dem sie glauben mußte, daß er's lebenslang bleiben würde, - ist es nicht sicher, daß sie das arme Wurm schnell wieder fort wünschte wie die anderen Kinder, die nicht lebensfähig gewesen waren, und immer wieder fort, fort, fort, und daß die von Blindheit umgebene, doppelt hellhörige Seele des Kindes solche aus Verzweiflung gepreßten Wünsche in sich widerhallen hörte - eines Tages vielleicht so wörtlich, wie die Deckszene sie ausschrieb - und daß sie darin entsetzlich, geradezu entsetzlich wirkten? »Wie häßlich diese beiden Kleinen sind!« So hörte über uns wie oft ich sagen ... (38) - steht noch in einem sibyllinischen Gedicht der »Himmelsgedanken«, deren psychische Funktion uns später noch zu beschäftigen hat: das andere Kind ist ersichtlich das Schwesterchen, das im Winter 1845/46, noch vor Mays Genesung, von den Blattern entstellt wurde. (39) Wir glauben, dieses frühe Entsetzen Mays aus der Szene ablesen zu dürfen, und werden nicht zögern, es zu dem elementaren Material zu fügen, das Wolf-Dieter Bach sichtbar gemacht hat. (40) Mutterschuld und Blindheit: diese beiden Erinnerungshülsen blieben für May zeitlebens miteinander verlötet: wo die eine auftaucht, ist die andere nie fern; und noch im späten »Ardistan und Dschinnistan«, wo er der auf der großen Reise gesehenen ägyptischen Kinder gedenkt, deren kranke Augen vollständig mit saugenden Fliegen bedeckt sind, beklagt er, daß es keiner Mutter einfällt, diese quälenden Insekten zu entfernen. Daher die vielen blinden Menschen dort! (41)

   Zu den Elementarschichten gehört auch das Feuer, das die ganze Szene einhüllt. Hartmut Kühne hat bereits auf die Häufigkeit des Motivs »Feuersbrunst« hingewiesen und sie in dem »starken Eindruck« begrün-


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det gesehen, den die Brandstiftungsbeschuldigung in May hinterlassen habe. (42) Wenn wir diese jedoch als kompliziert verschränkte Deckerinnerung begreifen, werden wir uns gerade beim Feuer-Motiv, das die ganze Deckung trägt, nicht mit der oberschichtigen Deutung begnügen, sondern gerade seine Deckungseignung zum Beweis seiner Doppelwertigkeit nehmen. Zwar brannte ein Haus; aber das Feuer war in mir. (43) Seine zwanghafte Wiederkehr im Werk zeigt auf traumatischen Ursprung, seine Vernietung mit der Urszene auf Zusammenhang mit dem Mutterbild. Der Analytiker sieht auf den ersten Blick, daß hier die ganze Problemphase des Ödipus-Konflikts imaginiert ist: seine seelische wie seine konkret somatische Motillität (und wir werden später noch mehrfach zu sehen haben, wie die Flamme aufwärts steigt, die ich entfacht mit frevlerischer Hand); auch seinen Untergang umfaßte die Deckungsmetaphorik anschaulich genug: Ich fiel in mir zusammen, wie das brennende Haus da drüben zusammenfiel, als die Flammen niedriger und niedriger wurden und endlich erloschen ... (44) Wenn wir die Untersuchung dieses großartigen Bilderkreises hier dennoch zurückstellen, so weniger, weil wir uns davor sorgen, im Laien-Leser, dessen Geduld uns bislang gefolgt ist, starke emotionelle Widerstände zu wecken, sondern weil sie bei diesem Motiv einen Umfang annehmen müßte, den wir ihr in dieser Rahmendarstellung nicht gewähren können. Es genüge, daß wir das Feuer der »heimlichen Liebe, von der niemand nichts weiß« inmitten der Urszene brennen sehen und uns für berechtigt halten dürfen, namentlich im Spätwerk, in dessen innerer Motorik diese Urszene das alles steuernde Kraftzentrum bildet und um dessen Interpretation willen wir sie untersuchen, seine Wiederkehr in derselben Umgebung zu erwarten.

   Zurückgestellt, übersprungen werden müssen auch noch weitere seelische Grundmaterialien, die in der Deckerinnerung zutage treten. Denn wir wollen nunmehr versuchen, deren innerste und tiefste Schicht freizulegen.


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   Unter den frühen Erzählungen Mays, den »Erzgebirgischen Dorfgeschichten«, findet sich eine, die in besonderem Maße autobiographische Züge trägt: »Des Kindes Ruf«. (46) Sie war dem Autor noch im Alter so wichtig, daß er sie als erste unter die vier Erzählungen nahm, die er für eine Neuausgabe auswählte. (47) Im Mittelpunkt steht ein Kind, der Fährmanns-Paul, und wir tragen nur rasch aus der Beschreibung einige Züge zusammen, um aufzuzeigen, daß wir hier eine der frühesten Abbildungen von Mays Ich und Ich-Ideal vor uns haben. Der Knabe, trotz niederdrückender Lebensumstände ein kleiner Goliath, ist gar hoch angesehen bei seinesgleichen ..., und was das beste war, er konnte so unbeschreiblich schön spielen und ersann immer neue Dinge, an die selbst der Herr Lehrer gar nie gedacht hätte. Darum war er der Hauptmann von der Löffelgarde... (48) Wir erkennen hier bereits ein erstes Hinübergleiten in das Bild des Vaters, einen ersten Widerglanz der Identifikation, durch die Mays Seele ihren Frieden mit der übermächtigen Feindesgestalt machte; der Vorgang wird uns weiter unten noch beschäftigen. Vater und Kind sind eine einzige psychische Person, die nur nachträglich wieder in zwei Gestalten gespalten wurde; entsprechend austauschbar ist die qualitative Besetzung. Denn wie das Kind Hauptmann ist und die Spielgefährten ganz so exerzieren läßt wie der Vater May den Sohn (Hier gab es keine Widerrede. Das war schon hundertmal so gewesen, und der Fährmanns Paul litt keinen Ungehorsam ...), so sitzt der Vater im Zuchthaus, in einem Schloß, welches jetzt als Landesstrafanstalt eingerichtet war (Osterstein und Waldheim), weil das Gericht eine »mehrjährige Freiheitsentziehung über ihn verhängt hatte. (49) So weit eine eindeutige Konstellation. Nun aber zu dem erstaunlichsten Bild dieser Familiengeschichte, dem der Mutter. Sie ist nichts geringeres als eine Furie: sie haßt ihr Kind und läßt es verkommen. Pauls Finger kleben vor Schmutz, an seinen Füßen ist der Schlamm gebacken, und in den Haaren hängt Heu und Stroh: - wenn wir noch beachten, daß dem Knaben auf den Tadel des Lehrers hin, die Mutter solle ihn reinlicher in die Schule schicken, die hellen Augen feucht werden und die Mutter zornig erwidert, der Lehrer möge ihn doch selber balsamieren, so er-


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kennen wir leicht das Widerbild der kranken Augen des Kindes May, denen die Mutter nicht die nötige Hygiene angedeihen ließ. Sie hat ihm ihre Liebe entzogen: »Hab keine Zeit für dich, du Strolch!« sagt sie, als das Kind ihr seinen Hunger klagt, in einem Ton, als habe ein fremdes Bettelkind sie angesprochen: »Geh' jetzt gleich hinaus; hier findest du keinen Raum . . du widerwärtiger Fink! Geh' fort; ich schäme mich, wenn ich dich nur seh'!« Was aber ist die eigentliche Schuld der Mutter? Sie ist ihrem Mann schon nach kurzer Ehe untreu geworden, und deshalb muß der im Gefängnis Sitzende sie hassen; sie hat einen Geliebten, den Reiterkurt (50), und der Knabe weiß es, er stand dabei und hat's vernommen: »Ich mag die Mutter nicht und auch den Reiterkurt nicht, welcher sie beim Kopfe faßt wie der Vater ...« Und da sitzt er denn einmal in seinem Gartenversteck und lauscht, wie die beiden sich unterhalten: »Er hat mich nicht mehr auf den Tanz gelassen«, sagt die Mutter zu ihrem Geliebten, »weil es sich für eine ordentliche Frau nicht schickt, mit jedem auf dem Saale herumzuschwenken, sagte er, und als ich ihn deshalb nicht mehr leiden konnte und dir gut geworden bin, da ist's vollends ganz aus gewesen.« Und das Kind erlauscht noch mehr: der Vater, sagt die Frau, »war ein armer Schlucker, der nichts besaß, als was er auf dem Leibe hatte; durch mich ist er reich geworden und so angesehen, daß er sogar mit in die große Aktiengesellschaft kam und das Geld verwalten durfte ... Nun hat er das Buch falsch gemacht und die Gesellschaft bestohlen und sitzt im Zuchthaus. Es ist ihm ganz recht; er mag nur immer sterben!« (51) Wir erkennen hier unschwer eine vergrößerte Spiegelung der Mutter-Erbschaft (das Haus in der Niedergasse und die einigen kleinen, leinenen Geldbeutel), die der Vater bei seinen fruchtlosen Berufsspekulationen vertat. (52) Im Zuchthaus sitzt er freilich unschuldig; der eigentliche Schuldige ist der Geliebte, die eigentliche Schuld die der Mutter. Aber der die Gesellschaft bestohlen hat, ist ja wieder May selbst: - ahnte er den Zusammenhang zwischen seinen Straftaten und der Ursache seines frühen Traumas?

   Wir halten hier nur den Kern der Erzählung fest, ohne sie weiter durchzuinterpretieren, und übergehen auch die hochinteressante metaphysische Lösung, die alles zum Guten wendet und dem schlimmen Mutterbild die wahre Mutterliebe in zweiter Gestalt beiordnet und so das Gleichgewicht der Ambivalenz erreicht, in die Mays verstörte


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Kindesseele sich rettete. Stattdessen werfen wir, zur weiteren Untermauerung, noch einen kurzen Blick in eine Erzählung, in der May die Lebensrettung eines Kindes, das sich mit einer vergifteten Waffe verwundet hatte (53), zum Thema nahm. Es ist dies die Erzählung, die er sonderbarerweise und aus nur psychisch erfindlichen Gründen »Ein Rätsel« genannt hat: da soll eine Mutter ihr Kind wieder haben (54) (soll ein Kind seine Mutter wieder haben?), und Kara Ben Nemsi kann (muß!) dies zuwege bringen. Der Plan ist May zerbrochen; aber noch in den Trümmern wird mannigfaltiger Innen-Sinn erkennbar. Wir setzen die Kenntnis voraus und trauen auch der Fähigkeit des Lesers, die unbewußten Signal-Informationen des Textes selber zu entschlüsseln (55); nur auf eine einzige sei hier hingewiesen. Als das Kind aus der lichtlosen Gefangenschaft, in die es durch nichts als die Schuld der Eltern geriet, befreit und gerettet ist, bekommt die Mutter einen Verweis zu hören, in dem völlig unvermittelt höchste Aggressivität durchschlägt und zu dem May rätselhaft genug vermerkt, daß er in einem ganz andern Sinne zu nehmen sei ... Sie hat ihren wahren Stand und Namen verleugnet, hat ihren Mann als einen Anderen ausgegeben: - hat sie als ihren Mann einen Anderen ausgegeben?! Sie darf sich jedenfalls nicht wundern, wenn »er« seine Hand von ihr abzieht ... (56) Auch wir wundern uns nicht und kehren mit dieser Information und der vom Knaben Paul erlauschten nun zur Urszene zurück, um sie selber mit geschärftem Gehör erneut zu belauschen.




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Das war in jener fürchterlichen Stunde,
In welcher mir in meiner tiefsten Nacht
Der erste Sonnenstrahl die Schreckenskunde
Von                                    gebracht.
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   »Um Gottes willen, laß dich nicht erwischen, vor allen Dingen nicht hier bei uns im Hause! Geh, geh! Ehe die Leute aufstehen und dich sehen! Ich darf nicht sagen, daß du hier warst; ich darf nicht wissen, wo du bist; ich darf dich nicht länger sehen! Geh also, geh! ... Aber wer


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spricht denn hier eigentlich? Wer spricht - entgegen aller Erwartung, wie wir bei Kenntnis von Mays Mutterdarstellung sagen dürfen - solche Worte? Und vor allem: wer spricht sie - im Morgengrauen, bei sich öffnender Kammertür, sehr zeitig aufgestanden - zu wem? Wir wollen es ohne Umschweife sagen: Hier spricht nicht eine Mutter zu ihrem Kind, hier spricht eine Frau zu ihrem Geliebten, und ein Kind hat die Worte - und wohl auch noch anderes als die Worte - der Verabschiedung an der Kammertür erlauscht.

   Wir müssen es dem Leser, dem sein Über-Ich hier einen starken emotionellen Protest befiehlt, selber überlassen, damit fertig zu werden, und getrauen uns zu behaupten, daß die Mutter Christiane Wilhelmine May um die Zeit 1844/45 einen Geliebten gehabt hat, dem sie ihre Liebe schenkte, - und daß das Kind Karl in einem ganz bestimmten, ganz konkreten Augenblick »mit eigenen Ohren« erfuhr, daß die Liebe der einzig geliebten Person nicht ihm allein gehörte. In diesem Augenblick zuckten die Tentakeln der kindlichen Objekt-Libido endgültig ins eigene Ich zurück; in diesem für ein ganzes Leben entscheidenden Augenblick ist Karl Mays Liebesfähigkeit zusammengebrochen. Wir möchten nicht unterlassen, aus den zahllosen Spiegelungen im Werk, die uns bei künftigen Interpretationen immer wieder beschäftigen werden, noch eine, wie uns scheint sehr gewichtige herauszugreifen. Sie findet sich in der Selbstbiographie an der Stelle, die mit den wahrhaft lapidaren Worten beginnt: Und nun zu der Person, die in seelischer Beziehung den tiefsten und größten Einfluß auf »Heine Entwicklung ausgeübt hat. Während die Mutter unserer Mutter ... (58) - aber wir bedürfen gar nicht einmal mehr des hier sogleich doppelt eingenieteten Mutter-Wortes, um innezuhalten und uns zu fragen: Ist die hier vorgestellte Person mit dem tiefsten und größten Einfluß denn wirklich die Großmutter, von der die Rede geht? Die Daten, die wir vom Leben der Johanne Christiane Kretzschmar besitzen, erlauben uns die Nachprüfung von Mays Darstellung, und da kommen wir zu dem überraschenden Ergebnis: sie ist in allen ihren Einzelheiten falsch. Die Großmutter hatte die Mutter früh verloren? Durchaus nicht: ihre Mutter, Maria Rosine Bäumler (59), starb am 9. 8. 1920 in Ernstthal: - da war die Tochter 40 Jahre alt. Sie hatte einen Vater zu ernähren, der weder stehen noch liegen konnte und bis zu seinem Tode viele Jahre lang an einen alten,


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ledernen Lehnstuhl gefesselt und gebunden war. Sie pflegte ihn mit unendlicher, zu Tränen rührender Aufopferung. Die Armut erlaubte ihr nur das billigste Wohnen. Das Fenster ihrer Stube zeigte nur den Gottesacker, weiter nichts. Sie kannte alle Gräber, und sie bedachte für sich und ihren Vater nur den einen Weg, aus ihrer dürftigen Sterbekammer im Sarge nach dem Kirchhofe hinüber. Sie hatte einen Geliebten, der es brav und ehrlich mit ihr meinte; aber sie verzichtete. Sie wollte nur ganz allein dem Vater gehören, und der brave Bursche gab ihr Recht. Er sagte nichts, aber er wartete und blieb ihr treu (60) Wenn wir im ganzen Tonfall und in der Intensität dieser Geschichte von zu Tränen rührender Aufopferung bereits alle Signale einer sublimativen Entstellung wahrnehmen, wieviel mehr erst müssen wir sie als Deckschilderung erkennen, wenn wir ermitteln, daß keine der Informationen auf das Leben der Großmutter zutrifft. Fest steht lediglich, daß der Vater Kretzschmar »an Gicht« starb (61), und zwar am 23. 9.1825 - : zu diesem Zeitpunkt war die Tochter Johanne Christiane jedoch bereits 45 Jahre alt; zu diesem Zeitpunkt hatte sie die 15jährige Ehe mit dem braven Burschen Christian Friedrich May bereits hinter sich (62) und aus ihr zwei Kinder (63); zu diesem Zeitpunkt war sie bereits zum zweitenmal verheiratet. (64) Bricht so die Darstellung Mays als völlig unwirklich in sich zusammen, so sind wir wohl berechtigt, bei der Person, die in seelischer Beziehung den tiefsten und größten Einfluß auf meine Entwicklung ausgeübt hat, ohne uns von der Deckbeschreibung irritieren zu lassen, nur und immer wieder nur an den einen Menschen zu denken, durch den Mays Leben beschädigt wurde und groß gemacht zugleich, an die Mutter (65); und wir zögern nicht, den Sinn der Deckbeschreibung darin zu sehen, daß sie die eine zentrale Information des frühen Traumas entstellen und verhüllen mußte, die mit unbändiger Gewalt aus der Tiefe heraufdrang: Sie hatte einen Geliebten ... aber sie verzichtete. Sie wollte nur ganz allein dem Vater gehören ...

   Die Mutter May ist dann denn auch beim Vater May geblieben und hat sein bitteres Leben bis zum Ende geteilt, arbeitend, helfend, ja wahrscheinlich hat sie die Familie schließlich überhaupt allein ernährt; ihren Hebammen-Beruf übte sie bis zu ihrem Todestag aus. Über ihr Eheleben wissen wir nichts; wir können nur sagen, daß die in der Selbstbiographie geschilderten Erleidnisse mit dem Mann eine Krise nicht


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unwahrscheinlich machen und unsere Vermutung, sie könnte in einer solchen Krisenzeit einmal bei der Liebe eines anderen Mannes Zuflucht gesucht haben, eher stützen. Bei der Geburt Karl Mays war sie knapp 25 Jahre alt, und ihrer äußeren Beschreibung in »Des Kindes Ruf« wollen wir gern glauben. (66) Alle weiteren Vermutungen müssen am Schweigen der Dokumente zwangsläufig scheitern. Aber das ist nicht wichtig. Denn wir haben es hier ja nicht mit einer objektiven Verhaltensweise der Mutter zu tun, sondern mit deren traumatischem Echo im Kinde. So wäre es auch richtiger, statt von der Liebesversagung der Mutter vom Liebesversagen des Kindes durch die Mutter zu sprechen; Freud hat, um das Nicht-Ausschließliche der äußeren Ursache deutlich zu machen, schon früh die »Versagung« durch »Frustration« ersetzt - einen Begriff, der freilich, seit er sich im Munde des Jedermann befindet, sehr gelitten hat. Festzuhalten bleibt, was schon ein flüchtiger Überblick über alle lebenslänglichen Folgen zeigt: Karl May hat in einer entscheidenden Erlebnisphase seiner frühen Kindheit seine Liebe zur Mutter als vergeblich erfahren; er zog sie in sich selbst zurück, und fortan war die gesamte Außenwelt für ihn »schuldig«, war ihm die Liebe schuldig, die sie ihm schuldig geblieben war, einmal, in jener fürchterlichen Stunde, / in welcher mir in meiner tiefsten Nacht / der erste Sonnenstrahl die Schreckenskunde / von ....... gebracht ... - es bedarf keiner Erklärung mehr, warum May die Lücke in der flüchtig hingeworfenen Notiz nicht auszuschreiben vermochte. Der »erste Sonnenstrahl« in »tiefster Nacht« war real eine Absurdität. Aber das Morgengrauen jenes einen Tages in der Nacht der Blindheit war es nicht; und wie seine Kunde an das Ohr eines blinden Kindes drang, so mußte noch der Greis die Deckerinnerung »zu Ohren« kommen lassen: indem sie ihm zum Dialog gerann.

   Ein Kind hatte gelauscht, einmal vor langer Zeit, wankend, torkelnd, irr laufend im Morgengrauen, an einer Mauer, weinend, - und eine ganze Welt war schuldig geworden. Von dieser Zeit an mußte May lauschen, um das Unrecht in aller Welt zu erfahren (67), ja er mußte dies Lauschen, von dem das Sprichwort sagt, daß es dem Ohr nur »die eigene Schand« zutrage, zu einer hohen Kunst und Tugend machen: von der Artistik des Anschleichens in den frühen Büchern (und ihren dort stets schon grotesk übertriebenen Kunststücken, die der realen Nach-


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vollziehbarkeit gänzlich entrückt sind) - bis hin zu den späten Sublimationsstufen im Alterswerk, den hallenden Architekturen des »Löwen«, des »Mir«, und den letzten mythischen Versteinerungen der »Ohren« im letzten Buch.




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Zudem wird der geneigte Leser sehr bald erfahren, welche Rolle die Tannen bei dem uns gestatteten »Fest der Geburt des Erlösers« spielten. Ich sah sie schon jetzt gleich darauf hin an und machte zu Halef die Bemerkung, daß es in meinem Vaterlande niemals eine Weihnacht ohne brennende Tanne gebe. Der Mir hörte das und fragte, indem er sich zu uns zurückwendete: »Niemals ohne brennende Tschambäume? Welches ist der Grund, daß ihr sie bei diesem Feste verbrennt?« (68)

   Dem Vordringen in die Kindheit einer historischen Persönlichkeit, eines »Patienten« also, der dem Erkenntnis-Instrument der Übertragungsanalyse entzogen ist, sind enge Grenzen gesetzt. Wenn wir uns also auch darüber klar sein müssen, daß die bisherigen Funde vergleichsweise nur geringfügig sind, so werden wir doch ihren Wert nicht geringschätzen, ja wir werden uns ihrer nur umso sorgsamer annehmen. Darum mag es nicht überflüssig sein, daß wir auf ihre Sortierung noch weitere Genauigkeit wenden.

   Bei der Deckerinnerung, die uns beschäftigt hat, handelt es sich um eine geschlossene, zeitlich punktartig konzentrierte Situation. Nicht so jedoch bei den verschiedenen traumatischen Materialien, die wir aus ihr gewannen. Sie stellen vielmehr ein Erlebnis-Syndrom dar, das als Einheit nur durch die Klammerung der gemeinsamen Bedeutung erscheint, tatsächlich aber aus verschiedenen Situationen zusammenschmolz. Diese Situationen haben wir uns als jeweils durchaus flächige Vorgänge von gröberer zeitlicher Umspannungsweite, vielleicht sogar als Ketten wiederholter gleichartiger Vorgänge zu vergegenwärtigen. Was ihnen den Anschein des exakt Zeit-Punktartigen gibt, ist lediglich die geschrumpft karge Sprachrestgestalt (69), in der sie überdauerten: nur als Trümmerstücke blieben sie so ja erhalten, während die Situation selbst mit allen ihren näheren Bestimmungen dem Verdrängungszwang gehorchte und der Amnesie verfiel. Raffen wir diese komplexen


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Rudimente nun in dem von der Bedeutungsidentität gerechtfertigten, jedoch die Genese vereinfachenden Begriff »Urszene« zusammen, so geschieht es einzig, um sie der Notwendigkeit, Räumliches in eindimensionaler Bewegung darzustellen, gefügiger zu machen. Zur Verdeutlichung stellen wir die Gliederung des Begriffs hier noch einmal her und ordnen die Einzelschichten qualitativ ein:

   A.) Erfahrungsfeld »Blindheit: erhöhte Hilflosigkeit und Abhängigkeit in der oralen und analen Phase, Ausbildung passiv-femininer Ich-Züge durch Anlehnung an die Mutter; 1. Versagungsstufe (Wiederfort-Wünsche)

   B.) Erfahrungsfeld »Mutter-Geliebter« : Beginn libidinöser Besetzungen in der phallischen Phase; 2. Versagungsstufe (Liebes-Teilung, Lausch-Erfahrungen)

   C.) Erfahrungsfeld »Feuer«: volle Libido-Besetzung in der ödipalen Phase, deren normativer Untergang in Kastrationsangst; 3. Versagungsstufe (Ich-darf-dich-nicht-länger-sehen-Forderung).

   Es ist ersichtlich, daß diese drei Felder imgrunde kaum gegeneinander abgegrenzt sind, ja daß sie sich weitgehend überschneiden und durchdringen. Feld A liegt in seinem Beginn vielleicht am frühesten, wirkt aber in B und C synergetisch fort; B und C gehören dicht zusammen. Es ist unserer Vorstellung vielleicht behilflich, wenn wir sie uns als die drei Dimensionen eines zeit-räumlichen Gebildes denken, dessen Einheit auch im sprachrestlichen Depot in Erscheinung tritt. Mitten in die Ödipus-Phase fällt Mays Sehendwerden; es dürfte - durch die damit verbundene jähe Mächtigkeit des Reizanfalls - ihren Untergang ebenso beschleunigt haben wie die mit dem Einmünden in die Latenz-Periode beginnende Charakterbildung, d. h. die Herstellung der Ich-Panzerung, und erklärt zuletzt vielleicht, warum die letztere - wir werden es noch sehen - nicht vollständig gelang. Ehe wir aber ihre weiteren Schicksale verfolgen, haben wir der Urszene noch ein weiteres Motiv hinzuzufügen

   Wir tun es mit einigem Zögern. Denn wir müssen bekennen, daß es uns bisher nicht hat gelingen wollen, dieses Motiv zwingend mit den anderen zu verknüpfen. Es steht isoliert, und nur seine zwanghafte Wiederkehr im ganzen Werk gibt die Gewißheit, daß wir es mit einem weiteren Trümmerstück der Urszene zu tun haben. Es handelt sich um das Motiv »Weihnacht«. An drei Stellen der Selbstbiographie erhalten


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wir auffallend unvermittelt die Information, das Weihnachtsfest sei für den Autor oft eine Unglückszeit gewesen. Zum erstenmal taucht sie - wir möchten fast sagen: bezeichnenderweise - gleich zu Beginn auf, im ersten Abschnitt, mit dem der Kindheitsbericht anhebt. May erzählt da vom Ende seines väterlichen Großvaters: Er war zu Weihnacht nach dem Nachbardorf gegangen, um Brot zu holen. Die Nacht überraschte ihn. Er kam im tiefen Schneegestöber vom Wege ab und stürzte in die damals steile Schlucht des »Krähenholzes« , aus der er sich nicht herausarbeiten konnte. Seine Spuren wurden verweht. Man suchte lange Zeit vergeblich nach ihm. Erst als der Schnee verschwunden war, fand man seine Leiche und auch die Brote. Überhaupt ist Weihnacht für mich und die Meinen sehr oft keine frohe, sondern eine verhängnisvolle Zeit gewesen. (70) Wenn unsere These richtig ist, so wäre auch hier ein weiteresmal nicht der eigentliche Bericht die Hauptsache, sondern der ihm fast beiläufig angehängte Schlußsatz: ihn, den tief und dunkel motivierten, mit harmloser Deckmotivierung durch die »Zensur« zu bringen, wäre jener bestimmt gewesen. Deckmotive aber tragen fast immer eine Spur des Gewaltsamen an sich: sie müssen der Grundinformation ja sozusagen »beigebogen« werden, und das geht selten ohne Verkrümmungen ab. Der Nachweis solcher Verkrümmungen ist somit zumeist auch der ihres Deckungscharakters. Wir haben es im gegenwärtigen Fall nicht schwer, ihn zu erbringen. Ist der Großvater Christian Friedrich May wirklich auf die beschriebene Weise umgekommen? Die Krähenholzschlucht, in der es nach Mays Bericht geschehen sein soll, gehört nach Oberlungwitz; das Kirchenbuch vermerkt als Sterbeort jedoch Ernstthal. Es vermerkt als Todesursache ferner »unordentlichen Lebenswandel«, und selbst wenn damit Alkoholsucht gemeint gewesen sein sollte, so wäre der Eintrag befremdlich, falls der Tod durch einen (wie immer alkoholbedingten) Unglücksfall wie den beschriebenen eintrat. Aber der Tod des Großvaters erfolgte unzweifelhaft erst im Februar (4. 2.) 1818, und damit ist die gesamte Verknüpfung von »Weihnacht« und »Unglück« gelöst: der Deckbericht vermag sie nicht zu halten. Wo aber, durch welches Ereignis, entstand sie dann wirklich?

   Zum zweitenmal erscheint die rätselhafte Formel im Zusammenhang der »Lichtwochnergeschichte« von 1859, die zur Verstoßung Mays vom Seminar Waldenburg führte. (71) May verlegt sie auf den 22. Dezember:


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Am Tage vor dem Weihnachtsheiligenabende begannen unsere Ferien. Am Tage vorher kam eine meiner Schwestern ... Sie war traurig. Es stand nicht gut daheim. Es gab keine Arbeit und darum keinen Verdienst ... Bescheert werden konnte nichts ... Es gab keine Lichte für den Weihnachtsleuchter. Sogar die hölzernen Engel der kleineren Schwestern sollten ohne Lichte sein ... Der Schwester stand das Weinen hinter den Augen ... Und da will May dann die Talgreste der Schulleuchter genommen haben, um drei kleine Weihnachtslichte für die Familie daraus zu machen: er wurde angezeigt, und der Direktor kam in eigener Person, den »Diebstahl« zu untersuchen ... nannte mich einen »infernalischen Charakter« und rief die Lehrerkonferenz zusammen, über mich und meine Strafe zu entscheiden. Schon nach einer halben Stunde wurde sie mir verkündet. Ich war aus dem Seminar entlassen ... ging gleich mit der Schwester ... in die heiligen Christferien ... es waren das sehr trübe, dunkle Weihnachtsfeiertage. Ich habe wohl überhaupt schon gesagt, daß grad Weihnacht für mich oft eine Zeit der Trauer, nicht der Freude gewesen sei. An diesen Weihnachtstagen löschten heilige Flammen in mir aus ... Dieser Vernietung des Weihnachts-Motivs mit Feuer-Metaphern werden wir immer wieder begegnen, und wir dürfen uns der Verpflichtung, auch dieser Geschichte einmal eine gesonderte Untersuchung zu widmen, hier nur aus Raumgründen entziehen. Es muß einstweilen genügen, daß wir die Deckungsfähigkeit der Szene, die den wiederum mit auffallender Überhaupt-Beiläufigkeit vorgebrachten Weihnacht = Unglück-Satz umgibt, ein weiteresmal als erschüttert, sie selbst als verkrümmt erkennen müssen. Denn wohl fand die Lehrerkonferenz zu dem von May mitgeteilten Zeitpunkt statt (21./22. 12. 1859), doch die »Tat« ereignete sich bereits Mitte November, und ihre Folge, der Ausschluß, wurde dem bedauernswerten Seminaristen erst lange  n a c h  Weihnachten, am 28. 1. 1860, verkündet. Es wird uns also auch hier sehr schwer gemacht, der Verknüpfung Mays zu folgen, wenn wir nicht wiederum einen viel tiefer liegenden Kausalnexus annehmen.

   Wir tun dies auch beim dritten Auftauchen der Gleichung. Sie erscheint in dem Bericht, den May seiner, später nur noch als unheilvoll empfundenen, Bindung an Emma Pollmer widmet. Die Entscheidung will er da ebenfalls zu Weihnachten (1876) getroffen haben: Ich vergaß,


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daß grad die Weihnachtszeit mir selten freundlich gesinnt gewesen ist ... Diese Weihnacht entschied über mich ... (72) Tatsächlich fiel die Entscheidung, wie May dann auch korrekt darstellt, erst im Mai 1877 (Streit mit dem alten Pollmer, Emmas Fortgang nach Dresden (73)), und wenn wir auch Mays Mitteilung, der Entschluß sei schon zu Weihnachten 1876 erfolgt, nicht widerlegen können, so dürfen wir doch darauf hinweisen, wie zusammenhangslos diese Terminangabe auftritt. (74) May kommt da zwar zu Weihnachten nach Hohenstein, doch die Verlobung mit Emma verlegt selbst er nicht in diese Zeit: er läßt sich vielmehr, ohne daß etwas Konkretes geschehen wäre, wieder abreisen und erst zu Pfingsten 77 wiederkehren, wo das Geschick dann seinen Lauf nimmt. Auch hier müssen wir also die Verknüpfung von Weihnacht und Unglück als auffallend gewaltsam erkennen.

   Sicher ist, daß wir in diesem Motiv das Bruchstück einer sehr alten Erinnerung der Seele vor uns haben. So wenig wir uns nun auch für berechtigt halten dürfen, direkt die Hypothese zu wagen, daß in einer konkreten frühkindlichen Weihnacht Mays eigentliches Unglück geschah, so gewiß ist zugleich, daß die Weihnacht für May mit  d e m  Unglück seines Lebens in Verbindung stand. Das Motiv ist, jenseits aller sentimentalen Verknüpfungsfähigkeit, von der Schwere des Traumas und durch das ganze Werk hin infolgedessen verkettet mit den Abbildungen der Überwindung und Erlösung. Noch der Mir von Ardistan wird vom Zeremoniell erschüttert; in allen Bekenntnisbüchern des Alters, die den immer gleichen einen Seelenkonflikt darstellen, steht ein hoher Festtag vor der Tür. Hierher gehört auch der Befund, daß May namentlich im Alter, sooft das Weihnachtsfest nahte, höchste Produktivkraft entfaltete, besonders und gerade in der Abwehr feindlicher Angriffe (75); auch die wenigen schweren Krankheiten, die er durchmachte, stellten sich ausnahmslos zu Weihnachten ein. Wir erkennen, daß es mit diesem »Fest der Liebe« eine besondere Bewandtnis gehabt haben muß. Sollten wir nicht versucht sein, in ihm zuletzt den Angelpunkt des einen frühen Traumas der zerstörten Liebe zu sehen, das darin zeitlebens wiederkehren mußte, um jedesmal erneute Energien der Abfuhr und Verarbeitung zu entbinden, jene eine Wein-Nacht des Kindes, die zur Weihe-Nacht zu wandeln noch vom Greis der mächtigste Zwang verlangte?


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   Wir wissen nun über Mays frühes Trauma genug, um das Charakterbild überschauen zu können, das aus solcher Konstellation erwachsen mußte. Es entspricht in fast allen Einzelheiten dem Typus, den Reich, auf Freud aufbauend, als den »phallisch-narzißtischen« beschrieben hat. Nur ein kleiner Teil von Mays Persönlichkeit brachte die Realitätsanpassung zustande; der größere Rest blieb auf das Trauma fixiert und bildete durch dessen Wiederholungszwang ein starres Verdrängungsmuster aus, das für seine Verhaltensweisen auch dann bestimmend blieb, als die traumatische Affektbeziehung längst in der Latenz versunken war. Wir werden diesen Mustern wie auch den ihre sinnvolle Prägnanz nicht erreichenden neurotischen Symptomen, den Kompromißbildungen zwischen Wiederholungszwang und Abwehrreaktion, in späteren Arbeiten noch viel Aufmerksamkeit widmen und hier nur in großen Zügen ihre weiteren Schicksale verfolgen.

   Versagung erzeugt stets Haß und Ambivalenz gegen das Objekt, das die Triebbefriedigung einschränkt, und zwar umso intensiver, je stärker die Einschränkung ausfiel. Die daraus zwangsläufig folgende Identifikation ist bei May ausgeprägt zu erkennen: er mußte der Mutter ähnlich werden, die er hassen mußte, weil er sie nicht lieben durfte, und die er lieben mußte, weil er sie nicht hassen durfte. (77) Hier liegt der Ursprung der »weiblichen«, passiven Züge in Mays Wesen, die allen Beobachtern auffielen und die noch Aub und Klages aus Physiognomie und Handschrift ablasen (78); diese Züge, infantil fixiert und entwicklungsunfähig, sind es auch, die einen wesentlichen Teil jener Anziehung Mays auf die Jugend ausmachen, die Claus Roxin erhellend beschrieben hat. (79) Ihrer Hilflosigkeit und Schwäche entspricht die Stärke der narzißtischen Ideal-Bildung, die bei May nun im 5. Lebensjahr einsetzte. Wenn wir seine Mitteilung lesen, er sei nach Behebung der Blindheit auch im übrigen gesundend (80) heimgekehrt, so ist uns, da wir um die unbehebbare Schwäche seines Ichs wissen, dieses Gesundungsgefühl nur ein Hinweis darauf, daß die Aufrichtung des Ich-Ideals, das alle an der Außenwelt gescheiterten libidinösen Strebungen nun auf sich vereinigte, bereits begonnen hatte. Dieses Ich-Ideal, frühes Befindensmodell dessen, was


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später in künstlich geschaffener Außenwelt Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi heißen durfte, läßt uns den Vollzug einer weiteren Identifizierung erkennen: nahm das Ich, auf analer Stufe, die Mutter in sich auf, so das Ich-Ideal nun die zweite mächtig beschränkende Gestalt: den Vater. Wir erkennen seine Züge allenthalben wieder und werden sie später einmal mit Sorgfalt zu sortieren haben: noch sein Schlagen kehrt, durch Idealisierungsarbeit verwandelt, im Jagdhieb Shatterhands wieder, sein didaktischer Zwang in der vielwisserischen Homiletik Kara Ben Nemsis. (81)

   Wie weit dieses Ideal in der Latenz-Kindheit Mays bereits ausgebildet war, erkennen wir in allen Einzelheiten, die er über seine Kindheit und Keine Jugend mitteilt: schon die Autorität des Fünfjährigen über die älteren Spielgefährten (82) läßt uns die kommende Tragödie ahnen. Die Kluft zwischen der ich-immanenten Phantasie- und der Außenwelt, zwischen den fast schon völlig gelähmten flexiblen Ich-Leistungen und der alle Besetzungen bindenden und aufzehrenden Innen-Idealität, war unüberbrückbar geworden. Seine Liebesfähigkeit war erloschen, und wir bedürften der vielen Zeugnisse seines entbehrenden und sich sehnenden Lebens nicht, um dies zu wissen. Ein echter, wirklicher Schulkamerad und Jugendfreund ist mir nie beschieden gewesen ... (83): dieses Siegel der Einsamkeit verschloß sein ganzes Leben. Er ahnte die Verheerungen seiner seelischen Krankheit, vermochte den Finger auf ihre frühen Narben zu legen; nicht wissen, nur tastend umschreiben konnte er ihre Kausalität. Als ich sehen lernte, war mein Seelenleben schon derart entwickelt und in seinen späteren Grundzügen festgelegt, daß selbst die Welt des Lichtes, die sich nun vor meinen Augen öffnete, nicht die Macht besaß, den Schwerpunkt, der in meinem Innern lag, zu sich hinauszuziehen. Ich blieb ein Kind für alle Zeit .. . und zwar ein Kind, in dem die Seele derart die Oberhand besaß und noch heute besitzt, daß keine Rücksicht auf die Außenwelt und auf das materielle Leben mich jemals bestimmen kann, etwas zu unterlassen, was ich für seelisch richtig befunden habe ... (84) Daß hier fast so etwas wie Stolz auf eine Tugend mitklingt, läßt uns nicht vergessen, aus welchen Nöten sie gemacht wurde. Der Schwerpunkt im Innern, den die Außenwelt nicht die Macht besaß, zu sich hinauszuziehen -: treffender, exakter ist das Wesen der narzißtischen Neurose in vor-analytischer Zeit von einem Laien nicht


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beschrieben worden. Daß der ältere Knabe eines Tages - in jener Morgenfrühe - »nach Spanien« aufbrechen konnte, um »Hilfe« zu holen (85), erscheint uns nun in ganz neuem, bedrückendem Licht: dies war die erste grelle Manifestation jener Spaltung des menschlichen Innern, deren Erklärung Mays ganze späte Arbeit galt, und »schuld« daran war nicht die Lektüre der Hohensteiner Bibliothek. Ein schwaches, dem Anpassungsanspruch der Außenwelt gegenüber infantil-fixiert gebliebenes Ich, das sich isoliert in seinem Ideal auslebte, hatte die Fähigkeit zur Besetzungs-Kommunikation mit dem Außen verloren: es war, umfassend, unfähig geworden zur »Liebe«. Wir verstehen so, was die mir angeborene Naivität, die ich selbst heute noch in hohem Grade besitze (86), in Wahrheit bedeutet; ja, wir lernen Mays Bekenntnisse gänzlich neu zu lesen und bitten, ihre Lektüre hier noch einmal einzuschalten. Liebe muß sein, selbst im allerärmsten Leben, und wenn dieser Ärmste nur will, so kann er reicher als der Reiche sein. Er braucht nur in sich selbst zu suchen. Da findet er, was ihm das Geschick verweigert, und kann es hinausgeben an alle, von denen er nichts bekommt. Denn wahrlich, es ist besser, arm und doch der Gebende zu sein, als reich und doch der immer nur Ernpfangende! (87) Karl May fand in sich selbst, was ihm das Geschick verweigerte; er »wollte« , was die Wirklichkeit der armen kranken Menschennatur versagt. So nahm er im Alter Zuflucht noch bei der höchsten Illusion, der alle ethischen Systeme ihr Entstehen verdanken. Wir dürfen vor dieser im wahrsten Sinne überwältigenden Kulturleistung mit aller Bewunderung stehen, auch wenn und gerade wo wir sie als Wahnbildung erkennen.




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Wie die nach irdischen Begriffen fast endlos weit von einander entfernten Sterne des Firmamentes durch ewige Gesetze zusammengehalten werden, so sind auch die Handlungen des Menschen und die Ereignisse seines Lebens, mögen sie noch so entfernten Zeitpunkten angehören, doch so eng mit einander verbunden, daß nicht gar selten in einem Vorgange des Greisenalters die Folge einer Tat der doch schon längst vergangenen Jugendzeit zu erkennen ist ... (88)

   Mays Religion - die Kräfte, die sie entband, wie auch die Kräfte, die sie entbanden - ist ein noch künftiges Thema. Der lichte, schöne


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Kinderglaube, dem niemals untreu geworden zu sein er uns versichert (89), wird uns der Skepsis so wenig entheben wie seine briefliche Beschwichtigung Paul Rentschkas von 1908, als dieser seiner Humanität mit der Dogmenelle zu nahe trat. (90) Auch hier ist Entwicklung darzustellen, ein Crescendo, das wir vielleicht in engem Zusammenhang mit den seelischen Entwicklungsschüben sehen lernen werden. Die frühesten Zeugnisse enthalten sehr wenig, was dem Kirchengläubigen willkommen sein könnte (91); noch im »Verlorenen Sohn« der Kolportagezeit wirken manche Passagen, die dem Weberelend die Weberfrömmigkeit entgegensetzen, als seien sie mit zusammengebissenen Zähnen geschrieben; erst in den Reiseerzählungen für den »Hausschatz« bis 1900 und besonders in den wenig erfreulichen Beiträgen für die Marienkalender dringt religiöses Fühlen sich steigernd in die Sprach- und Inhaltsmuster ein, um nach der großen Wendung dann - in freilich ebenfalls gewandeltem Sinn - den gesamten Formenkanon des Spätwerks mit zu bestimmen. Betrachten wir die religiösen Stoffe in dieser Entwicklung rein instrumental, so erkennen wir leicht ihrer Zunahme parallel eine Zunahme der artistischen Ausdrucksfiguren: eine wachsende Neigung Mays zur Großen Rede, zum ornamentalen Bilderzeremoniell zuerst bis schließlich zur wild und magisch wuchernden Gleichnishaftigkeit. Daß beides bei ihm untrennbar ist, gibt uns zu denken. Kultische Verformungen der Alltagssprache waren geschichtlich vielleicht der erste Schritt zur Abstraktion: - Gleichnisse sind Umwege um Unaussprechbares; Metaphern stehen für ursprüngliche Tabus. Wo ein Stil ausgeprägte rituale Züge aufweist, darf mit Gewißheit auch auf charakterliche Invarianten seines Urhebers geschlossen werden - im Sinne unserer Untersuchung also auf eine Schutzpanzerung des Ichs, die Tiefenkonflikten gilt. Der Zusammenhang zwischen religiösen Zeremoniellen und neurotischen Zwangshandlungen hat Freud zum Ausgangspunkt großer Interpretationen gedient. (92) Wenn wir bei May also feststellen, daß in seinem Werk die zeremoniellen Sprachgesten bis 1900 ersichtlich zunehmen (reiche Metaphorik, gebundene Rede), - dürfen wir vielleicht einfach den Schluß ziehen, daß sie als Abwehr- und Umgehungsreaktionen kritisch durchbrechender Konflikte zunahmen? Wir könnten uns zuletzt getrauen, den durchaus erstaunlichen, ruckartig eintretenden Zuwachs seines Sprachvermögens und seiner Formungskraft nach 1900 insgesamt so zu


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deuten: als unmittelbar abhängige Resultante der letzten seelischen Konfliktlage, in die ihn die große Reise stürzen ließ: als  d a s  Abfuhrmittel, kraft dessen er den Folgen des Sprungs über die Vergangenheit entging. Wir lassen das gesamte Thema zur Bearbeitung offen und nehmen nur ein Ergebnis vorweg: die religiösen Inhalts- und Sprachmaterialien sind in Mays Werk das mächtigste Mittel der Maskierung und Entstellung der »psychologischen« Stoffe, die nach außen zu bringen die Notwendigkeit seines Schreibens war, eine vom Über-Ich verfügte Rasterung seiner Bilder, ohne die diese die Sperren nicht hätten passieren dürfen, und je höher die mythisch-mystischen Überbauten sich türmen, desto »tiefer« geht es in ihnen zu. Alle ethischen Modelle des Spätwerks sind Camouflagen der Seele: wie Vexierbilder zuletzt sind sie zu deuten.

   Damit kehren wir zu Mays Entwicklungsgeschichte zurück. Dem Abschluß seiner Pubertät folgte die Seminarzeit, und in sie fiel der erste große Schock: Diebstahlsbeschuldigung und Verweisung vom Seminar. Er hat sein Befinden in Waldenburg selber ausführlich geschildert, und es bereitet uns keine Schwierigkeit, von der langen kritischen Schilderung des Religionsunterrichts die religiöse Deckung abzulösen. Ich hätte gern über diese religiösen Verhältnisse geschwiegen, durfte dies aber nicht, weil ich die Aufgabe habe, alles aufrichtig zu sagen, was auf meinen inneren und äußeren Werdegang von Einfluß war. Von Einfluß war, daß May hier im Seminar einer höchst gefährlichen »Erweiterung« seiner Außenwelt ausgesetzt war, einer Vergrößerung des Reizanfalls, der sein schwaches isoliertes Ich zwangsläufig nicht gewachsen sein konnte. Wie arm und wie gottverlassen man sich da fühlte! Die Andern nahmen das gar nicht etwa als ein Unglück hin; sie waren gleichgültig; ich aber mit meiner religiösen Liebesbedürftigkeit fühlte mich erkältet und zog mich in mich selbst zurück. Ich vereinsamte auch hier, und zwar mehr, viel mehr als daheim ... (93)

   Wir können den Entwicklungsgang dieser zunehmenden Vereinsamung hier nur in einzelnen Stationen streifen und dürfen dem Leser zutrauen, hinter den Behelfsworten von Mays Schilderungen die Wahrheit seines Seelenbildes selber zu erkennen: hinter der Vereinsamung die immer stärker klaffende Spaltung von Ich und Ich-Ideal und demzufolge zwischen beiden und der Außenwelt. Die Liebesbedürftigkeit


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des narzißtischen Neurotikers ist in gleichem Extrem gesteigert, wie seine Liebesfähigkeit sich reduziert hat: daß die Außenwelt ihm Liebe schuldig, ihm zur Liebe verpflichtet sei, ist eine der stärksten charakterlichen Reaktionsbildungen auf die erlittene Versagung und zugleich die Basis, auf der deren immerwährende Wiederkehr sich erzwingt. In Formel läßt sich sagen: der Narzißt »liebt« durch die Intensität seiner Suche nach dem Geliebtwerden: - das nicht zuletzt verleiht dem Typus seine mächtige Anziehung. Mays Wirkung auf Frauen wäre von hier aus zu erklären: sie blieb bis ins höchste Alter unvermindert. Sie läßt sich, modellhaft mit allen zwanghaften Folgen, auch in dem Mißgeschick wiederfinden, das nach kaum vierzehntägiger Berufsarbeit zum Verlust seiner ersten Lehrerstellung in Glauchau führte. (94) Er übergeht den Vorfall in der Selbstbiographie völlig (... worauf ich meine erste Stelle in Glauchau erhielt, bald aber nach Altchemnitz kam ...), doch schlägt das Verdrängte bereits im nächsten Satz durch: Hier haben meine Bekenntnisse zu beginnen ... (95) Unschwer läßt sich, neben der unmittelbar auslösenden Ursache, dem jähen Freiwerden der in den Seminaren geknebelten pubertären Sexualität, der Grundmechanismus erkennen, der in allen nun folgenden Unglücksstationen wiederkehrt: mit jeder neuen Erweiterung des außenweltlichen Reizmilieus trieb der Konflikt nun weiter auf, vergrößerte sich der Riß zwischen den Ansprüchen des Ideals und dem zur vermittelnden Anpassung unfähigen Ich - bis hin zur Unüberbrückbarkeit des Abgrunds, in dessen Bild May die Erinnerung sammelte und der in den Seelenlandschaften des Werks als »figürliche« Marke dann seinen festen Platz erhielt.




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   Claus Roxin hat in seiner Analyse der Straftaten Mays das Symptomenbild der »Pseudologia phantastica« dargestellt, und wir brauchen es hier in die Geschichte der Charakterstruktur, die seine Ursache ist, nur einzutragen. (97) Übersehen wir in Mays Leben die Zeit, die für jeden Menschenfreund die schrecklichste, für den Psychologen aber die interessanteste ist (98), bis hin zu ihrem letzten kritischen Nachhall in der


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»Affäre Stollberg« von 1879, so gibt sie uns nicht eigentlich mehr Rätsel auf. Daß Mays neurotische Erkrankung den akuten Ausbrüchen so lange immerhin entging, ist milieutheoretisch zu erklären: bis 1862 waren die Ansprüche der Außenwelt durch Vor-Ritualisierung (Berufsausbildung und -laufbahn) weitgehend vereinfacht und gebändigt gewesen, und erst nach dem großen Schock, der den Verlust von Zeugnissen und Lehrberechtigung brachte, standen sie in ihrer ganzen bedrohlichen Macht gegen das geschwächte Ich auf. Dieses Ich war nun zu einer Leistungs-Aktivität gezwungen, die es nicht aufzubringen vermochte: dies mußte zwangsläufig zu einer jähen Aktivierung der narzißtischen Schutzbildung führen. Analytisch heißt das (und wir wiederholen uns hier nicht, um dem Leser durch Abstraktion beschwerlich zu fallen, sondern um auch dem Laien das Grundmodell stets neu vor Augen zu halten): wie die Versagungen der Kindheit einst die ersehnte passive Anlehnung verhinderten und notwendig zur Ausbildung der Schutzreaktionen des narzißtischen Charakters führten, so mußte die nunmehr aus den Milieubedingungen drohende Regression zum Passiven und Analen diese Reaktionen in jäh gesteigertem Maß hervorbringen. Alle Züge in den Straftaten Mays entsprechen dem nun hochvirulent gewordenen neurotischen Charakterbild, das wir erkannten: vom großartigen Auftreten in den verschiedenen Masken des Ich-ldeals bis hin zum völligen Erlöschen der affektiven Beziehung zu den Opfern (Mitleid, Rücksicht) und der ihm parallelen Erwartungshaltung, auch die unfreiwilligen Leistungen der Umwelt wie einen Tribut einziehen zu dürfen. Der vollkommene Mangel an Unrechtsbewußtsein, den die heutige Judikatur, gerade wo sie ganz ungebrochen am Strafbegriff festhält, zugunsten Mays berücksichtigen müßte, ließe sich stringent erweisen; erst in den regressiven Zusammenbrüchen nach den Verhaftungen (99) dürfte es sich wieder eingestellt haben.

   Hier nun stoßen wir freilich zugleich auf große Schwierigkeiten, und sie liegen in Mays Darstellung selbst. Das Bild, das er uns in überaus suggestiver Weise von seinem damaligen Seelenzustand gegeben hat und das auf ein direktes Bewußtsein hinausgeht, daß ich kein Ganzes mehr sei, sondern eine gespaltene Persönlichkeit (100), will sich in unsere Diagnose nicht gänzlich fügen: zwar hat der Neurotiker, im Gegensatz zum Psychotiker, durchaus ein Krankheitsbewußtsein; jedoch kein


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Ursachen-Verständnis - es müßte sonst die Symptombildung zumindest stark dämpfen. Von dieser Dämpfung (hochgradige Angst-Reaktionen als Anteilleistungen des vom Ideal überwältigten Ichs) sind im Ablauf der Straftaten Mays kaum Spuren zu erkennen; die wache intellektuale Organisation erscheint nirgends gebrochen. Nehmen wir Mays Darstellung in aller Wörtlichkeit an und halten uns zugleich vor Augen, daß die narzißtische Neurose Voraussetzung und Basis der Paraphrenien (101) ist, so würde die Notwendigkeit unabweisbar, unsere Untersuchung der Spaltung des menschlichen Innern direkt auf paranoide Erscheinungsbilder in seinem Charakter auszudehnen. In der Tat ließe sich sagen, daß er den Grenzbezirken in den Jahren 1864 und 1870 gefährlich nahe kam; doch ist das dokumentarische Material zurzeit noch zu lückenhaft, als daß wir präzise Aussagen wagen dürften, und wir ziehen es vor, die Beantwortung der Fragen, die an Mays Schilderungen zu stellen sind, einstweilen noch zu suspendieren.

   Wenn May auf den Höhepunkten seiner Krisen an die Grenze des Psychotischen stieß, d. h. wenn die Besetzungsbeziehung zur Außenwelt auf absoluten Nullwert absank und die Wahnbildung des Ideals die Realität vollständig ersetzte, so wurden die Haftzeiten seine Rettung. Sie wurden jedoch nicht seine Heilung. Die jähe Reduktion der Umwelt und ihrer Reizansprüche, die das Zellendasein bedeutete, brachte ihm - vielleicht wirklich ganz kurz vor dem Umschlag in eine Paranoia - heilsame Remissionen, Wellentäler in der Sinus-Bewegung seiner Konfliktschübe. Ihr Crescendo aber setzte nach jeder Entlassung zwangsläufig neu ein. Daß ihn Selbstbesinnungen in stiller, einsamer Zelle in Beziehung auf Menschheitspsychologie viel weiter vorwärts gebracht haben, als ich ohne diese Gefangenschaft jemals gekommen wäre, daß solche Selbstbesinnung die in ihm schreienden Stimmen ... stets zum Schweigen gebracht habe, bis ich endlich annehmen konnte, daß sie ganz und für immer stumm geworden seien (102), kann nur als Umschreitung von Stillständen Zustimmung finden: nach Osterstein folgte nur zu sichtbar unbeeinträchtigt die Wiederkehr des Konflikts. Daß die Panzerung seines Schutzcharakters von keinem Erlebnis und keiner Erfahrung der Haftzeit wirklich durchbrochen wurde, vermögen wir aus vielen Nebenbemerkungen abzulesen; und wir können uns nicht dazu verstehen, etwa in dem Umstand, daß May sein inniger Wunsch erfüllt


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wurde, isoliert zu werden, einen Hinweis darauf zu sehen, daß die Anstaltsleitung über ihn zu einem psychologisch abgeschlossenen Resultate gekommen sei (103): in keiner Einrichtung der Gesellschaft war (und ist) Psychologie so wenig Zuhause wie im deutschen Strafvollzug. Nur einmal mehr spiegelt uns der Wunsch Mays nach der Versetzung ins Isolierhaus die Isolierung des Ichs wider, das zur affektiven Kommunikation mit der Umwelt der Nebenmenschen unfähig geworden war und blieb. Was aber ließ ihn dann die Anpassung schließlich doch vollbringen?

   May nennt uns den Namen Kochta (104) und gedenkt mit Dankbarkeit der psychologischen Einsicht dieses einen, einzigen Menschen, der praktischen Psychologie dieses einfachen Mannes, der meine Seele rettete ... (105) Wir wissen über ihn so gut wie nichts und können nur vermuten, welche Dienste dieser offenbar tief humane und gütige Katechet May geleistet hat. Daß theoretische Psychologie zwischen ihnen erörtert worden sei, werden wir nicht in dem Sinne annehmen dürfen, den Mays Darstellung uns anträgt: der wissenschaftliche Erkenntnisstand der 70er Jahre ließ, selbst wenn er Kochta voll zueigen gewesen wäre, systematische Therapie nicht zu. Auch ist das kleine Buch, das die Aufklärung gebracht haben soll, »Die sogenannte Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung überhaupt« (106), nirgends nachweisbar und wohl eine Fiktion: ein Stilisierungs-Instrument der Erinnerung wie »Der Hakawati« , in dem May die Inspiration von Mutter und Großmutter figürlich seyn ließ. (107) Die dialogische Form der Szene kann uns in dieser Annahme nur wieder bestärken. Wenn May durch Kochta geholfen wurde, so kann diese Hilfe - deren Wirkung uns im Ergebnis bekannt ist - auch nicht nur darin bestanden haben, daß in den Gesprächen eine analyse-ähnliche Situation entstand: daß der Katechet die letzten Reste noch besetzungsfähiger Objekt-Libido in May freizumachen verstand, eine wie immer unreife Übertragungssituation herstellte und die gewonnenen Einsichten mit Winken praktischer Menschenerfahrung zu beantworten wußte. Eine Heilung war so nicht möglich. Der narzißtische Charakter Mays ist auch in Waldheim weder erschüttert noch gar zerstört worden; wir erführen aus seiner Erinnerung sonst zumindest Andeutungen eines Auftauchens der riesigen infantilen Angst, zu deren Verdeckung und Aufzehrung die


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Schutzmechanik dient. Diese Angst mußte May erst ein Vierteljahrhundert später erfahren. Und erst als er sie nach der großen Krise, die sein Leben bis ins Fundament erschütterte, in seiner Altersneurose ein zweitesmal verdrängt und gebunden hatte und die neue Panzerung als Gesundung empfand, wurde auch der Erinnerung an Waldheim der späte Friede zuteil: Als ich entlassen wurde, war ich geheilt, vollständig geheilt ... (108) Er war es nicht. Aber er fand - und das war wohl auch Johannes Kochtas unvergängliches Mit-Verdienst - nun den großen Kompromiß: Kochta dürfte es gewesen sein, der May  z u m  S c h r e i b e n  a n r e g t e  und ihm damit  d a s  Abfuhrmittel in die Hand gab, das sein Leben in Sicherheit brachte und es vielleicht davor bewahrte, einmal hinter den Mauern eines Gefängnisses oder einer Anstalt zu Ende zu gehen.

   In welchem Ausmaß das Schreiben für May zum Instrument der seelischen Spannungsentladung wurde, bedarf keiner weiteren Hinweise: wir haben eingangs einige bezeichnende Züge und Eigenarten zusammengestellt. Sie wurde seine Lebensrettung, und aus ihrer Intensität zuletzt erfahren wir etwas über die Größenordnung der Konflikte, die sie band. Sie wäre vor allem anderen zu berücksichtigen, wo versucht wird, die Rechts-Brüche des jungen May qualitativ zu beurteilen. Wenn Reich davon spricht, daß die in der Psychopathologie vielerörterte »Verwandtschaft zwischen Genie und Verbrechern sich »überwiegend im phallisch-narzißtischen Charakter« findet, so muß uns gerade diese Prädestination bei May doppelte Bewunderung für seine Lebensleistung abnötigen, und wir haben allen Grund, Reich auch da beizustimmen, wo er gewisse Formen des Typus zu den »energiegeladensten psychischen Konstitutionen« zählt. (109) Die Literaturgeschichte kennt nur wenige Beispiele ähnlich riesiger Verwandlungsarbeit; dieser entspricht das Extrem der Ich-Bezogenheit des Werks, die schon den Zeitgenossen Anlaß zu ahnungslosem Spott war. Sie gerade an den Momenten ihrer bizarrsten Wirklichkeitsferne als Anpassungsleistung an übermächtige, verhängnisreich zugeordnete Realitäten zu begreifen, heißt Einsicht in seelische Geheimnisse gewinnen, die May auch auf diesem Gebiet zu einem Forschungsgegenstand allerersten Ranges machen. Freud und Ferenczi haben die Anpassungsleistungen im Seelischen in autoplastische und alloplastische geschieden: bei der ersten verändert die psychische Struk-


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tur sich selbst (Charakterausbildung, Herstellung automatischer Verhaltensmuster), bei der zweiten verändert sie die Außenwelt (Zivilisationsarbeit, gesellschaftliche Reformen - bis hin zu diktatorischer Machtergreifung über Berufsfelder und ganze Länder). Karl May war die autoplastische Anpassung mißlungen: von seinem auf Anlehnung infantil fixierten Ich spaltete sich ein Ich-Ideal ab, dessen Maßlosigkeit zwar der durch die eine große Frustration beschädigten Innenstruktur zur Balance verhalf, nach außen jedoch nur einen umso größeren Konflikt produzierte. Der Umschlag des Neurotischen ins Psychotische, den wir in Mays Abgrunds-Zeit nahen sahen, der des Konflikts zwischen Ich und Ideal in den zwischen Ich und Außenwelt (110), wird uns so übersichtlicher. Nun jedoch gelang May, nach schlimmsten, fast schon verderblichen Krisen, in seinem Schreiben eine Form der alloplastischen Anpassung, die wir unter die ganz großen Modellfälle rechnen dürfen. Die Realität konnte ihm, aufgrund der Ungunst der sozialen Verhältnisse, gefügig nicht werden; so schuf er seinem Ideal und dessen höchstgespannten Bedürfnissen nun eine eigene imaginäre Umwelt, in der es konfliktlos schalten und walten konnte, einen - wie ich früher einmal gesagt habe - Traumraum, dessen kreative Wirklichkeit mit dem Entwicklungs-Crescendo des wahnhaften Ideals beschränkungslos Schritt zu halten vermochte - bis hinauf in den Sur-Realismus des Alters. Im Werk fortan wurde die Wiederkehr alles Verdrängten aufgefangen und erledigt; im Werk fortan erkennen wir die verschlüsselte Abschrift aller Dokumente zu seinem früheren und späteren Leben, die uns biographisch nicht erhalten sind. Daß es »symbolisch« gemeint sei, von allem Anfang an, ist so seine letzte Wahrheit.




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Wie wäre es mir möglich, der verstorbenen Mutter zu vergessen ...! Seit ihrem Scheiden wohnt und wirkt in mir Etwas, was vorher nicht vorhanden war. Die, welche der Sprachgebrauch so fälschlich Tote nennt, haben vielleicht größere Macht über uns, als wir uns denken können. (111)

   Wir werden beim Abschreiten von Mays weiterer Lebensentwicklung nicht achtlos an einem Jahr vorübergehen, das ihn nach aller Wahr-


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scheinlichkeit in die stärkste innere Bewegung versetzen mußte. Am 15. 4. 1885 starb die Mutter Christiane Wilhelmine May geb. Weise in Ernstthal, und wir möchten uns doch versucht fühlen, nach Spuren dieses Ereignisses zu fragen. Sie finden sich - bezeichnend - weder im Werk noch in den Selbstdarstellungen: kein einziges Wort berichtet davon, in keiner Szene läßt es sich gespiegelt finden. Wir müßten uns also, wenn wir ihm trotzdem Bedeutung beimessen, dem Einwand aussetzen, es sei eben doch ganz spurlos an May vorübergegangen, und unsere Theorie habe hier eine Schwäche zu bekennen. Nun gibt es jedoch eine Aufzeichnung von Klara May, die so frappant und echt wirkt, daß wir uns für das sonstige Schweigen der Dokumente voll entschädigt fühlen dürfen und unsere Zweifel an der Verläßlichkeit der Berichterstatterin gern beschwichtigen. (112) Die Stelle steht in einem flüchtig skizzierten Aufsatz aus dem Jahre 1932 und gibt ersichtlich eine Mitteilung Mays wieder, die begreifen läßt, daß sie an andere Ohren niemals drang:

   »Als seine Mutter in seinen Armen starb, hielt er sie vom Abend bis zum Morgen als Leiche in seinen Armen. Handelt so ein uns normal erscheinender Mensch? Das Grab der Mutter wurde doppelt tief gemacht. Er wollte bei ihr begraben werden. Seine Anschauung wechselte vielleicht im Erkennenden-Alter. Nie mehr war die Rede davon. Seine noch lebende Schwester, die das Gewerbe der Mutter, einer Hebamme, übernahm, wollte dann einmal die Stelle über der Mutter beziehen. Diese Schwester durchlebte all die Leiden zum Teil mit, die kluge Sittenrichter über ihren Bruder auch noch über seinen Tod hinaus verhängten; dadurch ahnte sie, was ihr Bruder gelitten hatte im Leben - um seiner Liebe willen; als sie erkrankte und mit dem Tod rechnen mußte, stiegen wohl in ihr die Bilder der Jugendzeit empor, und sie erinnerte sich. wie es kam, daß Liebe - Verbrechen werden konnte. Auch ihr Mund schwieg wie der ihres Bruders allezeit ... Doch sie bestimmte  n i c h t, bei ihrer Mutter bestattet zu werden ...« (113)

   Es ist nicht zu bezweifeln, daß der Tod der Mutter für May einen tiefen Schock brachte, und dieser Schock mußte auch seine Produktivität treffen, die pausenlos rastlose, nie wieder ähnlich gestörte, deren unterster Beweggrund der Mutter-Konflikt war. Wir können dies aus der Werks-Liste ablesen: eine jähe Zäsur riß ein. Der Roman »Giölgeda Padishanün«, dessen Hauptteil »Der letzte Ritt« im November 1884 im »Deutschen Hausschatz« (XI, Heft 6) begonnen hatte, brach in Heft 11 ganz unvermittelt ab und wurde erst im September 1885 (Heft 49) wieder aufgenommen.


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   Was während dieser Zeit in May vorgegangen ist, wissen wir freilich nicht: kein noch so flüchtiger Satz bewahrte es auf. Aber das Werk hatte fortan, deutlich und immer deutlicher, das Bekenntnis mit zu umschreiben, das die innere Wahrheit über die äußere Gewalt gewinnen ließ, jenes Bekenntnis, das nur ein einziger, ganz leiser Satz im Gedicht zu Worten brachte: Du starbst ja nicht; du bist hinaufgestiegen / zu reinen Geistern, meiner Mutter Geist ... (114) Sie konnte für May nicht gestorben sein, weil der Konflikt, der an ihr Bild gebunden war, nicht sterben konnte; sie lebte fort in ihm und in dem Werk, dessen Struktur er zwingend verfügte. Und erst ganz zuletzt hat May es vermocht, auch diese Seelen-Wirklichkeit in einer großen Gleichnishandlung nach außen zu bringen, sich von der schmerzenden Seele fortzuschreiben: in »Ardistan und Dschinnistan«, wo der »Räudige«, von der Mutter Verlassene, ihren Tod nicht glauben kann: So oft ich vor diesem Grabe stehe, ist es mir, als ob mein Auge die Kraft habe, durch die Erde und durch die Wände des Sarges zu dringen, und da sehe ich ihn immer leer ... Das quält mich ungemein! Das hat mich schon seit Jahren gepeinigt und peinigt mich auch noch heute. Es packt mich oft so, daß ich kaum widerstehen kann ... (115) Wir finden in der Geschichte des Dschirbani die vielleicht großartigste Abbildung von Mays Seelenleiden, und die feinsten psychologischen Wahrnehmungen haben in ihr Gestalt gewonnen: Erkenntnisse etwa zum Wesen der Ambivalenz als Besetzungsstörung und zu jenem rätselhaft mächtigen und kreativen Schuldbewußtsein, von dem sich Freud noch am Ende seines Lebens notierte, daß es auch aus unbefriedigter Liebe entstehe (116), einem Schuldbewußtsein, das Mays Bild von der Mutter mit zunehmendem Alter immer mehr durchdrang. Wir werden es noch mehrfach zu definieren haben und später in einer gesonderten Arbeit gerade den Roman »Ardistan und Dschinnistan« ausführlich untersuchen und seine Bedeutung auch in diesem Sinne darstellen.

   Der Tod der Mutter bezeichnet die Peripetie in Mays Werksentwicklung: kein anderes Datum könnte die Folgeerscheinungen plausibel erklären. Mit ihm wurde die dunkel gebändigte Macht der ersten Identifizierung schlagartig frei, der einst so ersehnten, durch Verweigerung in die Ambivalenz gedrängten und darin gefesselten Anlehnung an die Mutter; und ihre Ansprüche begannen nun immer drängender


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in das Gefüge der zweiten, der mit dem Vater, einzugreifen, die das Ich-Ideal aufgebaut hatte. Die Abbildung im Werk ist bereits an der Oberfläche sichtbar: immer befremdlicher wird die omnipotente Härte der Ich-Gestalten von passiv-femininen Zügen durchbrochen; Kontemplation weicht die Sachschilderungen auf; das Abenteuer der Tat versteht sich zuletzt als reflektierte Reise in die Meta-Physik. Immer »persönlicher« greift Inneres in die Weltmechanik der Bücher ein: - die einmal entworfen waren, als Über-Instanzen abstrakter Gerechtigkeit den chaotischen Weltlauf zu regulieren, Kara Ben Nemsi und Shatterhand, greifen dem Räderwerk der eigenen Funktion in die Speichen. So bricht das Gesetz des Aktions-Romans am Ende in sich selber über sich selbst den Stab: die Kettenfunktion des »Auge um Auge« , das Stufenmuster des »Sühne auf Schuld« wird von dem selbst zerstört, der es verfügte. Schwäche antwortet nun der Gewalt, der Schuld nun Milde; auf den Geschichtsfeldern von Unrecht und Haß, erwählt einst, auf ihnen das Fürchten zu lehren, ersteht das Märchen von einem, der auszog, die Liebe zu lernen. Man kann den ungeheuren Vorgang fast nur metaphorisch umschreiben: den Widerstreit der beiden Identifikationen, das langsame Siegen der einen, das Unterliegen der andern, - die Kompliziertheit dieses tiefuntersten Motivgrunds erklärt zuletzt die ganze Widersinnigkeit der Reiseerzählungen bis 1900, ihre Absurdität wie ihre unvergleichliche, nie wiederholbar gewesene Anziehungskraft. Seelische Notwendigkeit nur konnte so das Unvereinbare verklammern und Form sui generis daraus werden lassen; daß »Fügung« sei, was wie störender Zufallseingriff ins Gefüge der Bücher wirkte, hatte May nun immer beschwörender zu beteuern. Macht zu üben, Überlegenheit und Herrschaft herzustellen in den Traumräumen des unterdrückten Lebens, war einst die Schicksalsfrage gewesen, die sein Schreiben in Bewegung brachte; nun dringt seine innerste Not und Entbehrung in die so kunstvoll ausgebildete schützende Abwehr ein, und die bohrende Frage, die May im Alter sibyllinisch genug dann Menschheitsfrage nannte, lautet fortan nur noch so, wie Kara sie dem blinden Münedschi stellt, als diesen die Angst vor dem Erwachen, das so schrecklich sein wird, packt: - »Hast du die Liebe?« (117)

   Der narzißtische Charakter ist, auf einem Nenner definiert, eine Schutzbildung gegen Regressionen auf die anale Stufe und ihre passiv


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femininen Fixierungen. Welche Gefahr das Einbrechen der vom Mutterbild bestimmten Züge, das wir im Werk erkennen, für Mays seelische Balance abzeichnet, ist so schon vom Modell her verständlich. Seine Entwicklung in den 90er Jahren stellt sich uns als eine sich unaufhörlich steigernde Reihe von Reaktionsbildungen auf regressive Erschütterungen dar, und wir stehen nur vor der Frage, warum die dauernd wirksamer geschädigte Charakterbasis keine stärkere Abwehr aufbaute, ja warum sie dem sichtbar nahenden eigenen Untergang so vergleichsweise schwächlich entgegenwirkte. Die Antwort wird uns von der Beobachtung erschlossen, daß sie den Regressionsschüben desto eher nachgab, je mehr Mays äußere Lebenssicherheit wuchs. Dieses Anwachsen ist bekannt: mit dem Erscheinen der Buchausgabe der »Gesammelten Reiseerzählungen« (1892) begann ein märchenhafter Aufstieg: zu Ruhm, zu Reichtum, zu gesellschaftlichem Ansehen. Bekannt ist auch der verhängnisvolle Schritt, zu dem sich May, panisch bewegt von dem so späten ungeahnten Erfolg, nun treiben ließ: er projizierte seine Ich-Ideale in die verlockend gefügig gewordene Außenwelt, er ließ sein zwischen den beiden Großkonflikten geducktes Ich in die errungenen Innen-Rollen schlüpfen und trat in ihnen, endlich stark, hervor: Dr. Karl May, genannt Old Shatterhand. Der Liebesarme, nach Liebe sich Sehnende vermochte nicht der Versuchung zu widerstehen, die Zuneigung, die sich so jäh millionenfach seinen Ich-Idealen zuwandte, dem eigenen Ich zuzulenken. Wir sehen mithin wohl Gründe, die Kritik an seinem Lebensverhalten im Halbjahrzehnt vor der Orientreise, der bei weitem bizarrsten, befremdlichsten Zeit, durch einen humanen Gesichtspunkt zu dämpfen: es waren die einzigen Jahre seines tragischen Lebens, in denen er »glücklich« lebte, in denen ein weniges von der Freude, die durch ihn für andere in die Welt gekommen war, zu ihm zurückkehrte. Immer hätte so die Darstellung dieser Zeit (und wir werden ihrer Erhellung einmal ein ganzes Jahrbuch widmen) neben den Schellen des Narrengewands auch die innere Stille zu hören, die mit ihm erkauft ward. Wir können sie leicht ins abstrakte Modell eintragen: mit der Verschmelzung von Ich und Ideal wurde, durch einen manifesten psychotischen Schub, die eine Hälfte von Mays seelischem Konflikt, der mit der Außenwelt, entkräftet: indem die Einordnung des Wahnbildes in die Wirklichkeit gelang, wurden die Konfliktbewegungen reduziert. Zugleich aber ermöglichte


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dieses quasi Ausweichen des Ideals in die Außenrealität ein Nachdrängen des Verdrängten, dessen Wiederkehr nun zunehmend immer weniger behindert wurde und zunehmend immer tiefer die Charakterpanzerung durchbrach. Die bildliche Umschreibung dieser unendlich komplizierten Stoff-Wechselbeziehungen zwischen den psychischen Instanzen muß zwangsläufig unzulänglich bleiben; doch wird der geduldige Leser an ihrer Hand immerhin erahnen können, was in May zu dieser Zeit vor sich ging, und dem Fachmann kann sie vielleicht als Rahmen-Anregung dienen, es einmal mit größerer Genauigkeit im einzelnen darzustellen. Erklärt werden könnten dann auch die seltsamen Doppelgesichtigkeiten Mays in dieser Periode: die hinreißend sympathischen Züge seines bürgerlichen Privatlebens neben den Grimassen seines öffentlichen Auftretens; dessen schwer erträgliche, geschmacklose Renommisterei neben der davon gänzlich unberührt bleibenden Ruhe und Würde des Werks. Die Harmonie und Balance, in die Mays Leben zu dieser Zeit, auf welchen riskanten Wegen immer, gelangt war, war nur Schein: die Stille, die wir zu hören versuchten, eine vor dem Sturm, ja vor der unausweichlichen Katastrophe.

   Die Katastrophe traf ihn jäh und mit einem Schlag. An einem einzigen Tag, einem Novembertag des Jahres 1899, dem Schutz der errungenen Umwelt um ein Drittel Erdumfang entrückt, unter fernöstlichem Himmel, brach das gesamte Innengefüge seiner Existenz in sich zusammen.




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Wir standen Mann gegen Mann einander gegenüber.
Oder war es Seele gegen Seele, Geist gegen Geist?
»Du bist Old Shatterhand?« fragte er ...
»Ich war es« , antwortete ich ruhig aber bestimmt ...
»Du bist Kara Ben Nemsi Effendi?«
»Ich war es«, erwiderte ich abermals ...
(118)

   Welchem gefährlichen Risiko May seine innere Existenz durch die große Reise in den Orient aussetzte, ist für den Rückblick deutlich genug, und es gilt imgrunde nur eine psychologische Binsenwahrheit auszusprechen: die jähe riesige Erweiterung der Außenwelt mußte die gewonnene Realitätssicherheit zwangsläufig vernichten und den psychotischen


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Konflikt grell wieder aufbrechen lassen. Das äußere Bild ist durchaus tragischer Aspekte fähig: wie May da in Pose und Gewand seiner Ich-Ideale auf einmal mitten im Getriebe eines Weltlaufs steht, der über ihn hinweggeht wie über einen Anachronismus, und Ansgar Pöllmann, der einzig die komische Seite gelten ließ, hatte Unrecht nur mit der Bewertung, mit der Wahrnehmung nicht. (118a) May hat den Zwiespalt ersichtlich rasch zu spüren bekommen und sich davor geduckt: wo anfangs noch alle mit Kara Ben Nemsi Afrika betreten wollten und Karl May eine so bekannte Größe war, daß ich an keinem von Europäern besuchten Ort meinen Namen sagen darf, wo er sich sogar oben in Brumana, einem kleinen Flecken im Libanon, entdeckt und angeschwärmt sah (119), wurde es bald vorsichtig still, und Kontemplation, zunehmend isoliert und verkapselt, trat an die Stelle heroischer Gesten. Doch daß die ungeheure Verwandlung seiner seelischen Szene in ganz der Heimlichkeit und Stille vor sich gegangen sei, die aus den Zeugnissen der Reise spricht, würden wir auch dann nicht annehmen müssen, wenn die Dokumente gänzlich schweigsam blieben. Wir kennen ihr Ergebnis, und dieses Ergebnis war das eines Schocks, einer so ins tiefste Fundament reichenden Erschütterung, daß wir ein weiteresmal die hohe Reaktionskraft zu bewundern haben, die ihn sie überleben ließ. Wir können sie datieren, denn May hat über sie nach Hause berichtet, am 17. 11. 1899 aus Padang, und zwischen dem 10. 11. und diesem Datum muß sie ihn getroffen haben. Der Brief selbst ist nicht erhalten (120), er hat vermutlich soviel Intimes mitgeteilt, daß Klara May ihn vernichtete. Aber Klara May auch bewahrte ein Echo seines Inhalts auf, und so sind wir imstande, mit einem Dokument zu belegen, was sonst auf den inneren Beweis angewiesen bliebe:

   »Auch aus Sumatra schrieb K. M. nach Hause, daß er einen Anfall jener schrecklichen, quälenden Beeinflussung durchgemacht habe, die ihn zu seinen unsinnigen Taten zwang. Er habe 8 Tage gegen diesen Anfall kämpfen müssen und sich in dieser Zeit, wie ihm nachträglich klar wurde und wie ihm sein Diener Hassan sagte, wie ein Irrsinniger benommen. Ein Zwang trieb ihn, alle Nahrung in den Abort zu werfen. Er tat es und hungerte, bis endlich der Normalzustand siegte. Hier war er allein, und nur aus seinem Bericht kam uns die Kenntnis.

   Ein zweiter solcher Fall, den ich miterlebte, trat ein in Konstantinopel. K. M. war mit seinem Freund Schmitz du Mullin (?), der ihn mit Abdul Hamed bekannt gemacht hatte, auch eines Nachts an einem Ort gewesen, wo zu damaliger Zeit noch im Verborgenen der Mädchenhandel betrieben wurde. Der Ort und die dort verkehrenden Menschen müssen auf K. M. einen derartigen Eindruck gemacht haben, daß er


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nach dem Besuch in einen derart unnormalen Zustand geriet, der uns so beunruhigte und erschreckte, daß wir befürchteten, ihn einer Irrenanstalt zuführen zu müssen. Nach 8 Tagen, genau wie auf Sumatra, flaute der Zustand ab, er nahm wieder Nahrung zu sich. kam aber mit keinem Wort auf die entsetzliche, eben überstandene Zeit zurück; auch wir vermieden alles Fragen.« (121)

   Was May in Padang widerfuhr, wird äußerlich immer dunkel bleiben; der Anlaß ist nicht mehr zu erfahren, und Vermutungen darüber wären ein zu großes Wagnis. Definierbar aber ist das innere Ereignis: es war nichts geringeres als ein totaler Zusammenbruch der narzißtischen Schutzpanzerung, eine schockartige Regression auf jene frühe Stufe der Analität, auf der die Anlehnung an die Mutter einst traumatisch fixiert worden war. Die Geistesgeschichte kennt, soweit ich sehe, nur ein einziges ähnliches Beispiel eines narzißtischen Zusammenbruchs ähnlicher Konstellation: die Katastrophe Nietzsches in Turin an einem der ersten Januartage 1889, die den atypisch jähen Ausbruch der Paralyse herbeiführte. Bei Nietzsche kehrte das Verdrängte der Mutterbeziehung in dem Gefühl wieder, das seine Philosophie mit den mächtigsten Worten verworfen hatte: er stürzte beim Anblick eines elenden Droschkengauls von einem Paroxysmus des Mitleids überwältigt auf der Straße zusammen (122) Was bei May, nicht minder überwältigend, durchbrach, gehörte derselben Affektsphäre an; nur trug es den anderen, hinfort immer gleichen, zum Zentrum von Werk und Leben werdenden Namen: Liebe. Und »die Liebe« war es zuletzt, die seine nun einsetzende gänzlich neue Psychologie im Innersten bewegte: sie auch meinte er so, die einst verlorene und nun wiedergefundene, wenn er - das Mutterbild vor Augen - in sibyllinischer Klausel von »der Seele« sprach. In ihr restituierte er die zerbrochene Imago der Person, die in seelischer Beziehung den tiefsten und größten Einfluß auf meine Entwicklung ausgeübt hatte; Restitutionen der Mutter wurden bis ins Äußere fortan alle die hochedlen Gestalten des Werks, die, nach der immer wiederkehrenden Formel, Seele, nichts als Seele waren. Die Liebe, die Seele: in ihr lag nun für May der Bezugspunkt seines gesamten Lebenssinns, in Rückschau und Zukunft. In meiner Erinnerung tritt zuerst das Märchen »von der verloren gegangenen und vergessenen Meschenseele auf ... Ich beschäftige mich nur mit ihr, mit weiter nichts ... Ich habe mir die schwere Aufgabe gestellt, der Monograph der »Menschheitsseele« zu werden ... (123): solche Sätze, dem oberflächlichen Ohr allzu leicht nur ver-


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schnörkelter Schall, geben nun auf einmal schwerste Bedeutung preis, und Pöllmann hatte mit seinem naheliegenden Spott ein weiteresmal Unrecht. (124) In welch tiefer Beziehung die Liebesmythen des Spätwerks Psychologie waren, vermochte von den Zeitgenossen keiner zu erkennen, so beschwörend May auch immer wieder darauf hinwies; seine »geringe Fähigkeit zu diskursiver Abstraktion« (125) gab ihm die Kraft nicht, anders als in großen Bildern davon zu reden. Sie aufzurichten aber wurde der eine, alles bewegende Sinn seiner Altersarbeiten: eine letzte, erlösende Revision, in der die »reine Torheit« untrennbar zur Größe gehört, die wir ihr künstlerisch zusprechen. Wer ihrer zu spotten vermöchte, müßte auch fähig sein, den Parzival des Meisters Wolfram gering zu achten: nur einmal, Jahrhunderte vor Mays Spätwerk, ist das Menschheitsleiden des Narzißmus und seine Überwindung in gleicher Größe zu Literatur geworden.

   Die Überwindung gelang; der Widerstreit zwischen den beiden Identifikationen wurde entschieden, das alte Ich-Ideal vollständig zerstört und durch das ältere, traumatisch gebundene der Mutterfixierung abgelöst. Welche Kraft diesen Vorgang bewirkte, welcher Anstoß die Zertrümmerung einleitete, bleibt dunkel; die analytische Praxis kennt sie nur als Durchgangsstadium der Therapie. Ermeßbar aber ist, welche Kraft sie für die Zukunft erforderte und band. Das Ich war durch den Regressionsschock auf eine infantile Stufe zurückgeschleudert worden; von ihr aus hatte es sich gleichsam neu zu entwickeln, und zwar ein zweitesmal unter der erdrückenden Last des alten, ungetilgten Traumas jener Mutterschuld, über die wir in der eingangs analysierten Deckerinnerung Auskunft erhielten. Die Reaktionsbildungen nahmen Mays ganze innere Kraft in Anspruch, und sein ganzes Spätwerk wurde deren Instrument. Erst jetzt brach der Urkonflikt, der durch all die Jahrzehnte hin in Ambivalenz gebunden gewesen war, grell hervor, jetzt, wo sich die so spät gewonnene Liebe dem abermaligen Ausweg in die Ambivalenz mit aller Macht verweigerte. Die Schuld der Mutter mußte entkräftet werden, sollte die Idealbildung gelingen, und wir wissen aus dem Werk, in das May die Hochspannung der Seele abführte, wie sie gelang. Die Schuld der Mutter, die einst »einen Anderen« geliebt hatte, wurde zum Recht der Mutter, alle Welt zu lieben; das Recht des Kindes aber, das jene Liebe einst für sich allein beansprucht hatte, zur Sünde


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der Anmaßung und zur gnadebedürftigen Schuld. In dieser, freilich nur scheinbar so einfachen Formel wurzelt Mays ganze späte Humanität; in ihr liegt das Zentrum aller seiner ethischen Modelle, seiner »theologischen« Systeme und Thesen, und es mag zuletzt die geringste Erkenntnis nicht sein, die über sie zu gewinnen ist, die eher befremdlichen. den Skeptiker herausfordernden: daß sie so wahrhaft menschlichen Ursprungs waren.

   Wir sind uns bewußt, wie vergröbernd und der Vorstellung mühselig eine mechanistische Darstellung der Wechselbeziehungen zwischen den psychischen Instanzen im Fall einer so profunden Persönlichkeitsveränderung bleibt, wie wir sie beim späten May vor uns sehen und wie sie auch der früheren, psychologisch ganz ahnungslosen Forschung sichtbar gewesen ist. Allein es mag für den beschwerlichen Weg entschädigen, daß wir auf ihm zu einer Warte gelangen, von der aus Mays ganzes Alterswerk durch- und überschaubar wird, und die Frage nach dem Beweis für das scheinbar nur Theoretische, die uns gestellt ist, wird dann mit Gewißheit keine Frage mehr sein.




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Sie wundern sich über die Sicherheit, mit welcher ich das wahrscheinlich Kommende voraussage? Hätten Sie eine Ahnung von der strengen, unfehlbaren Logik, mit welcher sich diese für Sie so geheimnisvollen psychischen Tatsachen entwickeln, so würden Sie nicht staunen. Die Ereignisse auf diesem Gebiete geschehen nach wenigstens ebenso unerschütterlichen Gesetzen wie die Vorkommnisse der nicht metaphysischen Welt ... (126)

   Denn May hat alle seine Befindens- und Entwicklungszustände im Werk abgebildet, in zwanghaft immer wiederkehrender Reproduktion. Der regressive Charakter des Schocks, der ihn in Padang traf, wurde schon aus Klara Mays Bericht deutlich: die Suizid-Tendenz, die das Zerbrechen der Panzerung und die damit freiwerdende infantile Angst zeitigte (der Analytiker bekommt es mit Selbstmordneigungen bei der Therapie narzißtischer Affektionen in diesem Stadium häufig zu tun), äußerte sich in ersichtlich infantiler Gestalt: Verweigerung der Nahrungsaufnahme (127); und daß May das Essen in den Abort warf, stellt den Bezug zur Analitäts-Phase zweifelsfrei her. Noch augenfälliger, vor


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allem in der Quantität ihrer Wiederholungen, sind die während und kurz nach der Reise niedergeschriebenen Gedichte und Sprüche: sie spiegeln den Rücksturz ins Kindheitliche in unverstellter Reinheit wider, kaum zugedeckt von der Glätte der schematischen Faktur. May hat sie lebenslang überschätzt, und das müßte uns sonst äußerst befremden: die ästhetischen Maßstäbe, die er gerade jetzt an seine Prosa legte, hätten ihm die Erkenntnis ermöglicht, daß es sich - bis auf wenige Ausnahmen - um anachronistische Gebilde handelte, um flüssigen Kitsch und klischierte Banalitäten. Er gelangte zu dieser Erkenntnis nicht; er hielt an ihrer Bedeutung mit Kräften fest, die uns nur eines erklären kann: er hatte ein vages Bewußtsein davon, welche Abfuhrleistung sie enthielten und welche innerste Wahrheit noch den letzten kümmerlichen Vers bewegte. So konnte er Cardauns' Urteil (»Als lyrischen Dichter aber müssen wir uns Herrn May verbitten ...« ) blamabel finden und auftrumpfend beantworten (128), mit einem Satz, der sehr wunderlich bliebe, ließe er sich nicht aus einer parallelen Briefstelle präzisieren: Dabei enthält das Buch, schrieb May, nicht ein einziges lyrisches Wort, sondern nur gereimte psychologische Perspectiven! (129) Ihr eigentliches Material ist unbewußt: das erst kann voll erklären, warum Thematik und Form so unprägnant blieben, flach flimmernde Folien nur für das, was sich von unten auf ihnen aussprechen wollte. Die kleine Form wurde von ihm nie als Disziplin begriffen; nur daß sie ermöglichte, isolierte Materialien seelischer Bewegung abzulegen, deren Einordnung in größere prosaische Zusammenhänge starke Verwandlungsarbeit erfordert hätte, bestimmte ihre Wahl. Er hat solche Perspektiven bis ans Ende gereimt, mit einer Geläufigkeit, die fast vermuten lassen könnte, er habe das Sprechen in Versfüßen als Erleichterung empfunden, die Vorgaben der Reimgerüste als willkommene Prothesen. Bist du Dichter, so beobachte dich einmal recht aufmerksam während der Arbeit. Du wirst gewiß bemerken, daß Gedanken und Reime aus ganz verschiedenen Richtungen kommen (130): so leicht konnte die wichtigste Ahnung im Gemeinplatz Unterschlupf finden. Infantil ist die gesamte Ich-Position der Gedichte: es spricht ein Kind, und das Deckmotiv der christlichen »Gotteskindschaft« kann nicht verbergen, daß mit all den gestammelten wohlgemeinten Worten in Wahrheit nur die eine Person gemeint ist, der Des Kindes Seligkeit (131) gilt. Liebe ist ent-


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sprechend ihr zentrales Motiv; »Liebes-Psalmen« sollten sie ursprünglich heißen. Es ward vom Herrn ein großes Wort geschrieben, / Wie größer es kein andres, zweites giebt: / Wer Liebe finden will, muß selbst auch lieben, / Weil nur empfangne Liebe wiederliebt ... / Nur der versteht es, recht und wahr zu lieben, / Der die empfangne Liebe weiterliebt ... / Einst wird das Kind so wie der Vater lieben, / Die Kreatur so, wie der Schöpfer liebt ... (132): - um solcher und ungezählter ähnlicher Bekenntnisse willen haben wir den Gedichten Mays eine Aufmerksamkeit zu schenken, die das künstlerische Urteil ihnen größtenteils mit allem Grund verweigert.

   Zu beschäftigen hat uns im Zusammenhang mit der Katastrophe Mays auch ein Gleichnis, das kurz nach der Reise entstand, und auch hier ist die Aufmerksamkeit gegen den ästhetischen Protest durchzusetzen. Denn Die chinesische Erzählung von der Taucherinsel »Ti« (133) gehört unter den Symbolbildern des Spätwerks zu den allerbrüchigsten, und wer von Parabeln fordert, daß sie Transportmittel konkreten Sinns seien, mag leicht die Geduld davor verlieren. Aber dies wird uns nur einmal mehr ein Hinweis sein, daß darin ein Sinn zu Worten drängte, der »dringender« war als die Syntax äußerer Logik. »Ti« ist die Erde, mitten im großen Weltenmeer ... von einem Fürsten regiert, welcher jedem seiner Untertanen eine bestimmte Lebensaufgabe stellt ... diese Untertanen sind Taucher ... haben die verschiedenen Schätze des Meeres an das Tageslicht zu heben. Zu diesem Zwecke gibt es eine unzählige Menge von Taucherrüstungen ... jede von einer in ihr wohnenden, sogenannten Anirna in Stand gehalten, welche mit ihr entstanden ist und mit ihr wieder untergeht ... Was so weit einfach ist, wird von May auch einfach erklärt; doch wir werden seine, zudem bald ins Stolpern geratende Erklärung einmal ganz beiseite lassen: - die Wahrheit seiner Bilder war stets tiefer und präziser als die Exegese, die er ihnen beigab. Und da gewinnen wir in diesem Fall den durchaus erstaunlichen Befund, daß er seine Kenntnis vom beseelten Menschenkörper in dem gleichen Bild aussprach, mit dem der Psychoanalytiker Wilhelm Reich ein Vierteljahrhundert später die Charakterfunktion definierte: dem einer Schutzpanzerung, die Bewegung im feindlichen Element der Realität (... die Meeresflut ist das Leben ...) ermöglicht. Wer nun sind die »Taucher«, die unsichtbaren, geheimnisvollen Intelli-


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genzen, welche wir als »Geister« bezeichnen? Wir erkennen sie an der Über-Instanz, die ihr Wirken zensiert: die Arbeit wird überwacht, sehr streng, viel strenger, als die Taucher meinen, obgleich die Regierung eine Regierung der allergrößten Liebe ist. Aber grad weil diese Liebe Alle umfaßt und sich nicht nur auf einzelne richtet (!), ist diese Strenge geboten, sobald die Liebe versagt. Zeigt sich ein Taucher seiner Rüstung nicht wert, bringt er Schwämme oder Tang anstatt der Perlen, so wird sie ihm genommen und einem Würdigeren gegeben ... Bei Waller, der Ich-Projektion des Buches »Friede auf Erden« , in dem das Gleichnis steht, hat nun die Liebe versagt, die Rüstung wird ihm genommen und liegt defekt am Strand (von Padang), in Erwartung des Würdigeren, der in ihr Wohnung nehmen soll: - Ablösung des Ich-Ideals. Denn es wird der Augenblick kommen, an dem sich der neue Taucher dieser Rüstung naht ... und wenn wir gut aufmerken, können wir es beobachten ... Den Vorgang selbst hat bei May niemand beobachten können; nur rekonstruieren ließ er sich. Das Ergebnis aber ist so eindeutig, wie das späte Werk es uns zeigt: Der neue Taucher ist da, und er hat sein Werk bereits begonnen. Das würde er aber mit einer hinfälligen, gefährlich defekten Rüstung niemals wagen. Sie ist repariert worden, und zwar von Grund aus, leise, heimlich, ohne daß wir Etwas davon bemerkten ... Genauer ließe sich die Altersneurose Mays auch von der Theorie her nicht umschreiben: das neue Ich-Ideal in der alten Charakter-Rüstung, deren Trümmer sich reparierten. Das Glück der Gesundung konnte ihm nicht zuteil werden, so eindringlich er es auch versicherte. Aber das Bewußtsein der seelischen Kraftleistung, die er vollbracht hatte, brachte ihm Kraft für das nun notwendig werdende Werk. Bald schon hat der neue Taucher die Anima gezwungen, ihm die Sprachwerkzeuge abzutreten. Ich glaube, der kümmert sich nicht um Algen und um Tang, sondern wir werden Höheres und Besseres zu sehen bekommen Ich vermute die größten und die schönsten Perlen der Tiefe!

   Die Vermutung Mays hat sich in der Folge bestätigt, und wir werden Arno Schmidt nicht zustimmen, der das Buch mit der Realitätselle maß (133a), - so wenig wir einem Kritiker zustimmen würden, der es unternähme »Zettels Traum« oder die »Schule der Atheisten« mit der Realitätselle zu messen. »Friede« gehört zu Mays durchaus bedeutenden Büchern, Waller zu den bedeutendsten Widerbildern seines Ichs.


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Es gab unter uns nicht einen Einzigen, der sich den Wandlungen hätte entziehen können, welche mit Waller schon damals auf den Dschebel Mokattam begonnen und Jeden, der mit ihm in nähere Beziehung gekommen war, mit in ihren Bereich gezogen hatten. Er fuhr von Amerika nach China; aber während diese große räumliche Bewegung vor sich ging, machte er innerlich eine Reise, welche von viel größerer Weite und Bedeutung war, denn sie führte ihn in eine solche Ferne, daß es ihm geradezu unmöglich wurde, an den Punkt, von dem sie ausgegangen war, jemals im Leben wieder zurückzukehren ... (134)

   Waller, Amerikaner, Missionar, Ostasienreisender, tritt uns schon gleich zu Beginn des Buches als schwerer Psychotiker entgegen: sein Wahn ist die Heidenbekehrung: ihre Tempel haben in aller Welt zu fallen. Ihre Säulen müssen zerstört und ihre Mauern eingestürzt werden. (135) Wir erfahren später aus einem Gleichnis, welche Mauern es sind, die dieser pilgernde Mauermann (136) in unablässiger Wiederholung zum Einsturz bringen muß, und begnügen uns einstweilen mit Mays hinterhältiger Frage: War dies nichts Anderes zu nennen, als nur ein bevorzugter Gesprächsgegenstand? Ließ es sich einfach nur aus seinem Beruf als Missionar erklären ...? Oder sollte - - ? Nein! Den Gedanken an eine geistige Störung mußte ich in Rücksicht auf eben diesen Beruf von mir weisen. Wallers Wahn nimmt im Verlauf der Reise immer mehr zu und auf Sumatra schließlich, in einem malaiischen Dorf, bricht er aus: Waller legt Feuer an einen Tempel (... der nächste Tag war ein konfuzianischer Feiertag ...) und löst damit einen Schock aus, der ihn in eine schwere innere und äußere Krankheit stürzt. Hier haben wir uns nicht nur der Ereignisse von Mays Orientreise, die wir darstellten, sondern auch des gesamten Urszenariums zu entsinnen, von dem unsere Analyse ausging, wenn wir die Folgevorgänge ebenso verstehen wollen wie die Reaktion des Erzählers May, als er sich die Tat berichten läßt, infolge der Erinnerung: Ich sagte nichts, kein Wort; ich konnte nur denken - - denken - - - denken!

   Um zu verdeutlichen, wen May hier in Waller darstellt, tragen wir noch weitere Züge zusammen. Der eigentliche Täter nämlich ist Amerikaner nur so weit, wie er in Amerika Old Shatterhand hieß; in Wirklichkeit wohnt er im Abendlande ... Er hält sich ganz allein für gottbegnadet und für den Allerbesten, den es gibt. Seiner Meinung nach


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ist er der Weiseste, der Intelligenteste, den man sich denken kann. Er glaubt, daß er berufen sei, das, was er denkt, dem Weltkreis aufzunötigen, und fühlt sich berufen, diesen Zwang mit allen Mitteln durchzuführen, sei es die verschlagenste List oder die roheste Gewalt ... ein Lügner und Aufschneider, ein Prahl- und Flunkerhans, ein Rebell gegen die Menschenrechte, ein Renommist und Windbeutel, ein unverschämter Händelsucher, ein frecher Raufbold, ein anmaßender Patron ... Man möchte seinen Stammbaum kennen lernen, seine Eltern und Erzieher! Denn daß ihm dieser Unsinn nur von ihnen beigebracht worden sein kann, das versteht sich ganz von selbst! Es versteht sich in der Tat von selbst, und wir hören nur noch die Präzisierung, die May ein paar Seiten später der Darstellung seines einstigen Ich-Ideals nachreicht: so Männliches, Tyrannisches und über alle Maßen Rücksichtsloses hatte Waller als Kind nicht gehabt, sondern nach und nach von seinem Vater und von seinen Lehrern empfangen ... Wir werden uns von dem Schrecken, May so von sich reden zu hören, wohl erholen und dem uns schließlich angetragenen Deck-Sujet Das Vorurteil nicht folgen müssen, mit dem er, selber vom Schreck gepackt vor dem tief ausbrechenden Bekenntnis, seine Wahrheit wieder zu maskieren suchte; lieber fragen wir, um was es sich bei diesem Vorurteil denn handelte, dieser bösen, menschenverderbenden Macht, die ihn beherrschte, wenn die andere, die gute, von ihm gewichen war ...

   Von Waller gewichen ist die Liebe; seine Krankheit ist die Liebesunfähigkeit, und so ist auch sein Christentum ein selbst konstruiertes und bestand nur aus dieser leeren, öden Konstruktion, welcher Christi Geist und Christi Liebe fehlte. Nur als Erinnerung ist sie ihm geblieben, an seine verstorbene Frau, deren Ebenbild ihn in Gestalt seiner Tochter Mary begleitet. Und wir kennen den wichtigen Signalsatz bereits, der uns diese Tochter Mary vorstellt: Wenn sie sprach, so war ihr anzuhören, daß sie es nicht mit dem Munde, sondern mit der Seele tat. Es klang ganz so, als ob über diese Lippen nie ein liebloses Wort gekommen sei oder kommen könne. Vom Vater hatte sie das nicht geerbt; es konnte nur die Gabe einer vortrefflichen, an Herzensbildung reichen Mutter sein. Mary selbst spricht die uns im Kern ebenfalls schon bekannte nähere Bestimmung aus: Wie wäre es mir möglich, der verstorbenen Mutter zu vergessen, deren Liebe mir eine ganze Welt gegeben hat! Ich


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kann sie mir nicht tot denken. Ich weiß, sie ist noch heut bei mir, wie sie stets bei mir gewesen ist ... Seit ihrem Scheiden wohnt und wirkt in mir Etwas, was vorher nicht vorhanden war. Die, welche der Sprachgebrauch so fälschlich Tote nennt, haben vielleicht größere Macht über uns, als wir uns denken können. Waller ist May; wer aber ist Mrs. Waller? Sie war eine Deutsche, und als Waller später im Fieber spricht, geschieht es zuweilen auch in einer Sprache, die ich nicht verstehe (sagt der Malaienpriester); er spricht dann mit der guten Macht in seinem Innern, und die war ein Weib, und wenn er mit ihr sprach, wurde er sanft und lieb und gut. Er weinte zuweilen dazu und nannte sie seine Seele. Wer ist diese Seele, und warum erblicken wir die Tote in ihrem verjüngten Ebenbild? Wir getrauen es uns über alle maskierenden Verwandtschaftsbeziehungen des Buches hinweg zu sagen: Mrs. Waller ist in Wahrheit Waller/Mays Mutter; in der jungen Mary sehen wir sie, wie das Kind May sie sah; und Mary selbst hat im Buch ihren Namen und ihre Funktion zuletzt darum erhalten, damit sie, Mrs. Waller, fortan in der Erzählung Ma(r)ys Mutter heißen konnte.

   Die Szene, in der May die Mutter zum erstenmal erblickt und eine ihrer Botschaften vernimmt, hat geradezu magischen Charakter. Sein Diener hat in Colombo ein Damennotizbuch gefunden, und May öffnet es, um die Besitzerin (es ist Mary) zu ermitteln: Es enthielt eine Photographie in Visitenkartenformat. Als ich sie herauszog, kam mir zuerst die hintere Seite vor die Augen. Da sah ich in weicher, schöner, regelmäßiger Frauenhandschrift und deutscher Sprache die Zeilen geschrieben: »Zwei Geister streiten sich um Dich, ein guter und ein böser, der eine nur angeblich, der andre wirklich fromm. Heut bist Du wie der eine und morgen wie der andere. Gott gebe Dir und mir ein frohes Resultat.« Die andere Seite enthielt das Bild der Schreiberin. Eine schöne, vielleicht vierzig Jahre zählende Frau, die mir bekannt vorkam, um so bekannter, je länger ich die Photographie betrachtete. Wo hatte ich diese warmen Seelenaugen geschaut, deren Blick unablässig um irgend Etwas zu bitten schien? An dieser wichtigen Stelle (und wir müssen dem aufmerksamen Leser die Einzelheiten nun wohl nicht mehr erläutern) wird die Botschaft der Mutter mit einer anderen Signal-Reihe verknüpft, die May durch das ganze Buch hin auf seine Gestalten und besonders Waller einwirken läßt: in Gestalt des Gedichts Tragt Euer Evangelium hinaus ... In Kairo


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hatte er vier Zeilen davon geschrieben, die ihm der Wind davon und in Marys Hände trug; er findet sie jetzt in ihrem Notizbuch (... man denke sich die Größe meines Erstaunens ...) und schreibt vier neue Zeilen hinzu - welche Zeilen? Wir wollen sie hören: Gebt, was Ihr bringt, doch bringt nur Liebe mit, / Das Andre alles sei daheim geblieben. / Grad weil sie einst für Euch den Tod erlitt. / Will sie durch Euch nun ewig weiter lieben ... Wir vermögen den mystischen Satz und die, wie wir jetzt sehen, ganz brüchig nur deckende Christus-Metapher (137) aufzulösen: daß »die Liebe« für Waller/May (und die Großschreibung der Anrede zeigt, daß nur eine Person angesprochen wird) den Tod erlitt, heißt nichts anderes, als daß sie für das Fühlen des Kindes einst »gestorben« war. Wer in Wahrheit aus dem Gedicht redet, wird uns später noch deutlicher gemacht: da beteiligt sich May schalkhaft an dem Rätselraten, wer wohl der Verfasser sei, und vermutet den Professor Garden, worauf Mary entschieden erklärt: Der? O nein! Professor Garden würde nie, nie in seinem Leben auf die Wendung kommen: »Grad weil sie einst für Euch den Tod erlitt, / Lebt sie durch Euch, um weiter fortzulieben.« Er hat auch Seele, aber diese nicht, nein, diese nicht! Es spricht hier eine Stimme zu mir, fast wie die Stimme meiner verstorbenen Mutter ... (138) Und wenn es noch eines weiteren Beweises bedürfte, so würde er uns von Tsi gegeben, den May in aller Unschuld überlegen läßt: Ich frage mich vergeblich, ob es von einem Manne oder von einer Frau verfaßt worden ist. Der geistige Aufbau läßt auf eine männliche Logik schließen, aber die Seele, welche aus ihm spricht, kann keine andere als nur eine weibliche sein ...

   Warum machen nun grad diese Zeilen einen solchen Eindruck auf Waller, der doch keine andere Liebe kannte als nur die zu seiner Frau und Tochter? Die Antwort ist einfach: Es spricht aus ihnen eine Güte, welche Mrs. Waller wohl auch in hohem Grade besessen hat. Darum nimmt er diese Worte hin, als seien sie von ihr zu ihm gesprochen ... Was Waller antwortet, soll uns jetzt beschäftigen, und damit kommen wir zu den zentralen Szenen des Buches.


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Jeder wußte, daß der warme, weiche und Allen bemerkbare Hauch der Liebe und des Friedens von der Stelle ausging, an welcher der im Rauch und Qualm und Ruß des brennenden Tempels verschwundene Geist durch einen neuen, friedlich denkenden ersetzt werden sollte. - Was habe ich da gesagt! Ein Geist sei zu ersetzen! In einem und demselben Körper! Durch einen neuen, einen vollständig andern! (138[a])

   Für Waller war Ma(r)ys Mutter, wie wir hörten, sein Engel gewesen, der nun nicht mehr mahnend und schützend bei ihm stand. Es entwickelte sich infolge dieses schweren Verlustes in ihm eine innere Schwäche, welche ein anderer wohl als Gemütskrankheit bezeichnen würde, für mich aber ist es die Hilflosigkeit eines zur Waise (1) gewordenen Mannes ... (139) Jeder abendländische Arzt würde mit der größten Überzeugung sagen, daß Waller wahnsinnig geworden sei. Es versteht sich ganz von selbst, daß ich dies Miß Mary verschweige, zumal ich dieser Ansicht ganz unmöglich beizustimmen vermag. Er spricht nämlich grad während der sogenannten Wahnsinnsanfälle überaus klar und richtig. Ja, seine Logik kommt mir dann so scharf, so unwiderstehlich, so erhaben, fast überirdisch vor. Es ist nichts Monomanes, nichts Gestörtes, nichts krankhaft Unsicheres dabei. Diese Anfälle wirken auf sein körperliches Befinden vorteilhaft, anstatt es zu deprimieren. Er scheint in eine Duplizität oder gar Triplizität gespalten zu sein. Jetzt spricht er selbst, mit seiner eigenen Stimme und in seiner gewöhnlichen, uns Allen bekannten Weise. Plötzlich ändert sich sein Ton. Er redet nicht mehr englisch, sondern deutsch. Sein Ausdruck ist ein höherer geworden. Er bringt sogar Reime, die tadellosesten Reime, die man sich denken kann. Und sie klingen sanft, zart, weich, wie aus einem liebevollen, bittenden Frauenmunde. Und ebenso plötzlich fällt ihm ein tiefer, starker Baß in die Rede, während seine Stimmlage doch fast noch höher als Bariton ist. So ist es, als ob er aus sich selbst und noch zwei andern Wesen bestehe, welche sich um sein Denken und Fühlen mit einander streiten ...

   Waller ist nach seiner Brandstiftung auf Sumatra völlig zusammengebrochen: er lebt, das heißt, der Körper ist nicht tot. Sein Inneres aber hat sich noch nicht wieder geregt. Hier liegt der Fragepunkt, wenn nicht für jetzt, so doch für später. Denn die gestrige Katastrophe war keine leibliche, sondern eine geistige. Nicht sein Körper brach unter ihr


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zusammen, denn diesem gebrach es schon vorher an aller Kraft, sondern etwas ganz Anderes, was, wie ich hoffe, sich niemals wieder erheben wird ... Bleibt ihm das Leben erhalten, so vermute ich, daß ein wochenlanges körperliches Stilliegen folgt, während dessen sich seine Psyche wieder einzustellen und zu entwickeln hat ... Und nun geht May daran, die Verwandlung Wallers zu belauschen:

   Es herrschte tiefe Stille im Zimmer: auch draußen regte sich nichts; der Kranke lag wie tot. Nach einiger Zeit gab Mary mit der Hand ein Zeichen. Ich sah, daß er die Lippen bewegte. Dann klang es langsam und leise zwischen ihnen hervor: »Ich sehe dich, und höre dich, mein Lieb! Du bist nicht tot, du bist in meiner Seele. Du hast es mir gesandt, weil ich's vergessen hatte ...« Mary hatte, vielleicht es gar nicht wissend, ihre Hand auf die meine gelegt. »Er spricht mit Mama« , flüsterte sie mir zu. »Er tat es schon vorhin.« Sie nahm meine Hand fester, als ob sie für das nun Folgende nach einem Halte suchen müsse. Ihr Vater sprach nach dieser Pause weiter: »Du gingst von mir - - ich war mit ihm allein, mit ihm, vor dem du mich so oft gewarnt, und darum konnte es nicht anders sein: er hat mich vollends, durch mich selbst, umgarnt. O glaube mir, ich hab es nicht gedacht, daß Christi Wege andre Wege sind; der fromme Dünkel hat mich irr gemacht; er ist der Hölle größtes Lieblingskind ...«

   An dieser Stelle erfolgt nun eine im allerhöchsten Grade interessante assoziative Schaltung: die in die Spitzenworte Hölle und Kind mündenden beiden Gedankenlinien schneiden sich in einem grellen Punkt; wir erkennen auf einmal, auf welche Situation sich Wallers Gesichte unter der Schwelle zubewegten, erkennen, mit wem er in dieser Situation einst allein war und vor wem ihn die Mutter so oft gewarnt hatte: es ist die Kindheit, in die ihn der regressive Schock zurückschleuderte, und der an dieser Stelle erreichte Punkt ist der Brenn-Punkt des Ödipus-Komplexes. Nur zu folgerichtig beginnt nun in seinen schweifenden Symbolbildern das Feuer zu brennen, das wir aus der Urszene kennen:

   Er schlug die hagern Hände zusammnen, riß die Augen auf, starrte über sich empor und sprach, lauter und schneller als bisher: »Ich sehe, wie die Flamme aufwärts steigt, die ich entfacht mit frevlerischer Hand. Ich sehe, wie sich weinend zu mir neigt der Engel, den du mir herabgesandt. Ich sehe dich; ich seh dein teures Haupt. Wie trauert doch dein


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liebes Angesicht! Was tat ich doch! Was habe ich geglaubt! Ist Feuerbrand denn wirklich Christenpflicht?« ... »Wer drückte Petri Schwert (140) mir in die Hand, vor welchem nur der Knecht den Nacken beugt? Wer machte es in ihr zum Feuerbrand, der gegen meinen eignen Glauben zeugt? Wer gab mir aus der Heimat Alles mit, was christlich heißt und doch nicht christlich ist - - - ? War's der etwa, der an dem Krenze litt - - - ?« Er hob die dürre, skelettartige Hand empor, als ob er eine Vision vor sich habe, und schloß, schwer und wieder langsam sprechend: »Sag mir, o Christus, sag, ob du es bist!« Die Hand blieb einige Zeit erhoben; dann sank sie ruckweise, wie zögernd, nieder. Über seine soeben noch erregten Züge glitt ein helles, warmes Lächeln; er schüttelte, wenn auch nur schwach, doch bemerkbar den Kopf und sprach, sich selbst beantwortend: »Grad weil sie einst für Euch den Tod erlitt, will sie durch Euch nun ewig weiter lieben.« Hierauf legte er die Hände zusammen wie ein Kind, welches sich über Etwas freut, und sprach in frohem Tone weiter: »O nein, o nein; so weit der Himmel reicht, erklingt noch heut dein großes Liebeswort, und jeder Tag, der aus dem Morgen steigt, verkündet es der Menschheit weiterfort. Du hast gelebt - - zu unsrer Seligkeit; du hast geliebt - - geliebt die ganze Welt; im Leben der Geringste deiner Zeit, bist du im Lieben ewig, ewig Held!« .... Wer war es, der ihm in Gestalt seiner Frau vorschwebte? Ein Truggebilde, ihm vom Traume, vom Fieber, vom Wahnsinn vorgetäuscht? ... War es die Hand des Traumes, des Fiebers, des Wahnsinus, welche alle Spuren der Qual, des Leides aus dem armen, eingefallenen Gesicht strich? Er lag so rührend ergeben, so zufrieden lächelnd da, fast selbst wie eine Vision, auf dem hellen, weichen Kissen! Erst nach längerer Zeit verstand ich wieder, was er sagte, ein bittendes Wort: »O, falte mir die Hände jetzt; ich will zum Vater treten. Ich habe sein Gebot verletzt und muß um Gnade beten.« Ich sah gespannt zu ihm hin. Seine Hände näherten sich einander; sie falteten sich, aber nicht als ob er dies selber tue, sondern als ob sie ihm, Finger um Finger, von einer mir unsichtbaren Person zusammengelegt würden ... Nie habe ich in meinem Leben ein Gesicht gesehen, auf welchem der innere Friede sich schöner und deutlicher ausgedrückt hätte, als auf dem seinigen. Von jetzt an lag er still, und die ruhigen, regelmäßigen Atemzüge ließen vermuten, daß er eingeschlafen sei ...


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   Wir lassen diesen ganzen späten Widerschein des einst so unvollkommen untergegangenen Ödipus-Konflikts ohne Kommentar: es gibt seelische Feinheiten, zu deren Bezeichnung oder Beschreibung selbst das zarteste Wort noch zu plump sein würde ... Aber die Theorie, die wir zuvor gaben, wird vielleicht die Fähigkeit vermittelt haben, den gesamten Text (und nicht nur die hier wiedergegebenen Auszüge) Wort für Wort zu entziffern und erkennen zu lernen, welches seelische Gelingen er enthält: in ihm erlosch ein Feuer, das Mays ganzes Leben gequält hatte. Selbst wer darin nur ein Spiel mit Zweideutigkeiten sehen kann und seinem heimlichen Vergnügen daran durch Entrüstung gegen unsere Methode wieder ins Gleichgewicht verhilft, mag vielleicht in der Verfassung bleiben, die hohe sublimative Kunst zu bewundern, mit der May Unordnung und frühes Leid seines Lebens zu Literatur werden ließ. Höchste Metaphorik war nötig, um das Tiefste zu decken; doch noch in ihren schlichtesten, leersten Bildersplittern fand geordnet die Wahrheit Platz, die sie trieb. »Bedeutend« wurde alles, darum groß; noch die kleinsten Worte wuchsen über sich selbst hinaus. Ich beobachtete das Nahen des Morgens, der jetzt hell und immer heller zu werden begann und mich schließlich an die brennende Lampe erinnerte, welche drin auf dem Tische stand. Ich ging hinein, um sie zu löschen ...




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Ich gehe suchen nach dem Menschenkinde,
Das mir der Herr, ich weiß nicht, wann, gezeigt,
Und selbst wenn ich es in der Hölle finde,
So hab mit ihm den Himmel ich erreicht.
(141)

   Wir unterlassen hier jede ästhetische Zensurierung, jede kritische Bewertung des Gedanken- und Sprachmaterials, aus dem May die Deckungs-Metaphorik herstellte. Ihre Qualität mag vom Missionarsberuf Wallers legitimiert sein; für die Erkenntnis der eigentlichen seelischen Handlung des Buches ist sie unerheblich. Ergreifen muß deren Substanz - und zugleich auch die Ergriffenheit, mit der May ihrer inne wird: Ich saß hier nur fünf Grade vom Äquator entfernt; wie weit von der Heimat und wie ihr so nahe! ... Es war so unbeschreiblich, ihn zu hören. Nie waren mir Menschenworte so tief in das Herz gedrungen ... Wie wunderbar das zu hören war! Nicht wie eine Rede, noch weniger


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wie eine Deklamation. Es schien gar keiner Schallwellen und gar keines Ohres zu bedürfen, um das Herz zu erreichen. Es wirkte unmittelbar; kein Sträuben half dagegen ... (142) Wie in den »Himmelsgedanken« ist auch hier, wo Waller in Reimen spricht, die Position infantil; fast überall signalisiert bei May die gebundene Rede Regression; nur ganz wenige seiner Gedichte sind Ausnahmen der Regel, daß für ihn im Reim die Sprache des Kindes wiederkehrte. Die Theorie gab uns Auskunft über die Natur von Waller/Mays Zusammenbruch auf Sumatra, und wir haben die präzise Spiegelung nun nur noch nachzutragen: Waller hatte die Augen zu, doch schien er mich gehört zu haben, denn er bat mich mit schwachklingender Stimme um Wasser. Ich gab es ihm, zwar nur löffelweise, aber er trank doch ein ganzes Glas voll aus. Dann öffnete er die Augen und sah mich an, lange Zeit. Ich stand still und ließ es geschehen. Der Blick seiner Augen wurde immer klarer, aber er erkannte mich trotzdem nicht. Da flüsterte er mir zu: »Sag, bin ich der Missionar Waller - - - oder bin ich noch der Knabe Waller? Ich weiß es nicht genau.« Da ging es wie eine leuchtende Erkenntnis in mir auf, ganz plötzlich, wie die Sonne auf dem Meere aufzugehen pflegt, und ich antwortete, ohne mich weiter zu besinnen: »Der Missionar ist umgekehrt. Hier liegt nur noch das Kind, der Knabe Waller« - »Das Kind! Der Knabe!« lächelte er beglückt. »Ich danke dir, du lieber fremder Mann!« Er wollte hierauf die Augen schließen, tat aber gerad das Gegenteil, indem er sie weit öffnete, denn soeben drang der erste Sonnenstrahl zur offenen Verandatür herein und überflutete das Krankenzimmer wie mit flüssig diamantenem Golde. Er schaute hinaus, hinaus ins Freie, faltete die hageren Hände und sprach, indem seine Stimme leiser und immer leiser wurde: »Ein Knabe - - - ein Kind - - - in solchem Lichte! Ist dies das Leben - - - Ist es der Tod - - - ? Oder ist es beides - - - ? So, so will ich sterben und dann leben - - - als Kind - - - in diesem Lichte - - - im goldnen Morgenglanz - - - im erstem Sonnenstrahl - - - als Kind, als Kind!« Hierauf schloß er die Augen, tat einen tiefen, tiefen Atemzug und schlief ein. Das Lächeln des Glückes aber wich nicht von ihm; es spielte um seine Lippen weiter ... (143)

   Der Rücksturz auf die Anlehnungsstufe der Analität, auf der sich das Ich neu aufzubauen (und zu panzern) hatte, ist eng verknüpft mit der


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seelischen Aufgabe, die wir bereits erkannten: das einst in Ambivalenz zergangene Mutterbild zu läutern, die Schuld der Mutter in ein umfassendes Liebesrecht zu verwandeln. Daß May diese Verwandlung gelungen war, ließ sich bereits sehen; wir erkennen es außerdem an den überall eindringenden Metaphern des Tagesanbruchs, der eine der Assoziations-Achsen der Urszene war, wo einst, nach der Wein-Nacht des Kindes, der Morgen graute, und der ihre Wiederkehr in gleicher Verklärung unaufhaltsam ankündigt. Wie mächtig die alten Wortreste den Sprachfluß lenken, ist immer wieder wahrzunehmen, so etwa wenn Tsi im Bann einer Blindheits-Metapher sich »versprechen« muß: Öffnen wir die Augen, so gelingt es uns vielleicht, den schon erwähnten Taucher von der Insel »Ti« bei seiner Arbeit zu belauschen. Belauschen, sage ich? Ja, so sagt er. Wie falsch das ist! Wir haben gar nicht nötig, uns dabei heimlich anzustellen, denn er wird sich ganz im Gegenteile darüber freuen, daß wir ihn kennen lernen wollen ...(144) Den Bildbruch nahm May wahr, doch die sogleich angefügte Verkittung verdrängte bereits das eigentlich Unheimliche wieder, indem sie nur das Heimliche des Wortsinns ergriff: unbewußt blieb die Kraft, die Blindheit und Lauschen zusammengezwungen hatte.

   May hat in jedem seiner Konfessionsbücher stets ausgedehnter Expositionen von Gestalten und Schauplätzen bedurft, ehe die Bahnen angelegt waren, in denen das seelische Material ausströmen konnte; waren sie fertig, so drang es in großen Schüben herauf, und die exponierten Teile wurden nebensächlich. Dies Nebensächlichwerden ist überall deutlich zu erkennen: oft werden Konfliktansätze der Handlung, ja sogar voll entwickelte Figuren nie oder kaum wieder aufgegriffen. Der gleiche Befund begegnet uns im Kleinen, in den Einzelszenen: so bedarf auch Waller einer breiten Basis homiletischer Metaphorik, ehe seine Seele zu reden beginnt. Wieder ist es Nacht, als seine zweite Fieberphantasie einsetzt (145); er liegt in der Krankenkammer der Raffley-Jacht »Yin« , und das Bild der Yin, der »Güte«, an der Kajütenwand ist es, das nach einem langen Monolog über die Liebe und die Liebessehnsucht (... in der das Herz dorthin zurückverlangt, wo es sich in der Heimat einst gewußt ...) das verklärte Bild der Urszene endlich ganz durchbrechen läßt: »Es liegt die Welt ringsum im Morgengraun; die Nebel wallen, um ernporzusteigen. Mein Auge ist bereit, dich an-


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zuschaun; o wolle deine Herrlichkeit mir zeigen! Wo kommst du her? Ich höre dein Gewand. Es rauscht so glückverheißend aus der Ferne, und dieses Rauschen ist mir wohlbekannt: du streifst mit deines Schleiers Saum die Sterne.« Was hier im grauenden Morgen aus der weitesten zeitlichen Ferne herüberrauscht, so wohlbekannt und jetzt so glückverheißend, nur gehört erst, wie einst, und jetzt doch auch dem bereiten, nicht mehr blinden Auge nahend, muß nicht mehr erklärt werden - so wenig wie die Kommentierung, die May ihm in aller Einfalt folgen läßt: Das, was er jetzt gesprochen hatte, bezog sich jedenfalls nicht auf das Gedicht und seinen Inhalt, sondern auf etwas Anderes. Es tauchte ein neues Gesicht vor ihm auf, welches wahrscheinlich durch den Anblick des jetzt in so eigenartiger Schönheit und Beleuchtung hervortretenden Bildes eingeleitet worden war. Wir hörten seine Worte weiter: »Ein süßer Duft bereitet deinen Schritt; schon höre ringsum ich die Glocken schlagen. In meinem Herzen tönt die Stunde mit, und deine Zeit beginnt, in mir zu tagen. Vielleicht trittst du jetzt nur in meine Welt, und ich bin es allein, der dich empfindet, doch ist die Uhr für Andre auch gestellt, sobald dein Licht die Dämmerung überwindet. - - - So wie ich wartete auf dieses Licht, so wartet auch das ganze Volk der Erde. Ich ahne dich; du nahst mir im Gedicht. O, daß dies Bildnis doch verstanden werde! Nun bist du da; du schaust mich lächelnd an, als seist du mir schon irgendwo begegnet, und ich, ich sinne, zwar vergeblich, wann, doch hast du mich im Himmel einst gesegnet ...« Und gleichsam als sei hier höchste theoretische Planung des Bewußtseins am Werk, um die sprachrestlichen Materialien komplett zu versammeln, wird nun auch noch das Bild des Lauschers aufgerichtet: Es herrschte tiefe Stille um uns her. Da hörte ich ein Geräusch, wie wenn ein Zündholz, welches nicht Feuer fangen will, wiederholt schnell angestrichen wird. Das klang von der anderen Seite der Kajüte her. War etwa Jemand dort, ohne daß wir es gewußt hatten? Dann wurde mir ein feiner Tabaksgeruch von der leise wehenden Nachtluft zugetragen. Ich bin Kenner und roch sogleich, daß es Cumana war, den der Governor ausschließlich rauchte. Ich stand also auf und ging hinüber. Richtig, da saß er auf dem Klappsitze, der an der Holzwand angebracht war! Er hatte Alles sehen und hören können ...

   Daß es hier plötzlich der Governor ist, der lauscht, braucht nicht zu verwundern; es entspricht das einer Gesetzmäßigkeit, der wir überall


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in Mays Spätwerk begegnen. Denn überall, wo das seelische Grundmaterial besonders nah an die Oberfläche dringt, stellen wir eine fast automatisch erfolgende Ich-Verlagerung fest, eine Delegation des Ich-Gefühls auf eine der Nebenfiguren, gleichsam als müsse es vor den heraufdringenden Wahrheiten in Sicherheit gebracht werden. Solche Identifizierungen nehmen gegen Ende der Bücher stets rapide zu, und nur am Rande sei vermerkt, daß sie einen charakteristischen Symptomenkreis innerhalb paranoischer Krankheitsbilder darstellen. Auch der Governor wird im Verlauf des Buches immer mehr zur Ich-Gestalt entwickelt: auch er hat eine Wette gegen die Liebe geschlossen; auch er wird von der Liebe überwunden. Und wo kommt diese Liebe so plötzlich bei mir her? Dort aus der Kajüte, in welcher das Bild hängt und wo der Krauke mit seinem Engel sprach. Die Frau, welche ich früher als »Gespenst« bezeichnete, ist mir so vertraut geworden, obgleich ich sie nur erst im Bilde kenne ... (146) Auch er fühlt sich wie ein Kind (147), und seine Bekenntnisse erscheinen May als die geistig und seelisch ereignisreiche Geschichte einer inneren Umwandlung, welche sich bei ihm äußerlich friedlich vollzogen hatte, während sie bei andern Menschen wie auch bei Völkern nur unter langen und schweren Kämpfen vor sich geht. (148) Eine kleine Fehlleistung schließlich sichert die Gleichung vollends: am Anfang ist er sechzig Jahre alt - wie May es fast war, als er im Sommer 1901 »Et in terra pax« niederschrieb; am Schluß aber zählt er auf einmal über sechzig Jahre (149), ohne daß die Handlung um mehr als Tage gealtert wäre, - im letzten Kapitel nämlich, das erst 1904 entstand: so tief drangen die Identifizierungen in die Vorstellung ein. Am Ende bilden sie ein dichtes, nur noch als Ganzheit wirkendes Muster: Waller, der Governor, Fu, der malaiische Priester, der Pfarrer Heartman; und man mag sich wohl anrühren lassen von der Harmonie, in der May seine Gestalten so vereinigt: als ob sie Brüder seien, die Söhne einer und derselben Mutter. Welche Mutter wäre da wohl gemeint? (150)

   Harmonie beschließt auch Wallers dritten Fiebertraum. (151) Tsi meinte, daß der Kranke wohl noch Etwas zu sagen haben werde. Die Besprechung des Gedichtes Zeile für Zeile sei allerdings beendet; aber weil derselben die Erscheinung von Ma(r)ys Mutter vorausgegangen sei, dürfe man fast mit Sicherheit erwarten, daß er sie auch nun zum Schlusse wieder sehen werde. Er sieht sie in der Tat; die Verklärung ist gelungen; vom


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einst so schmerzenden Brennen war nur noch das Geräusch des Zündholzes geblieben, welches nicht Feuer fangen will. Es ist vorüber; verändertes Versmaß zeigt die Koda an. Er sprach jetzt nur ein einziges Wort; es war der Name seiner Frau. Dann lag er wieder still; es war, als ob er lausche. Hierauf wurde er abermals unruhig und wendete unter leisem Flüstern sein Gesicht hin und her, bis es, dem Mondscheine zugewendet, liegen blieb. Und nun begann er laut und deutlich: »Du kamst zu mir und gabst mir Augenlicht, in eure liebe, reine Welt zu schauen. Ich sah der Wahrheit in das Angesicht und will der Herrlichen mich anvertrauen. Wen sie gelehrt, die Täuschung zu besiegen, der soll dem Schein nicht wieder unterliegen ... Nun ist es da. Es ist die Seligkeit, die schon in diesem Leben mir gehört. O würde doch der Mensch nicht durch die Zeit und durch des Raumes Hinterlist betört, er würde kühn sich an das Ewge wagen und dann als Preis den Himmel in sich tragen!« Hatte ich schon einmal solche Worte vernommen? Wohl kaum jemals in meinem Leben, wenigstens in dieser Weise nicht ... May hat, was er nie in seinem Leben wirklich hörte, sich erschaffen müssen: das wurde zur Kraftquelle, aus der das Buch »Friede auf Erden« entstand. Vor dieser Notwendigkeit und ihrer Erfüllung schweigt alle Kritik, die sich zu leicht nur versucht fühlen möchte, die Mittel solcher Genesung zu zensieren. Daß sie gelang, das einzig macht zuletzt ihren Rang aus, auch literarisch.

   »Glauben Sie, daß Mr. Waller weiß, was er spricht?«

   »Alles, Alles weiß er, jedes Wort« , antwortete der Arzt ...




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Ich zehre noch heut von Sujets, die schon damals in mir entstanden ... (152)

   Die hohe Brisanz der psychologischen Stoffe, die Mays Werk im Alter zentral bewegten, hat nicht nur den hohen Einsatz der sprachtechnischen Mittel bestimmt, sondern auch die Formen-Struktur. Denn eben weil sie, um die Zensur-Instanz zu passieren, der Schutzverzerrung hoch aufgetürmter metaphoraler Überbauten bedurfte, war ihre totale Abfuhr in einer einzigen konzentrierten Szene nicht möglich; und weil diese Totalität im einzelnen nicht gelang, blieb das Hauptthema auch über


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größte epische Strecken hin unerledigt und damit motorisch wirksam: die breiten, eigentlich »endlosen« Durchführungen der Bücher haben darin ihren letzten Grund. So finden sich, in additiver Reihung, auch die Sprachreste der Urszene zu immer neuem Ensemble zusammen, zu - um es mit einem musikalischen Terminus zu verdeutlichen - Engführungen der thematischen Stimmen, die immer neue Versuche der Verdichtungsarbeit darstellen. Oft brechen sie sofort wieder auseinander, und die im wörtlichen Sinne reaktionäre Herrschaft der Außen-Handlung deckt die Felder dissoziierender Innenstimmen zu. Die Tiefe des Vordringens ins thematische Zentrum ist durchaus unterschiedlich: erfolgt es in flach ansteigendem, langsamem Crescendo, so gelangt es am weitesten und erfährt dann an den kritischen Stellen einen jähen, zum Übergang nicht mehr befähigten Abbruch; geschieht es als steil aufschießender Durchbruch, so führen die dadurch grell aufgestörten Zensur-Kräfte das Zerbröckeln meist sehr rasch herbei. Der Variationscharakter der durchaus symphonischen späten Formen würde so verständlich: immer neue strukturbildende Ansätze ergreifen das unerlöst gleichbleibende Material.

   Auch in »Friede« finden wir nicht weniger als sechs solcher Variationen der Urszene. Sie können hier nicht alle interpretiert werden, doch eine immerhin sei noch sichtbar gemacht; sie mag eine modellhafte Hilfe sein, auch die anderen wahrzunehmen. Sie steht im letzten Kapitel des Buches, dem vom großen Feiertag Shen-Ta-Shi (»Fest der Liebe« ), in dem die religiöse Deckung bereits vollbracht ist und die Stimmung der Rekonvaleszenz alle akuten Linien ins Breite verschwimmen läßt. Da wird May eingeladen, das Paradies zu besichtigen (153), und er betritt einen Saal von Raffley Castle, dessen perspektivischer Bau die optische Täuschung erregt, als ob das Auge in eine viel, viel größere Entfernung schaue, als in Wirklichkeit vorhanden war. Die beiden Seiten sind mit Vorhängen verhüllt: hinter diesen befinden sich zwei große Wandgemälde der Yin, und zu ihnen erklingt nun einer der Paradieses-Mythen, die überall in Mays Spätwerk, ins Menschheitliche überhöht, die verlorene Kindheit heraufrufen: »Im Lande Ti gibt es eine heilige Sage, die von dem Himmel stammt ...« Gott hat das irdische Paradies geschaffen und widmet es der »Shen« (Menschlichkeit): »Solange der Menschengeist sich von dir leiten läßt und nur in der Liebe handelt,


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wird Friede sein und dies dein Reich nicht von der Erde schwinden ...« Satan dagegen schafft die irdische Hölle und widmet sie der »Hen« (Selbstsucht, Haß): »Wache, daß hier in deinem Reich nie Irgendwer von Nächstenliebe rede ...« So weit eine schlicht gefügte mythische Konstruktion; wir dürfen bitten, sie nachzulesen. Durch das Paradies geht nun der Menschengeist, und als er einmal am Tore steht (und wir müssen nun nicht mehr eigens auf die Synonyme der Sprachreste hinweisen, von denen die Urszene abgesteckt war), lernt er die Hen kennen, den Haß, und verfällt ihr. Doch die Shen ist ihm gefolgt und kam zum Tor, grad als es offen stand: sie stürzt hinaus aus Gottes Schutz (»sittliche Weltordnung«) und wird von Satan erschlagen, der nun zu dem armen Wurm spricht: »Wohlan, du wirst nun unter Teufeln sein, denn meine Hölle und dein Menschenreich, das ist von heute an für dich dasselbe. Als Teufel werden diese Menschen an dir handeln ... und tausend Teufel sollen in deinem eigenen Innern wohnen, mit denen du zu kämpfen hast bei Tag und Nacht ...« Eine ganz unbeschreibliche Katastrophe ist die Folge, der Abgrund tut sich auf, alles treibt in blinder Angst darauf zu, um sich aus dem verschwindenden Paradiese in die offenstehende Hölle zu retten. Bis hierher hat May der Erzählung gelauscht; nun bewegt sich der linke Vorhang zur Seite, und er beginnt zu  s e h e n: nicht das Paradies, sondern die letztbeschriebene Szene vor dem eingestürzten Tore. Und darin lodert nun folgerichtig »das Feuer« empor, scheint Alles in hellen, verzehrenden Flammen zu stehen ... ein, ich möchte sagen, alle Hoffnung verzehrendes Licht ... Folgerichtig auch muß die Szene an dieser Stelle abbrechen: Bis hierher durfte ich mich in der Beschreibung dieses Bildes wagen, weiter aber nicht ... Auch über die Wirkung will ich nur das eine sagen, daß es mir unmöglich ist, sie in Worte zu fassen. Ich hatte unter dem gewaltigen Eindrucke dieses Meisterwerkes ein innerlich bohrendes, verzehrendes Gefühl, eine Empfindung, als ob ich selbst auch als einer dieser Unglücklichen dazu verdammt worden sei, die Erde nun für die Hölle und die Menschen für Teufel zu halten ...

   Das zweite Bild tut einen Blick in die Zukunft, wie alle letzten Kapitel der Altersbücher. Da sieht May, daß ich mich in ganz genau derselben Gegend befand, in späterer, später, vielleicht gar zukünftiger Zeit ... Und wo einst vor der Kammertür das Morgengrauen lag, da


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fällt nun heiliges Sonnenlicht auf das Land des alten Erdenfluches, und es ist Feiertag ... in Gottes Morgenfrühe, und hoffnungsvoll, fast scheint es, zuversichtlich naht der Menschengeist, und nicht weit von ihm steht Gottes Pforte offen, das Tor des Paradieses, das neu erstanden ist, und hinter seinen aufgeschlagenen Flügeln erscheinen die Gestalten heiliger Wächter, die wem entgegengehen? - dem einst verlorenen, nun aber zurückkehrenden Sohne ... Und die einstige Katastrophe erfährt ihre revidierende Wiederkehr: der Satan fliegt mit Hen, dem Haß, dem Abgrund zu und verschwindet in der Tiefe; das Grab der Shen aber tut sich auf, und dann tritt sie hervor, die Himmlische, zu dem Erlöser hin, nach dessen Geist die Seele ewig strebt ...

   Ich saß noch lange, wie festgebannt, unter dem Eindrucke des Ganzen ... Das erste Bild hatte über eine Beschreibung an Mays Ohren dringen müssen, bevor er es sehen lernte; das zweite sieht er, wie ein Seher sieht, und erst viel später, als die große Schlußszene des Buches anhebt, in der sich die Spaltung des menschlichen Innern vollzieht, folgt auch ihm die Beschreibung, und zwar durch den Mund Wallers, der nun - in eng verknüpftem Bezug - vor seinem Hintergrund die ersehnte Erlösung durch die Liebe findet (154): »Nun nehmt den Vorhang weg! Ihr sollt nicht nur das Paradies, nein, auch den Himmel sehen; denn jene ferne Stunde, von welcher meine Sage sprach, ist keine andere als die jetzige!« May selbst hat sich in dieser fernen Stunde längst in die Über-Instanz des Beobachters zurückgezogen: je mehr Derivate seines Ichs in der Handlung Gestalt annehmen, desto stummer wird sein eigenes Mitwirken, und als nun das letzte, unheimlichste, erscheint, verstummt er ganz und findet erst wieder zu Worten, als dieses letzte Ich-Derivat überwältigt und verschwunden ist. Es erscheint genau im Augenblick der Katastrophe des ersten Bildes: Während ich den aus dem Paradiese stürzenden Figuren mit meinem Blicke folgte, bis sie ganz draußen in der scheinbaren Ferne im schmutzig dichten Violett verschwanden, gewahrte ich, daß sich da hinten Etwas bewegte. Es gab jedenfalls einen Menschen dort ... Es gibt ihn, dort, am Tor des Bildes, an der Mauer des Raums, wie es ihn einst dort gegeben hatte: Welch eine Lautlosigkeit im Saale jetzt! Es erscheint: Robert Waller, genannt Dilke.


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»Dieser Dilke ist ein eigentümlicher Mensch. Ich habe ihn Euch ausführlich zu beschreiben - - -«
»Wir kennen ihn bereits ...«
(155)

   ... und wir erstaunen nur über die unerbittliche Genauigkeit und Schärfe, mit der May ihn kennt und in die Scharade seiner Seelenbeichte einzeichnet. Ein Verwandter von Waller ist er, ein Neffe von ihm, genau in demselben hartnäckigen, unduldsamen Geiste erzogen und mit sogar noch größerer Strenge dressiert ... (156) In der Außenhandlung hat er sich bislang nur als einer der »Zivilisatoren« gezeigt, die sich um nichts Anderes als um sich selbst, am allerwenigsten aber um die gesunden Glieder tief unter ihnen stehender Völkerschaften kümmern (157); doch nun am Schluß, wo er seine eigentliche Funktion erhält, hat er sich zuerst als Offizier ausgegeben, dann aber als Missionar entpuppt, und er will nun in China sämtliche Heidentempel zerstören und die »Shen« an ihrer Wurzel vernichten (158): ein verjüngtes Doppelbild des alten Wallerschen Geistes. Und mit Waller, dem Alten, geht etwas Sonderbares vor sich, als dieser Dilke auf dem Schauplatz von Ocama erscheint: da ist er plötzlich aus tiefster Ruhe emporgefahren und hat gerufen, doch ohne die Augen zu öffnen:  »O l d  S a i n t  nennt er mich noch immer! Und kommen will er mir! Well, so werde ich ihm kommen, und  O l d  S a i n t  soll nicht wieder von ihm gehen!« (159) Die doppelte Sperrung des Namens ist die einzige im ganzen Buch; aber sie wirkt viel weniger wie eine Hervorhebung als wie der Letternrest eines Wortes, aus dem Buchstaben gleichsam herausgefallen sind. Dürften wir uns getrauen, sie wiederzufinden, - dürften wir wagen, in diesem »Old Saint« die geschrumpfte Phonemgruppe eines ganz anderen Namens zu erkennen, eines Namens, der wiederum das Bild eines anderen »Alten« in sich aufnahm, wie wir schon früher erfuhren, - des Namens »Old Shatterhand« ? Wir haben es hier mit den unendlich fein geschalteten Elementen einer Struktur zu tun, deren Logik nur noch unter den Gesetzen des Traums ihre volle funktionale Stimmigkeit erkennen läßt und die sich der rationalen Zergliederung nicht leicht fügen möchte. Trotzdem müssen wir versuchen, ihren Sinn auch mit dem gröberen Instrument freizulegen, um eine letzte große seelische Szene zu erkennen: die Auseinandersetzung mit dem Vater.

   Wir haben schon früher gesehen, wessen Züge es waren, die Mays


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Ich-Ideal durch Identifikation in sich aufnahm. So wissen wir auch, wer einst »Hauptmann« war, wo Dilke »Leutnant« ist (160); wissen, wer einst dem Sohn die wüstesten Lernstoffe einredete, wo Dilke predigt; wissen, wer einst mit Schlägen erzog, wo Dilke »zivilisiert« -: ist Dilke jener Missionar, den Cardauns meinte, als er ihm den »guten Rat« gab, er möge doch »darauf verzichten, Jules Verne und den Apostel Paulus in einer Person darzustellen«?(161) Dilkes missionarisches Wirken ist nicht ohne Kritik geblieben, doch er war so töricht, den Kampf in die Länge zu ziehen, anstatt ihn gleich bei der ersten oder doch zweiten Niederlage aufzugeben. Das bisher still gebliebene Publikum begann, sich dabei zu amüsieren. Man lachte zunächst hier und dort, dann überall, und endlich gab es ein einziges, großes, allgemeines Gelächter ... (162) -: war das etwa jenes denkwürdige Gelächter, das man »drei Gassen weit hörte«?(163) Kein Zweifel: in Dilke rechnet May ein weiteresmal mit seiner Vergangenheit ab, und wenn wir der bösen Karikatur auch nicht zustimmen mögen, so haben wir sie doch zu akzeptieren: - so grell, so streng, fast wie unerbittlich durfte sein einstiges Ich-Ideal nur einer zerstören, der es überwunden hatte. Daß in dieser Überwindung die Bilder auch all jener Mächte wiederkehren, die May selber einst überwanden, vermögen wir zu verstehen, sobald wie die veränderten Vorzeichen begreifen, die Klang und Inhalt verzerren - etwa der Stimmen, die Dilke in den Abgrund treiben: Wohin ich nur gehe, da gehen sie mit, durch die ganze Stadt, durch alle Gassen. Und wo ich nur stehen bleibe, da bleiben sie auch. Und sobald ich den Mund öffne, um zu sprechen, übertäuben sie mich mit dem höllischen Gequieke ihrer teuflischen Instrumente. Meine Nerven sind schon alle vollständig abgerissen; meine Ohren schmerzen, meine Seele zittert, und wenn ich das nur noch eine Stunde lang ertragen soll, so werde ich verrückt ... Wer ist dieser Dilke, der die Züge des Sohnes trägt wie die des Vaters, die Züge Mays wie die seiner Ich-Ideale? Wer ist dieser Letzte seines Stammes, die Quersumme seiner Ahnen? Scheint es uns nicht auch, er gehöre in die Beobachtungsstation eines Irrenhauses? ... Zwei solche Raufbolde in einem einzigen Körper, das ist zu viel! Können wir sie analytisch trennen?

   May hat uns an Schwierigkeiten keine einzige erspart. Denn eben weil alle Schichten in Dilkes Charakterstruktur Bekenntnis gefähr-


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lichster Wahrheit waren, mußten sie sich gegenseitig verzerren und entstellen, und das Ganze decken schließlich noch die Züge des Wahnsinns ab, der die Einordnung in die Handlungsrealität des Buches ermöglichte. Denn wohl ist Dilke anfangs ganz ungestört nach Ostasien gereist gekommen - als Superkargo eines Schiffes, welches »Seine Exzellenz, der Europäer« hieß (164) -; nun ist ihm aber in Sumatra Etwas mit seinem Kopfe passiert, doch was, das weiß ich nicht, auch nicht, ob in Uleh-leh oder in Kota-Radscha oben ... (165): wir erfuhren bereits, daß es in Padang geschah. Er behauptet, dort den Geist eines amerikanischen Missionars gesehen zu haben, der dort seinen Körper verscherzt und verloren habe und nun ihm immer folge, um sich bei ihm einzunisten ... Wer ist Dilke, der Vater oder der Sohn, der Neffe oder der Oheim? Wir können nichts anderes tun, als uns diese Rätselfrage von Tsi beantworten zu lassen, fest, bestimmt und scharf, jede Widerrede abschneidend: »Beides ist er, Beides! Die beiden einzigen Waller, die es hier gibt, das ist er! Er allein!« Und es ist schon eine zyklopische Szene, wie da das gespaltene Ich Mays sich ein letztesmal gegenübersteht: eine eigenartige, beängstigende, für den Psychologen freilich hochinteressante Situation! Der eine hatte beinahe denselben Gesichtsausdruck wie der Andere ... der aus der geistigen Nacht Kommende und der in die geistige Nacht Gehende ... »Vater, lieber Vater« , bat Mary voller Angst, »erlaubst du, daß ich Mutter rufe?« ... Und Waller vernimmt den Ruf grad noch zur rechten Zeit: »Schon hörte ich es wieder knistern und brennen. Da riefst du mich zurück, du Seele deiner Mutter! Ich bin wieder da, bei dir. Aber es packt mich Jemand an. Es ist wie eine Faust, die mir im Kopfe wühlt, um meine Gedanken, die richtig sind, mit falschen zu vertauschen! Ein fremder, und mir aber doch nur zu gut bekannter Geist!« Und die »Seele der Mutter« bringt die Rettung: Waller hält seinem Gegen-Ich die große Liebesbotschaft entgegen und überwindet; Dilke aber unterliegt. Noch einmal gellen die Stimmen auf: »Lieben, lieben, lieben und nur immer lieben! Das ist ja eben die »Shen« , die »Shen« , die »Shen« ! Verflucht sei dieses Gequieke, dieses ewige, unendliche Gequieke von Liebe, von Liebe, von Liebe! Wenn das hier wieder beginnt und so weitergeht wie bisher, so mache ich es wie der Teufel dort auf dem Bilde: Ich stürze mich in den Abgrund und nehme meine »Hen« mit mir ...« Damit vollzieht sich der letzte Umschlag der Identität:


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der alte Geist Wallers fährt in Dilke und mit ihm in den Tod:  »I c h  bin der Oheim, und  e r  ist der Neffe. Ich heiße Waller, und er heißt Dilke. Ich muß hinunter in den Schlund ...«

   Wir müssen uns, um das Knäuel dieser Identifizierungen zu verstehen, nicht an die klinischen Bilder der Paranoia halten, zu deren Definition sie gehören. Wo Waller der Vater May ist, der einst durch frühe Identifizierung ins Ich-Ideal des Sohnes einging, ist Dilke May, der Sohn, der leidende, irrende, der im Abgrund endet: das ist Anamnese. Nun aber ist Waller zugleich der gegenwärtige, sechzigjährige May, der durch den großen Regressions-Schock in den Kindheitsstand und zur erlösenden Mutterliebe zurückkehrte, und wie sein Bild so umschlug in das des Sohns, so muß folgerichtig das Dilkes umschlagen in das des Vaters. Dilke geht so doppelt zugrunde: als der Sohn, der einst der Feindesmacht des Vaters erlag, und als die Feindesmacht des Vaters, die nun, so spät noch, am Ende, dem Sohn erliegt: in Dilke überwand May sein  g a n z e s  Leben. Immer ist so jene ferne Stunde, von welcher meine Sage sprach, zugleich auch keine andere als die jetzige ... (166) Wir werden diesen zweifachen Zeit-Dimensionen, der gegenwärtigen und der Vergangenheit vergegenwärtigenden, in allen Altersbüchern Mays wieder begegnen: immer wieder entsteht deren so komplizierter Handlungsraum erst aus ihrem Zusammenschlagen, und immer steht das Wort »Symbolik«, an das May sich hielt, wenn ihm die Sprache der Erklärung versagte, für diese Dimension der Seele. In ihr überwand er, spät, ein letztesmal, was ihm als Wirklichkeit nicht überwindbar war: das schuf den großen Zug ins Höhere, den Ernst der großen Worte, die alle seine späten Bücher versiegeln. »Friede auf Erden«, das hieß zuletzt: Friede seinem Innern und dessen widerstreitenden Gewalten. Dieser »Sieg« beschließt alle seine Arbeiten; noch im Sterben wiederholte er das Wort. Es war die Summe seines Lebens und wurde, unausweichlich, dessen Ziel: so wurde es, zuallerletzt, in großen ethischen Systemen gefaßt, für ihn das Ziel des Menschheitslebens überhaupt. Dieses Menschheitsleben meinte er, wo er »Ich« sagte; dieses »Ich« erst hatte darin den Rang, den er ihm verlieh. Er konnte nichts davon zurücknehmen, so sehr ihn auch der Spott der Blinden traf: daß Psychologie zur Erkenntnis seiner Brüder nötig sei, wiederholte er darum ohne Unterlaß. Noch das Kleinste seiner Geschichten durfte so


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Welt-Geschichte sein, noch der geringste Sieg so Abbreviatur des höchsten. Und wenn Sie tausend Menschen mit sich nähmen, Sie würden doch nichts ändern können. Heute abend wird die alte Wallersche Hauspostille zugeschlagen und versiegelt, für immer und für ewig; darauf können Sie sich verlassen ...

   Wer war Dilke? Die letzte Antwort, die May gibt, ist so stumm, wie man es vor solchen Wahrheiten wird: »Ein Mensch war er; das mag dir genügen. Ein armer, unglücklicher Mensch, der falsche Wege ging und darum sich hier in diesen Schlund verirrte ...« Wer unsere Deutung verwirft und meint, sie sei nur an gespaltenen Haaren herbeigezogen, müßte uns eine triftigere bieten - oder er wäre zu dem Eingeständnis genötigt, daß Mays späte Seolenscharaden am Ende doch nur magischer Unsinn seien, mit rationalen Kräften nicht zu fassen. Wir möchten die Entscheidung nicht schwer finden. Wohl ließe sich eine höhere Gestaltung des Themas denken, als May sie gelang. Eine wahrere wohl aber nicht.




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......................... (167)

   Der Versuch, die Interpretation des Spätwerks auf eine gänzlich neue Basis zu stellen, muß zwangsläufig Stückwerk bleiben. Nur eine Plattform ließ sich erreichen; die Fülle der Aussichten, die sich nun erst eröffnen, wird uns hier von banalen Umfangsgeboten begrenzt. »Friede« war nur ein Anfang, für May selbst wie für unsere Darstellung; was wir darüber andeuten konnten, erschöpft weder das Werk noch gar das Untersuchungsthema überhaupt. Immer wieder werden wir auf die sogenannte Spaltung des menschlichen Innern zurückzugreifen haben, wo wir es unternehmen, das Alterswerk erkennbar zu machen, und nicht das Geringste seines Ranges dürfte sein, was Psychologie in ihm ist. Die durchaus unheimliche Frage, um welche Distanzen der Psychologe, als


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den May sich verstand, seiner Zeit und ihren Einsichten voraus war, soll hier nicht beantwortet werden:  d a ß  er ihr voraus war, wurde aber vielleicht bereits sichtbar. Seine Selbsterfahrungen theoretisch zu formulieren, war ihm nicht gegeben; den Schritt vom Wissen zur Erklärung zu tun vermochte er nicht. Aber er vermochte es, dieses Wissen Gestalt annehmen zu lassen, und wir werden dies umso bewundernder sehen, je mehr wir berücksichtigen, wann es geschah. Freud hat vor dem Antizipando seiner Erkenntnisse in der Literatur stets mit großem Respekt gestanden: er hätte zu würdigen gewußt, was hier einer vor ihm über »sich« wußte. Was es war, werden wir später zu sehen versuchen, wenn wir uns einmal einer Definition der scheinbar so diffusen Begriffe Geist und Seele bei May zuwenden; nur soviel läßt sich jetzt vielleicht schon sagen: May hat fast zwei Jahrzehnte vor der Formulierung der Instanzen-Lehre Erkenntnisse über die Struktur des »psychischen Apparats« besessen, die nicht geringzuschätzen sind. Daß er der akademischen Psychologie des neunzehnten Jahrhunderts spottete, wird uns so verständlich und annehmbar: so durfte sie einer verwerfen, der über »die Seele« , seine Seele, mehr wußte als sie. Nicht Einzelwesen, Drama ist der Mensch, war eine der Lieblingsformeln seines Alters. Wir werden uns von dem pompösen Ton so wenig wie von der abgebrochenen Kürze verleiten lassen dürfen, die Erkenntnisfülle zu übersehen, die sie trug.

   Die Verallgemeinerungen seiner Erfahrung waren wohl zum größeren Teil durch die Abfuhrfunktion seines Schreibens bedingt: er durfte nicht zu dem Bewußtsein gelangen, daß nur die eigene Seele es war, die er in den Seelenkonflikten seiner Bücher darstellte; Menschheit mußte so werden, was nur einer in ihr, der Mensch, was  d e r  Mensch für ihn war: Karl May. Das Befreiungsgefühl, das er mit jedem Buch erlangte, wuchs zu dem Glauben aus, die Befreiung auch anderen, Allen, vermitteln zu können: ethische Mission gegenüber der Allgemeinheit wurde so stets zum letzten Überbau seines ich-notwendigen Schreibens. Daß es Wege zur Erlösung vom Irrsinn des Weltlaufs angebe, Anweisungen zum seligen Leben, bestimmte schließlich seine ganze Kunsttheorie. Das Wahnhafte solcher Vorstellungen, die stets grell crescendierten, wenn ein neues Werk sich dem Ende näherte, liegt auf der Hand, und mit einiger Bestürzung mag Fehsenfeld etwa den Brief vom 25. 7. 1904 empfangen haben, der ihn anwies, hundert besondere Exemplare von


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»Friede auf Erden« herzustellen, vielleicht auf besonderes Papier gedruckt, jedenfalls aber ganz besonders eingebunden, die ich nicht nur sämtlichen deutschen Fürsten, sondern auch allen andern überreichen will, auch sogar dem Sultan, dem Schah und den Kaisern von China und Japan ... Sie sehen, wir beginnen uns jetzt zu regen und gehen in das Volle, denn unsere Zeit, auf die ich wartete, ist doch nun endlich da! (168) Wir haben die paranoiden Züge in Mays Charakter der späteren Bearbeitung durch den Fachmann überlassen; ihr periodisches Durchbrechen wird nur allzu deutlich - im Werk bei den immer dichteren Identifizierungen mit den Personen der Umwelt (ein Befund, in dessen Zusammenhang auch die Geläufigkeit gehört, mit der May über sich selbst in der dritten Person, wie über eine außerhalb seiner selbst stehende Existenz, sprechen konnte), im Leben bei den persekutorischen Wahnbildungen (... ich bin vollständig eingekreist ... (169)) seines späten Prozessierens, das selbst der sonst wenig achtbare Oskar Gerlach als »krankhaft falsch« erkannte. Nicht krankhaft und nicht falsch aber waren die immer dunklen Sätze, mit denen May sein Selbstverständnis ins Weltverständnis eintrug: Das Karl-May-Problem ist das Menschheitsproblem, aus dem großen, alles umfassenden Plural in den Singular, in die einzelne Individualität transponiert ... (170) Daß die sogenannte Spaltung des menschlichen Innern ein Bild der Menschheitsspaltung überhaupt sei, schrieb einer, der durch sein eigenes Elend das der Allgemeinheit erkennen lernte, und voll zu begreifen vermag den Satz, wer einen Begriff davon hat, welchen Anteil die narzißtische Neurose an den Krankheiten unseres Kulturkreises besitzt. Läge hier zuletzt auch das »Geheimnis seines Erfolges«? Kein Schriftsteller hat je so tief abhängige Bindungen zu seinen Lesern hergestellt; keiner auch hat je soviel Liebe auf sich vereinigt wie er, dessen Werk eine einzige Recherche nach der verlorenen Liebe war. Die Massenpsychologie würde uns die Frage vielleicht gar so beantworten: Karl Mays »Ich« ist das Ego-Zentrum ungezählter ich-schwacher Menschen geworden, ein Resonanzraum kollektiver Not. Ewige Wiederkehr des Ähnlichen holt die Seelen in seine Gewalt: die Größe seines Kondikts ist die seiner Wirkung; die Größe seiner seelischen Verarbeitung die seiner seelischen Macht.

   Wissen Sie noch, was ich Ihnen von der Behandlung des Einzelnen und der Gesamtheit sagte? Ich kenne das Leiden dieser Gesamtheit und


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weiß genau, auf welchem Wege es zu beheben ist ... (171) Nur in Bildern, Gleichnissen, »Märchen« konnte May mitteilen, was er »genau wußte«; das Geheimnis in ihnen war es, was Arno Schmidt zu dem schallenden Wort vom »vorletzten Großmystiker« bewog. (172) »Mystik« aber, hat Freud noch in einer späten Notiz festgehalten, das sei zuletzt: »die dunkle Selbstwahrnehmung des Reiches außerhalb des Ichs, des Es.« (173)




   Eine Arbeit wie diese wird dem Laien Schwierigkeiten bereiten, von Ungeduld und allen Formen des Unwillens einmal ganz zu schweigen. Daß es mir selbst lieber gewesen wäre, das Thema dem Fachmann darzustellen, will ich nicht verschweigen: es hätte das größere Konzentration nicht nur. sondern auch eine Fülle von Querverbindungen ermöglicht, die so der allgemeinen Verständlichkeit geopfert werden mußten. Ich fand es aber wichtig, auch die breitere Teilnahme für den Gegenstand zu gewinnen, und habe der Darstellung darum eine kunstlose, oftmals vereinfachende Fassung gegeben; wenn sie dazu beitrüge, Interesse für Methode und Thema zu wecken, wäre mir ein Wunsch erfüllt. - Ich widme den Text meiner Frau, deren analytische Erfahrung zu Fund und Überprüfung des Materials Wesentliches beitrug.

1 Karl May, Ges. Reiseerzählungen XXX, 451, Freiburg 1904 (künftig stets nur in römischen Ziffern)

2 Claus Roxin, Vorläufige Bemerkungen über die Straftaten Karl Mays, in Jb-KMG 1971, 83 f.

3 XXX, 627 und 642

4 Erstabdruck von »Ardistan und Dschinnistan«: Deutscher Hausschatz XXXIV, 163a und 201a

5 Signalmarken sind die häufig wiederkehrenden Auslassungen über »Zufall und Fügung«: ihre Position wäre einmal in einer Arbeit zu untersuchen.

6 Brief an Unbekannt vom 31. 12. 1902 (S. VI, 4). Der Brief selbst spiegelt das Selbständigwerden des Textes: ursprünglich als Antwort auf eine Anfrage begonnen, wird er zu einer Selbstdarstellung von 30 Seiten Länge und bricht dann jäh mitten in einem Gedanken ab; er wurde wohl weder zu Ende geschrieben noch abgeschickt. (Original im KM-Archiv Bamberg). Ähnlich auch Fehsenfelds Flugblatt vom 22. 4. 1912: bei Wilker, Karl May - ein Volkserzieher?, Berlin 1910, 49

7 Karl May, Mein Leben und Streben, Freiburg 1910, 228

8 Karl May, Ein Schundverlag und seine Helfershelfer, Privatdruck o. O. u. J. (Dresden 1905), I, 372

9 Heinz Stolte. Das Phänomen Karl May, Bamberg 1969, 17

10 Anthropophyteia VIII, 501 (auch in Mays 2. KLG-Eingabe, 1911, 122)

11 bei Ludwig Gurlitt, Gerechtigkeit für Karl May, Radebeul 1919, 96 (auch in Ges. Werke Bd. 34, Bamberg)

12 Otto Forst-Battaglia, Karl May, Bamberg 1966, 46

13 Heinz Stolte a. a. O. 16

14 Interview mit Paul Wilhelm, Neues Wiener Journal vom 2. 4. 1912, in Jb-KMG 1970, 89


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15 XXV, 96

16 Sigmund Freud. Zur Einführung des Narzißmus, 1Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen VI, Leipzig-Wien 1914 (Gesammelte Werke X, 137 ff., London 1946)

17 Wilhelm Reich, Charakteranalyse, Berlin 1933

18 Reich a. a. O. 226 ff.

19 Rudolf Kurtz, Offener Brief an Karl May, Der Sturm vom 12. 5. 1910, in Jb-KMG 1971, 230 ff.

20 Interview mit Adolf Gelber, Neues Wiener Tagblatt vom 20. 3. 1912, in Jb-KMG 1970, 81 f.

21 Interview mit Paul Wilhelm, a. a. O. 90

22 XXX, 437

23 Mein Leben und Streben 9 ff.

24 Prononciert abgedämpfte Vokabeln wie »ungut« sind generell Verdrängungssignale, meist von Aggressivität. Der depressive Ton der Mutterschilderungen gibt zudem ein weiteres Indiz: Depressionen sind frustrierte Aggressionen.

25 Zettelnotiz in Mappe »Bruch I«, S. 22. Mays Nachlaß enthält eine große Anzahl solcher fragmentarischer Notizen, die aufgrund ihrer Entstehungsweise ein besonders transparentes Untersuchungsmaterial darstellen. Zu ihnen gehören auch die von Max Finke (KMJB 1920 ff.) unzulänglich edierten »Dramenentwürfe«, ich werde darüber in einer späteren Arbeit referieren. (Original im KM-Archiv Bamberg). Vgl. Schlußbemerkung.

26 Mein Leben und Streben 165 ff.

27 zwischen der Entlassung aus Osterstein am 2. 11. 1868 und, großzügig gerechnet, der Verhaftung in Hohenstein am 2. 7. 1869

28 Mein Leben und Streben 178 f.

29 Mein Leben und Streben 168. - Die hier zuständigen Jahrgänge des »Wochenblattes für Hohenstein-Ernstthal und Umgebung« sind zwar nicht erhalten (vgl. Jb-KMG 1971, 121), doch im »Königlich Sächsischen Gendarmerieblatt« 1868/69, in dem aufsehenerregende Fälle solcher Art verzeichnet wurden, findet sich keinerlei Hinweis (Auskunft Klaus Hoffmann, Dresden).

30 Mein Leben und Streben 9 ff.

31 die spätere Bergstraße, vgl. den Stadtplan in Ges. Werke Bd. 34, Bamberg, Vorsatz

32 Mein Leben und Streben 165

33 XXV, 311

34 Mein Leben und Streben 16

35 etwa Tafel 19 in Ges. Werke Bd. 34, Bamberg. Eine ziemlich schwere Augenkrankheit unbekannter Diagnose machte May Mitte der neunziger Jahre durch.

36 George Grosz, Ein kleines Ja und ein großes Nein, Hamburg 1955, 81. Vgl. auch das Eingesandt des Lebius an die »Neue Zürcher Zeitung« (2. KLG-Eingabe 24), das May als verleumderische Niederträchtigkeit bezeichnete: der Eindruck der »tränenden Augen« konnte durchaus entstehen

37 Mein Leben und Streben 20

38 Karl May, Himmelsgedanken, Freiburg 1900, 254

39 Mein Leben und Streben 19

40 Wolf-Dieter Bach, Fluchtlandschaften, Jb-KMG 1971

41 XXXI, 76

42 Hartmut Kühne, Karl Mays »Ölbrand«, Jb-KMG 1970, 258

43 Mein Leben und Streben 164

44 ebda. 165

45 Zettelnotiz, in Mappe »Bruch I«, 24 (Original im KM-Archiv Bamberg). Vgl. Schlußbemerkung.


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46 »Des Kindes Ruf. Eine Geschichte aus dem Erzgebirge«, Erstdruck in: Weltspiegel/Deutsche Boten IV, Nr. 21-23, Dresden 1879. Wenn nicht noch ein früherer Druck auftauchen sollte, wäre die Entstehung auf 1878/79 anzusetzen, also die Zeit des Stollberg-Schocks, und das Durchbrechen biographischen Konfliktmaterials würde leicht erklärlich.

47 »Erzgebirgische Dorfgeschichten. Karl Mays Erstlingswerke - 1. Band«, Belletristischer Verlag (= Münchmeyer/Fischer), Dresden o. J. (1903); Nachdruck bei Fehsenfeld: Freiburg o. J. (1908) - nach dieser Ausgabe wird im folgenden zitiert: 43 ff.

48 vgl. Mein Leben und Streben 34 f. und 43 f.

49 vgl. die Exkurse über Strafvollzug: »Des Kindes Ruf« a. a. O. 57 f. und 63

50 Ebenfalls eine Vater-Projektion: auf ihn werden die negativen Eigenschaften überschrieben, die im introjizierten Vaterbild keinen Platz mehr haben - vgl. die Prügelszene a. a. O. 54: Er machte von der ihm zugesprochenen (!) väterlichen Gewalt einen so kräftigen Gebrauch, daß ihm die Bäuerin Einhalt tat ...

51 Die Stelle (a. a. O. 52) ist in der KMV-Ausgabe (Ges. Werke 43, 2) gestrichen, wie denn die trostlosen Bearbeitungen überall wertvolles Material zerstört haben.

52 vgl. Mein Leben und Streben 13 und 16 ff.

53 XXVII, 505. Daß May in dieser Erzählung »seine Ansichten über Kindeserziehung niederzulegen gesucht« habe, wurde bereits von dem Kapitel »Der Schlüssel« in Ges. Werke Bd. 34 erkannt (1. Aufl., Radebeul 1916, 569 f.); der für den KMV-Einsichtsstand immerhin erstaunliche Text stammt jedoch nicht von Euchar Schmid, der ihn unter seinem Namen veröffentlichte, sondern von dem Lehrer Wilhelm Koch (vgl. auch seinen Aufsatz »Karl Mays Baukunst und ihre Symbolik« in KMJB 1918, 113 ff.).

54 XXVII, 553

55 etwa die Spiegelung des Markthauses im Kulluk, wo der Knabe Khudyr unten »im Loch« mit dem (= beim) Vater gefangen ist, während Marah Durimeh (die Oberbodengroßmutter) im Dachgeschoß haust: zu ihr geht Kara Ben Nemsi zuerst hinauf - ganz wie May es 1868 tat (Mein Leben und Streben 154).

56 XXVII, 620 und 622

57 Zettelnotiz »Menschenfalle« in Mappe »Bruch I«, 27 (Original im KM-Archiv Bamberg). Die leere Stelle der letzten Zeile ist auch im MS freigelassen. Vgl. Schlußbemerkung.

58 Mein Leben und Streben 20

59 geb. 18. 1. 1759 in Ernstthal, verheiratet mit dem Webermeister Karl Friedrich Kretzschmar am 27. 7. 1780

60 Mein Leben und Streben 21

61 Kirchenbuch

62 geb. 2. 12. 1779; Heirat 1. 5. 1803; Tod 4. 2. 1818

63 Christiane Wilhelmine May, welche später einen schweren Fall tat und an den Folgen desselben verkrüppelte (Mein Leben und Streben 23), geb. 1. 10. 1803, gest. 30. 12. 1861 »an Hirnschlag« (Kirchenbuch); und Heinrich August May, Karl Mays Vater, geb. 18. 9. 1810, gest. 6. 9. 1888

64 seit dem 3. 2. 1822 mit Christian Traugott Vogel, gest. 14. 3. 1826. Hans Zesewitz hat in seinem Aufsatz »Alte Urkunden sprechen« (KMJB 1932, 33 ff.) die von ihm erforschten Urkunden leider nur mit sehr verstellter Stimme sprechen lassen; offensichtlich ging es über seine (oder des Herausgebers Euchar Schmid?) Kräfte, einer Darstellung Mays dokumentarisch den Boden zu entziehen. Daß er etwa in der Todesursache des mütterlichen Großvaters (»Trunkenheit und Verzweiflung«) die Trunkenheit einfach wegließ, gibt Auskunft über die Maßstäbe, auf die man bei KMV-Veröffentlichungen, auch wo sie sich exakt gebärden, gefaßt sein muß.


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65 Arno Schmidts Großmutter-lnterpretation ist nach meiner heutigen Einsicht in ihren wesentlichen Punkten wohl irrig (Sitara ..., Karlsruhe 1963, 254 ff.). May hat sein Verhältnis zur Großmutter stets so »offen« dargestellt (Mein Leben und Streben 136), daß die Gleichsetzung mit Marah Durimeh wiederum als Deckung erkennbar wird; die traumatischen Quellen des von Schmidt beschriebenen Sublimationsprozesses liegen diverse Schichten tiefer. Daß Schmidt der Lösung einmal ganz nahe kam (a. a. O. 238 oben), macht seinen Irrtum doppelt erstaunlich.

66 Sie war ein schönes Weib. Die dichten, pechschwarzen Flechten hatten sich gelockert und hingen ihr lang über den Nacken herab; das Gesicht war voll und frisch wie das eines jungen Mädchens; die dunklen Augen blitzten mit lebhaftem Feuer unter den beredten Wimpern hervor; die kirschroten Lippen ließen beim Sprechen zwei Reihen kleiner, glänzend weißer Zähne erblicken, und wie sie hochaufgeschürzt und mit emporgestreiften Ärmeln so vor dem Teige stand und gewandt und kräftig mit den schweren Gefäßen spielte, hätte selbst der schmuckeste Jungbursche nicht so leicht das Auge von ihr wenden können ... (a. a. O. 45)

67 In »Des Kindes Ruf« hat May das Lauschen in sehr subtilen Variationen abgebildet, am hintergründigsten in der Szene, wo der Gefangene beim Nachdenken über seine Lage den Ruf des verwundeten Kindes vernimmt.

68 XXXII, 155. Die (T)Schambäume, die im Vater-Land brennen, geben wohl kaum Rätsel auf, wie denn »Ardistan und Dschinnistan« die einfachst-großartigste Symbolik enthält: in keinem Werk haben Mays Konflikte kunstvollere Gestalt angenommen. Arno Schmidts Theorie geht auch hier am Kern vorbei; mit »Ardsch« ist es nichts.

69 Zu Wortvorstellungen und Erinnerungsresten s. Freud, Das Ich und das Es, Ges. Werke XIII, 247 ff.

70 Mein Leben und Streben 8

71 ebda. 100 ff.; Datendarstellung bei Hans Wollschläger, Karl May, Reinbek 1965, 16 ff.

72 Mein Leben und Streben 191

73 Wollschläger a. a. O. 42

74 Auch in dem vom KMV sekretierten umfangreichen Manuskript Mays »Frau Pollmer, eine psychologische Studie«, wo die Vorgänge ausführlich dargestellt sind, fehlt jeder Hinweis auf diese Weihnacht.

75 Mays Hochleistungszeiten lagen im November und Dezember; in solchen Phasen entstanden neben vielen Schriftsätzen etwa die Abwehrtexte »Dankbarer Leser«, »An den Dresdner Anzeiger«, KLG-Eingabe II und der Schluß der Selbstbiographie. Vgl. auch das Motiv »Festvorbereitungen« im ganzen Spätwerk - etwa XXX, 341: Wir standen vor unserm großen Feste, welches mir so viel Arbeit machte, daß ich für Anderes keine Zeit übrig hatte ...

76 Zettelnotiz in Mappe »Bruch I«, 23 (Original im KM-Archiv Bamberg). Vgl. Schlußbemerkung.

77 ausführlich hierzu Wilhelm Reich, Die Funktion des Orgasmus, Amsterdam 1965, 156 ff. »Abhängigkeit des Destruktionstriebes von der Libidostauung«

78 bei Gurlitt a. a. O. so ff. und in 172 f. (auch in Ges. Werke Bd. 34, Bamberg). Das Klages-Gutachten in: Ludwig Klages, Sämtliche Werke, Bd. VIII, Bonn 1971

79 Roxin a. a. O. 89

80 Mein Leben und Streben 20

81 Selbst im Spätwerk brechen solche Züge noch durch (etwa XXX, 356), jedoch stärker als früher von selbstkritischem Humor vermummt: die Vater-Eigenschaften erfuhren die gleiche Modifizierung wie die ganze Vatergestalt in der Selbstbiographie. Hierzu naiv, aber richtig Klara May: »Karl May hat auch in diesem Buche viel mehr Licht gegeben, als der Wirklichkeit entspricht. Seine Eltern sind schuld an seinem Unglück. Sie verstanden ihn nicht zu behandeln


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und trieben ihn in den Abgrund. Der Vater hat noch weit mehr Schuld als die Mutter. Aus vielen Momenten, die er mir erzählte, habe ich es entnommen. Im Buch fehlen sie. Er ist kein Ankläger ...« (Brief an Euchar Schmid vom 7. 12. 1910; Original im KM Archiv Bamberg). - Zum Wesen des Humors als »erspartem Gefühlsaufwand« s. Freud, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, Ges. Werke Bd. VI, London 1940

82 Mein Leben und Streben 34 ff., sehr sinnfällig gespiegelt auch in »Des Kindes Ruf« a. a. O. 47 ff.

83 Mein Leben und Streben 53

84 ebda. 32 f.

85 ebda. 79 und 92 f.

86 ebda. 76; s. auch Roxin a. a. O. 88 f.

87 ebda. 37

88 XXVII, 453 f.

89 Mein Leben und Streben 95

90 Paul Rentschka, Karl Mays Selbstenthüllung, Germania, Berlin, vom 5., 6. und 8. 12. 1908

91 Vgl. »Ange et Diable« und »Mensch und Teufel«, Jb-KMG 1971, 128 ff. und 136 ff.

92 vgl. Hans Wollschläger, Sigmund Freud, in: Deschner, Hg., Das Christentum im Urteil seiner Gegner 11, 28 ff., Wiesbaden 1971

93 Mein Leben und Streben 96 ff.

94 Wollschläger, Karl May, 20

95 Mein Leben und Streben 103

96 Zettelnotiz in Mappe »Bruch I«, 14 (Original im KM-Archiv Bamberg). Vgl. Schlußbemerkung.

97 Roxin a. a. O. 81 ff.

98 Mein Leben und Streben 109

99 Wollschläger a. a. O. 23

100 Mein Leben und Streben 111

101 Freuds glücklich gewählter, wenn auch nicht durchgesetzter Ausdruck für die Psychosen (Schizophrenie, Paranoia), d. h. die manifesten Spaltungskonflikte zwischen Ich und Außenwelt. Die Psychosenforschung scheint seit der so erfolgreichen Entwicklung der Chemotherapien zu stagnieren; jedenfalls reichen meine Kenntnisse zu einer Beurteilung nicht aus, und ich hoffe, daß sich einmal ein Fachmann, der über neueste klinische Erfahrungen verfügt, der Frage annimmt, wo und wie weit Mays kritische Zustände psychotischen Verhaltensbildern entsprechen.

102 Mein Leben und Streben 130 f.

103 ebda. 129

104 ebda. 172 ff.

105 Meine Beichte (1. Fassung), in Ges. Werke Bd. 34, Bamberg, 27. Aufl. 1968, 17

106 Mein Leben und Streben 177

107 ebda. 22; vgl. Ges. Werke Bd. 34, Bamberg, 27. Aufl., 46 Fußnote

108 Meine Beichte (2. Fassung), in Ges. Werke Bd. 34, Bamberg, 27. Aufl. 1968, Faksimile-Seite 3

109 Reich, Charakteranalyse 232

110 Freuds Grunddefinition in: Neurose und Psychose, Ges. Werke XIII, 390; vgl. auch: Der Realitätsverlust bei Neurose und Psychose, ebda. 363 ff.

111 XXX, 37

112 vgl. meine Anmerkungen in Jb-KMG 1970, 152 ff.

113 4-Seiten-Manuskript, 1932 (Original im KM-Archiv Bamberg)

114 Himmelsgedanken 105; auch Jb-KMG 1970, 110


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115 XXXI, 387

116 Freud, Ges. Werke XVII, 152: Notiz von 1938

117 XXV, 96

118 XXIX, 67

118a Ansgar Pöllmann. Ein Abenteurer und sein Werk: »Bezeichnend wiederum ist eine Aufnahme Mays vor einem Eisenbahnzug in Port Said. »Auf einer Sudanreise« lautet die Überschrift. Port Said ist bekanntlich ein ganz harmloser Ort zudem steht ja Kara Ben Nemsi Effendi vor einem komfortablen Eisenbahnzuge. Und wie steht er da? Während alle die zahlreichen aus- und einsteigenden Herren in der gewöhnlichen Tagestracht des Europäers mit Hut oder Fez sich geben, steht »Er« da im Tropenhelm und schneeweißen Reisekostüm, protzig über die Maßen, Karl May vom Scheitel bis zur Sohle ...« In: Über den Wassern III, 9 vom 10. 5. 1910

119 Hans Wollschläger/Ekkehard Bartsch, Karl Mays Orientreise, Dokumentation, Notizen vom 8. 4., 25. 6. und 11. 7. 1899: Jb-KMG 1971

120 vgl. Jb-KMG 1971, 166

121 Einzelnotiz, die Klara als »vielleicht noch nötige Nachtragung zu meinen Ausführungen über K.M.« überschrieb (Original im KM-Archiv Bamberg). Abdul Hamed war der türkische Sultan, der May - einem ziemlich phantastischen Bericht Klaras zufolge - Ende Juni 1900 mit großem Pomp und militärischen Ehren in Privataudienz empfangen haben soll.

122 Das Thema ist in diesem Sinne noch nicht bearbeitet worden, vgl. einstweilen Hans Wollschläger, Ecce Homo - Zur Krankheit Friedrich Nietzsches, in Lynx-Jahrbuch 67/68, Hamburg 1968

123 Mein Leben und Streben 30 und Meine Beichte (1. Fassung) a. a. O. 18

124 Pöllmann a. a. O., wo er von den »Maylingen« spricht, die »sich das Geheimnis von der »Menschheitsseele« in das Ohr raunen ...«

125 Roxin a. a. O. 89

126 XXX, 471

127 - die bei May stets mit extremen seelischen Krisen einherging: vgl. etwa Mein Leben und Streben 162 und 299

128 Mein Leben und Streben 208

129 Brief vom 9. 8. 1907 an den Hauptredakteur der »Kölnischen Volkszeitung« und Nachfolger von Cardauns (Original im KM-Archiv Bamberg)

130 Himmelsgedanken 340

131 ebda. 107

132 ebda. 9 f.

133 alle folgenden Zitate bis Kapitelschluß: XXX, 424 ff. und 554 ff.

133a Arno Schmidt, Sitara, Karlsruhe 1963, 277

134 XXX, 451

135 Alle Zitate dieses Kapitels aus XXX: 41, 42, 274, 275, 336f., 342, 343, 434, 14, 37, 342, 130, 133, 296 441, 442

136 Die phonetische Namenswahl dürfte vom deutschen »wallen« ebenso bestimmt worden sein wie vom englischen »wall«: das ist die Mauer, an der das Kind lauschte, und damit zugleich die Mauer, die Dilke am Schluß übersteigt, als der Geist Wallers in ihn gefahren ist (XXX, 649).

137 vgl. XXX, 437

138 Hier ist die Variante aus der »Pax«-Fassung stehen geblieben: - bloße Flüchtigkeit - oder eine fein geschaltete Folge des Umstands, daß May hier im Dialog durch das »Euch« des Gedichts direkt angesprochen ist?

138[a] XXX, 423

139 Nur in der »Pax«-Fassung 227, nicht in XXX. Die folgenden Zitate: XXX, 377, 350, 352, 399 ff., 393


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140 Es ist vielleicht nicht abwegig, daran zu denken, daß mit Petri Schwert einst ein »Ohr« abgehauen wurde (Ev. Joh. 18, 10): Deckmetaphern dieser Art sind stets mehrfach mit dem Erinnerungs-Syndrom assoziativ verknüpft, das sich in ihnen ausspricht.

141 Zettelnotiz in Mappe »Bruch I«, 17: KMJB 1922, 49

142 XXX, 402, 445, 470

143 XXX, 409 f.

144 XXX, 429 f.

145 Die folgenden Zitate: XXX, 444 ff.

146 XXX, 480

147 XXX, 373

148 XXX, 481

149 XXX, 354 und 508

150 XXX, 591

151 Die folgenden Zitate: XXX, 471 ff.

152 Mein Leben und Streben 152

153 Die folgenden Zitate: XXX, 580 ff.

154 Die folgenden Zitate: XXX, 636 ff.

155 XXX, 611

156 XXX, 601

157 XXX, 126

158 XXX, 608 und 611

159 XXX, 601

160 Die Stelle ist ein schöner Beweis dafür, wieviel exakter das unbewußte Gedächtnis arbeitet als das bewußte: als May in »Mein Leben und Streben« (43) schrieb, sein Vater sei Hauptmann der siebenten Kompagnie gewesen, täuschte er sich in der Erinnerung: in Wirklichkeit war der Vater Leutnant - ganz so wie Dilke es in »Friede« ist.

161 vgl. Wollschläger a. a. O. 79

162 XXX, 619; die folgenden Zitate: XXX, 640, 622, 633, 651

163 Fedor Mamroth, Karl May im Urtheil der Zeitgenossen, Frankfurter Zeitung vom 17. 6. 1899; vgl. Wollschläger a. a. O. 78 ff.

164 vgl. Mays Reisestil während der Orientreise: Wollschläger/Bartsch a. a. O.

165 XXX, 611; die folgenden Zitate bis zum Absatz: XXX, 611 f., 642, 641, 642, 643, 645 647

166 XXX, 637; die folgenden Zitate: XXX, 648, 650

167 Zettelnotiz in Mappe »Bruch I«, 31 (Original im KM-Archiv Bamberg). Vgl. Schlußbemerkung.

168 Brief an Fehsenfeld vom 25.7.1904 (Original im KM-Archiv Bamberg)

169 Mein Leben und Streben 298

170 ebda. 12, ähnlich auch 212 und 300

171 XXX, 437

172 erstmals in einer Funksendung 1956; auch in: Dya Na Sore, Karlsruhe 1958

173 Notiz vom 22. 8. 1938: in Ges. Werke XVII, 152, London 1941


   Der Karl-May-Verlag in Bamberg, der sich aufgrund von Umständen, die vor der Öffentlichkeit noch zu klären sind, im Besitz von Karl Mays schriftlichem Nachlaß befindet, hat aufgrund der Veröffentlichungen im Jahrbuch 1971 gegen dessen Verleger, Herausgeber und Redakteure eine strafrechtliche Privatklage erhoben und damit von allen Möglichkeiten, seinen Namen mit der Karl-May-Forschung zu verbinden, die bedauerlichste gewählt. Da dieser Prozeß bei Redaktionsschluß noch nicht entschieden war, waren wir gehalten, im neuen Jahrbuch auf alle diejenigen Zitatbelege aus dem unveröffentlichten Nachlaß Karl Mays zu verzichten, die an-


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gesichts der forschungsfeindlichen Haltung des Verlages weitere Klagen nach sich ziehen konnten. Es mußten also folgende Verse aus Mays Skizzenmappe »Bruch I« entfallen:

Ziffer 25: Vierzeiler, in dem May von einem dunklen »Schlund« spricht, in dem er Feuer »imitiere«;

Ziffer 45: Vierzeiler über ein »häßlich Weib«, mit dessen Gesicht der »Fluch des Ausgestoßenseins« verbunden sei;

Ziffer 57: Achtzeiler über ein »Höllenwerk im zarten Frauenleib«, das der Teufel »erfunden« habe; die fragmentarischen Schlußzeilen machen deutlich aus welcher persönlichen Erlebnisquelle diese flüchtig hingeworfenen Verse durchbrachen;

Ziffer 76: Sechszeiler über das Wort »Liebe«, an das May »die Erinnerung zerstört« sei;

Ziffer 96: Zweizeiler über die Beigabe vom »Apokryphem«, was »irre« mache;

Ziffer 167: Achtzeiler, in dem May davon spricht, daß er sich »dreifach lebend« fühle, als »Ich« sowohl wie auch als dessen »Oberes« und »Unteres« also ganz im Sinne von Freuds Instanzenlehre.

   Ich lernte diese hochinteressanten Materialien bereits vor 17 Jahren kennen als ich Mays Nachlaß in Radebeul durcharbeitete (vgl. meine Monographie S. 150) Daß ich sie unter den gegebenen Umständen nicht mitteilen kann, ist mir gerade beim vorliegenden Aufsatz, für den sie wertvolle Belege darstellen besonders schmerzlich, und ich kann nichts tun, als durch das Symbol der punktierten Leerzeilen auch dieses Verdienst des Karl-May-Verlags um die May-Forschung für die Mit- und Nachwelt festzuhalten.




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