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HANS WOLLSCHLÄGER

Sieg - Großer Sieg - - Karl May und der
Akademische Verband für Literatur und Musik


Über dem letzten Vortrag Karl Mays liegt für den Rückblick der Schein einer Verklärung: daß das Wiener Podium schon im Schlagschatten des Todes stand, hat das grelle, auf keine Schonung eingerichtete Licht der Rampe gedämpft, und wo sich - ganz jenseits der Tagespolemik - kritische Köpfe hätten schütteln mögen, senkten sie sich bald vor dem Grab. Fast ließe sich sagen, das eigentliche Ende dieser letzten Rede Karl Mays, das am 30. März 1912, habe ihren Text selber mit in die Große Stille entrückt: nie mehr wurde das wunderliche, einfältig grandiose Gedankengebilde beim bloßen Wort genommen; nie mehr begegnete das, was dem Enthusiasmus nur zu bald schon »Vermächtnis« hieß, der strenger wägenden Beurteilung. Etwas von dieser Verwandlung wird bereits in den Nekrologen der Wiener Presse sichtbar, die zehn Tage nach dem Vortrag noch einmal zurückblickten; vollends vollzogen wurde sie dann auf jener Platt-Form der biographischen Bearbeitung, auf der die May-Apologetik jahrzehntelang in zäher Feierlichkeit verharrte - und die als erste Klara May betrat, als sie den flüchtigen, vom Gedankenbau der Rede nur das Parterre umreißenden Entwurf Mays zum heilen Text glättete (-- sie hat dabei lediglich, wie heute erkennbar ist, die Abbreviaturen ausschreiben müssen, und zu der Wendung »... nach persönlichen Erinnerungen rekonstruiert ...« fehlte ihr, wie erkennbar ist, jede Ursache). Es kann hier nicht die Absicht sein, diese Verwandlung kritisch aufzulösen; und auch zu einer sichtenden Würdigung des Gedankengangs der Wiener Rede, zur Erörterung von Mays Kunsttheorie, von Mays Friedens-Idealismus, ist nicht die Gelegenheit - so sehr immer die Presseberichte, die allesamt, sei's gut- sei's bösartig, vom Schmockgeschmack entstellten, dazu verleiten möchten. Wohl aber sei doch die eine, wirkliche Verbindung angedeutet, die aus dem letzten

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Vortrag Karl Mays in sein Ende hinüberreicht, die eigentlich tragische, dunkelste, die menschlichste zugleich. Denn allerdings hat der Abend im Sofiensaal mit Mays Tod zu tun: er war nichts geringeres als dessen Ursache. Freilich nicht im Sinne der banalen Erkältung, die May aus dem Wiener Märzklima mit heimbrachte; die war leicht und bereitete dem Hausarzt Dr. Mickel keine Besorgnis. Doch wie die schwere Lungenentzündung vom Jahresende 1911 eine unmittelbare Folge der letzten Verhandlung gegen Lebius war, am 18. 12. in Moabit, genauer: des letzten, endgültigen, alles entscheidenden S i e g e s über den bösesten der Feinde, so wurde auch das Herzversagen am 30. 3. 1912 bestimmt durch den S i e g in Wien, den größeren, den endlichen Triumph, der die Bannmeile des öffentlichen Hasses für immer durchbrach. Nicht eine nochmalige große Belastung ließ die physische Gegenwehr des ein Jahrzehnt lang Gequälten müde werden und still, sondern das endliche Schweigen der Qualen, das große Aufatmen, die Heimkehr in die Freude. Daß sein Herz »höher« schlagen sollte, nach so langen Jahren des matten Schlags, nach so langen Jahren der tiefsten Schläge, d a s erst ist über seine letzten Kräfte gegangen.

Was alles die Wiener Rede für May bedeutet hat, ermessen zur Gänze auch heute nur erst die Wenigen, die das mörderische Akten- und Pressematerial der Jahre 1902 - 12 sich haben erarbeiten müssen; selbst die Autobiographie, die den Mitleidsfähigen zuweilen schon im Innersten erzittern läßt, gibt von der Wirklichkeit nur einen blassen Begriff. Ablesen aber läßt sich bereits von der jetzt vorgelegten Wiener Presse-Dokumentation, daß auch die Gegenseite, die Öffentlichkeit, nicht ohne Ahnung dessen war, um das es da ging: - man muß sich vergegenwärtigen, was es heißt, daß nicht nur die Wiener Rezensionen weit über Wiens und Österreichs Grenzen hinaus nachgedruckt wurden, sondern daß schon die bloße Ankündigung - eines Vortrags Karl Mays in einer Stadt, die in jeder Woche Dutzende von »interessanten Veranstaltungen« aufzuweisen hatte - auch die reichsdeutsche Presse von Frankfurt bis Breslau durchlief: - das ist vermutlich ohne jede Parallele. Was alles die Wiener Rede für May bedeutete, was alles sie, nach dem Plan der Veranstalter, bedeuten s o l l t e - es war nichts geringeres als dies: die volle Wiederherstellung seiner menschlichen Würde, seines gesellschaftlichen Ansehens, u n d zugleich die unzweideutig dekre-


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tierte Bestimmung seines literarischen Ranges. Es sollte zuletzt sein: seine endliche Aufnahme in den Kreis der Geistigen, Denkenden, Edlen - vollzogen von einer Institution, deren Name und Gewicht jede minderwertige Auslegung verbot.

Denn der »Akademische Verband für Literatur und Musik«, der diesen Plan verwirklichte, war nicht irgendein Verein, der aus buntscheckiger Laune auf den Einfall geraten wäre, den Erfinder des Old Shatterhand für Geld hören und sehen zu lassen - : er gehörte zu den vornehmsten und aktivsten kämpferischen Bünden, die der Wiener Kultur gegen die Wiener Barbarei zum Durchbruch verhalfen, und er lud Karl May auf ein Podium, auf dem zuvor Frank Wedekind gestanden hatte. 1908 gegründet, hatte er sich in kurzer Zeit über die k.u.k.-Grenzen hinaus einen respektierten Namen erworben, und selbst die Gossen-Presse Wiens mußte sich hüten, gegen ihn mehr als Nadelstiche zu riskieren, wo sie gegen May noch unbedenklich mit der Forke vorging. Das Unerhörte der Einladung wurde von den Gazetten denn auch durchaus registriert: die Wiener »Abendpost« plagte sich weidlich mit »einem Gefühl der Verwunderung darüber, daß ein Akademischer Verband für Literatur und Musik einen solchen Vortrag veranstalten konnte«; das »Fremdenblatt« spielte sich pädagogisch auf: eine »Vereinigung junger Studenten von so hohen intellektuellen Zielen hätte Karl May natürlich niemals einladen dürfen«; und in Berlin, wo man May in der Gerichtssaal-Rubrik zu verarbeiten gewohnt war, suchte das »Tageblatt« sich mit Spott an dem Ärgernis vorbeizuwinden: daß man den »Erdichter des Winnetou« eingeladen habe, beweise, »daß der Verband auf ein möglichst buntes und reichhaltiges Programm Wert legt« (1). Doch das war das Äußerste; offen anzulegen, im Ton der Gerichtssaal-Rubrik, wagte sich mit dem Verband keiner von denen mehr, die Karl May schutzlos zu sehen gewohnt waren.

Ein reichhaltiges Programm . . . Allzu bescheiden statuierte der Verband selber seine Ziele in dem Satz, er wolle »dem Studenten größeren Anteil am Kunstleben und die Möglichkeit künstlerischer Betätigung verschaffen« sowie eine »Ergänzung der akademisch-wissenschaftlichen Vereine und unpolitischer, unabhängiger Sammelpunkt« sein (2). Getragen von knapp 400 Mitgliedern (1912) veranstaltete er in der Saison 1911/12 allein 43 Vortrags- und Konzertabende, und ihr Programm


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liest sich heute, wo die Namen, die es damals durchzusetzen galt, in ihrem Rang keinem geistigen Menschen mehr zweifelhaft sind, wie ein Monument. Stets galt dabei die Hauptarbeit der Förderung der Mitlebenden, Neuen, Jungen - g e g e n den etablierten Kunstbetrieb, die talente-erstickende Kommerzkultur, den bequemen Schacher mit dem »Erbe«. Als etwa die erste »Wiener Musikfestwoche« - ein Begriff, der heute in allen Reisebüros der Welt gehandelt wird - im Juni 1912 zwar nicht umhin konnte, einem Jahrtausendereignis wie der Uraufführung von Mahlers Neunter Symphonie Raum zu geben, jedoch die lebenden Komponisten völlig ignorierte, veranstaltete der Akademische Verband demonstrativ ein »Gegenfest« mit zwei Abenden Neuer Musik - : in ihrem Programmbuch steht die erste wertsetzende Veröffentlichung über Anton von Webern und Alban Berg. Und auch das berühmte Konzert am 31. 3. 1913, in dem Schönberg außer seiner Kammersymphonie op. 9, Mahlers »Kindertotenliedern« und Orchesterliedern Zemlinskys die Uraufführung der Orchesterstücke op. 6 von Webern und zweier Altenberg-Lieder von Berg dirigierte und dessen beispielloser Skandal in die Musikgeschichte einging, - auch dieses Konzert war eine Veranstaltung des Akademischen Verbands - : wenige Beispiele für viele.

Musikalischer Leiter der Vereinigung war Emil Alphons Rheinhardt, der auch das in loser Folge erscheinende Flugblatt des Verbands »Der Ruf« mit herausgab: ein Forum der frühexpressionistischen Avantgarde und heute eine bibliophile Rarität; im Vorstand sekundierte ihm der Kritiker Paul Stefan - unvergessen durch seine Streitschriften für Gustav Mahler. Außer ihm saßen im Vorstand der Journalist Ludwig Ullmann, später einmal Mitherausgeber des »Anbruch« (und auch sein Name wird unvergessen bleiben - wenn nicht durch seine eigenen Arbeiten, so doch in den Glossen, zu denen er Karl Kraus Anlaß gab) (3), und Erhard Buschbeck, der Freund und unermüdliche Propagator Trakls und Däublers, Ehrensteins und Robert Müllers. R o b e r t M ü 11 e r war der literarische Leiter des Verbands.

Er wurde am 29.10.1887 in Wien geboren; er starb dort, erst unvollendete 37 Jahre alt, am 27. 8. 1924 durch Selbstmord und auf entsetzliche Weise. Sein Werk ist fast verschollen, sein Andenken blaß geworden: nur in den Wenigen lebt es noch fort, denen das Gute und Beste des Menschengeistes über alle Sterbedaten der Menschen und


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Zeiten hinweg tägliche Gegenwart ist. So hat auch kein Geringerer als Kurt Hiller, der einzige noch überlebende große Denker aus jener eminenten Zeit, erst jüngst noch wieder auf den »Meister kämpfender Denkprosa« (4) Robert Müller hingewiesen und ihn seinen »österreichischen Zwilling« genannt, seinen »großen Denkkameraden in Wien«, einen »außerordentlichen Mann«, dem er eine Erinnerung bewahre, »in der die Verehrung keine schwächere Rolle spielt als die Sympathie und der Dank« (5). Dieses Bekenntnis der Geistesverwandtschaft galt vor allem dem »Aktivisten« Müller, der nach dem ersten Weltkrieg in Wien den »Bund der geistig Tätigen« schuf, galt dem Mitarbeiter der von Hiller herausgegebenen hochbedeutenden »Ziel«-Jahrbücher (1916 - 24) - galt aber auch dem »Verfasser etlicher erregender Essays, des Dramas »Die Politiker des Geistes« und des (vielleicht zu schwierigen, doch eminenten) philosophischen Romans »Tropen«« (6). Wie die Gelegenheitsarbeiten für eigene und verwandte Zeitschriften (den »Ruf«, »Torpedo«; den »Brenner«, die »Neue Rundschau« u. a.) sind Müllers große Essays (»Macht«, 1915; »Österreich und der Mensch«, 1916; »Europäische Wege«, 1917; »Bolschewik und Gentleman«, 1920; - ja selbst mißglückte Texte wie sein Pasquill gegen Karl Kraus: »Dalai Lama, der dunkle Priester«, 1914, das ihn dann auch in Kraus' Magischer Operette »Literatur oder Man wird doch da sehn«, 1921, als Harald Brüller überleben ließ) - sind auch seine Romane (»Tropen«, 1915; »Der Barbar«, 1920; »Camera obscura«, 1921) und die wundervolle Erzählung »Das Inselmädchen« (1919) der Wiedererweckung wert - : Verleger, die Überschußerlöse aus der Produktion von Belustigungs-Drucksachen sinnvoll unterbringen möchten, sind aufgefordert, sich den Namen Robert Müller zu notieren: Robert Müller . . .

Müller, der damals erst 24jährige, hat den Wiener Vortrag Karl Mays nicht nur organisatorisch voller Umsicht, voller Bewußtsein für die Bedeutung dieser Tat, vorbereitet - er hat ihm auch literarisch den Weg geebnet, auf hoher Ebene: durch seinen Aufsatz »Das Drama Karl Mays«, der wenige Wochen zuvor in der von Ludwig von Ficker herausgegebenen Zeitschrift »Der Brenner« erschien (der »einzigen ehrlichen Revue« des deutschen Sprachraums, wie Karl Kraus sie später nannte). Er hat dann, um den begonnenen Dammbau gegen die Absonderungen der Gesindel-Clique um Lebius weiter zu festigen, eine Umfrage bei


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»hervorragenden Schriftstellern« veranstaltet und gebeten, zu der Einladung Karl Mays nach Wien Stellung zu nehmen - : einige der Antworten wurden im Nekrolog des »Neuen Wiener Tagblatts« zitiert - (und während Thomas Mann auf die Anfrage an seine Humanität nur jenen windigen Dandy-Ton hervorbrachte, den er dann noch über den ganzen Weltkrieg hinweg durchzuhalten vermochte - ». . . soll er nicht Räuberhauptmann gewesen sein? Ich glaube, ich würde mir ein Billet kaufen . . .« (7) - , fand sein größerer Bruder Heinrich auch die größere Gesinnung; zu Recht blieb jener unpubliziert, zu Recht wurde dieser Raum gegeben) (8). Und Robert Müller hat Karl May schließlich, als letzten Dienst, die Totenrede gehalten - einen Nachruf, der einzig dasteht unter den zahllosen Kundgebungen zum 30. März. Wie nie eine Arbeit zuvor vollbringt er in wenigen expressiv hingetuschten Sätzen ein Seelenbild Mays und seines Werkes, das gerade da seine höchste Genauigkeit erreicht, wo sie - wie May und sein Werk selbst - aus der rationalen Klarheit zurückweichen und ins Ahnende verschwimmen, ins Andeutende des Vieldeutigen, in die Dämmerung der Gleichnisse. Beide Texte sollen hier folgen, Karl May zu Ehren - und Robert Müller selbst und seinem wahrhaft großen, humanen Plan.



1 Wiener Abendpost vom 23. 3.1912; Wiener Fremdenblatt vom 23. 3.1912; Berliner Tageblatt vom 14. 3.1912.

2 Formeltext für den »Kürschner« und andere Nachschlagewerke

3 Albert Ehrenstein schrieb im Sept. 1912 an Hermann Meister, den Mitherausgeber des für den Frühexpressionismus bedeutenden »Saturn«: »Ullmann . . . besitzt viele ungedruckte Aufsätze vieler Leute, u. a. auch von mir, über Karl May; wenden Sie sich vielleicht unter Berufung auf mich an ihn, er wird Ihnen wohl Material überlassen. Und ein May-Denkmal - für das sich auch Soyka, Viertel etc. einsetzen würden - würde Ihnen die Dankbarkeit aller Jugend und Schuljugend sichern ... « Denn der Brief macht zuvor einen frappierenden Vorschlag: »Was meinen Sie zu einem Aufruf (und Rundfrage) Ihrerseits wegen eines Karl-May-Denkmals? Oktoberheft!!! Wir alle würden unterschreiben, Sie fragen extradem bei allen Celebritäten (Brüder Mann, Wedekind etc.) an, es gibt ein großes Hallo ... « (Original im Literatur-Archiv Marbach.)

4 Kurt Hiller, Köpfe und Tröpfe Hamburg-Stuttgart 1950, S. 57

5 Kurt Hiller, Leben gegen die Zeit, Hamburg 1969, S. 137 f. und 190.

6 ebd. S. 137.

7 Brief Thomas Manns vom 16. 3.1912 (Original im Karl-May-Verlag, Bamberg).

8 s. oben S. 79.


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