Jedermann weiß, daß Karl May ein - umstrittener - »Klassiker« unserer Jugend- und Abenteuerliteratur, daß er seit mehr als 70 Jahren der meistgelesene deutsche Autor überhaupt ist. Dieser Umstand ist bemerkenswert genug und ein Anlaß, sich mit ihm zu beschäftigen. Aber die »Massenwirkung« Karl Mays begründet, wie immer wieder betont werden muß, nicht die im engeren Sinne literarische Bedeutung dieses Schriftstellers. Im Gegenteil: Mays Bestsellerruhm, der ein würdiger Gegenstand soziologischer und volkspädagogischer Forschung ist, liegt nicht nur außerhalb der Reichweite ästhetischer Kategorien; er hat den Blick auf die literarische Erscheinung dieses Mannes und vor allem auf sein bedeutendes Spätwerk so sehr verstellt, daß unsere Germanistik noch nicht einmal von dessen Existenz Kenntnis genommen hat. Und doch sind die umfangreichen Romane seines letzten Lebensjahrzehnts (die Schlußbände des »Silbernen Löwen«, »Ardistan und Dschinnistan«, auch »Winnetou IV«) nicht nur die überragenden Gipfelleistungen seiner quantitativ gewaltigen Produktion, die einzigen seiner Werke, die strengen literar-ästhetischen Maßstäben standhalten; der vielbödig-visionäre Symbolismus seines Alterswerks verdient auch in der deutschen Literatur dieses Jahrhunderts den Ehrenplatz, der den Arbeiten Mays trotz ihrer fortdauernden Lebenskraft bisher vorenthalten geblieben ist. Den Kunstwerkcharakter der Altersromane, der auch von der ersten Generation der nach dem Tode Mays einsetzenden
»Forschung« durchaus verkannt worden ist, überhaupt erst einmal sichtbar zu machen und dem Verständnis dieser abseitigen, literarisch ohne Vorbild und Nachfolge dastehenden Meisterwerke vorzuarbeiten, ist deshalb eine der wichtigsten Aufgaben, die sich die Karl-May-Gesellschaft gestellt hat.
Die übrigen Aspekte des Mayschen Werkes sollen daneben in unserer Arbeit nicht vernachlässigt werden: Daß die »Reiseerzählungen«, die Mays Publikumserfolg tragen, ihre mythische Faszinationskraft über die Jahrzehnte bewahrt und mit dem Verschwinden der geographischen und zeitgeschichtlichen Kulisse nur um so reiner zur Erscheinung gebracht haben, ist gewiß, wenn auch auf anderem Felde, ein ebenso singuläres Phänomen; wie solche Art von Literatur entsteht und wie sie wirkt, wurde noch keineswegs hinreichend geklärt. Auch die vieltausendseitigen Mayschen Kolportageromane, die nicht zufällig gerade jetzt im Urtext wieder erscheinen, bieten den Untersuchungen zur Trivialliteratur, die sich in den letzten Jahren zu einem selbständigen Forschungszweig entwickelt hat, eines ihrer ergiebigsten Studienobjekte.
Aber das alles ändert nichts daran, daß unter dem Gesichtspunkt des literarischen Ranges in erster Linie und fast allein das Spätwerk Mays in Betracht kommt. Trotz wertvoller Vorarbeiten (namentlich von Stolte, Arno Schmidt, Wollschläger und Hatzig) stehen die grundlegenden Untersuchungen, die zunächst die vielfältigen Verschlüsselungen aufzulösen, die verschiedenen Leseebenen verstehbar und die Erzählstruktur durchsichtig zu machen hätten, immer noch aus. Wir haben deshalb mit Vorbedacht den Altersromanen in diesem ersten Jahrbuch besonderen Raum gewidmet: Für den »Silberlöwen« und »Winnetou IV« bringen wir einführende interpretatorische Lesehilfen, denen größere Arbeiten folgen werden; außerdem soll ein Begriffsregister zum letztgenannten Roman das Rüstzeug für weitere exakte Beschäftigung vollständig an die Hand geben.
Neben der Arbeit am Werk steht gleichrangig die biographische Forschung. Denn es gehört zu den obersten Zielen der Karl-May-Gesellschaft, das bisher unerschlossene Material für die immer noch ausstehende umfassende May-Biographie möglichst lückenlos zu sammeln. Karl May: Dieser grundsonderbare, liebenswerte, aber doch auch fragwürdige und beinahe unheimliche Mann, dem erzgebirgischen
Weberproletariat entstammend, fast ohne soziale Chance - ja sogar mit nur geringer Aussicht rein physischen Überlebens - seine Erdenlaufbahn beginnend, geschlagen obendrein mit einer unwiederholbar merkwürdigen, pseudologisch-phantastischen Wesensart, die zwar zur Quelle seines Schöpfertums, aber auch lebenslangen Leidens und aller seiner bürgerlichen Verhängnisse wurde; - sein aus dem Elend und dem Zuchthaus durch immer erneute Erhebungen und Stürze nach dem mystisch ersehnten »Dschinnistan« sich hindurchkämpfendes »Leben und Streben« ist bei aller Gebrochenheit und Zweideutigkeit seiner menschlichen Erscheinung exemplarisch und anrührend wie kaum ein anderes. Wir haben in diesem Jahrbuch vor allem versucht, die letzten Lebensmonate Mays in ihren beiden wichtigsten Stationen festzuhalten: der für seine bürgerliche Existenz entscheidenden Gerichtsverhandlung in Moabit, von der wir das »Protokoll« Rudolf Beissels, des vermutlich einzigen noch lebenden Augenzeugen, vorlegen, und dem legendären Wiener Vortrag vom 22. März 1912, dem eine umfassende Dokumentation gewidmet ist. Der alte May tritt uns aus diesen Berichten so »sprechend« und lebensnah entgegen, daß auch ein innerlich weniger beteiligter Leser sich dem Eindruck seiner suggestiven Persönlichkeit schwer wird entziehen können. Einige weitere biographische Proben aus anderen Lebensepochen Mays haben wir beigefügt. Doch kann dies nur ein allererster Anfang sein. Welch immenses biographisches Material noch der Veröffentlichung harrt, soll die Dokumentation von Hainer Plaul und Klaus Hoffmann zeigen; allein der Bestand ihrer beiden Privatarchive könnte eine Vielzahl von Jahrbüchern füllen.
Der vorliegende Band enthält außerdem mehrere unveröffentlichte bzw. unzugänglich gewordene Texte Mays: darunter Presseinterviews, Briefe und eine bemerkenswerte Stellungnahme zur deutsch-französischen Verständigung. Daneben tritt als geschlossenes Werk eine frühe Reiseerzählung, der verschollene »Ölbrand«, den wir im Faksimile der Urausgabe erstmals nachdrucken und erläutern. Die Geschichte ist wichtig sowohl für die Entwicklung der Winnetou-Gestalt wie als erste bekenntnishaft formulierte Parteinahme Mays für das unterdrückte Volk der Indianer. Von dem humanitären Pathos, das hier aufklingt, führt ein direkter Weg zum Friedensethos des alten May; noch »Friede auf Erden« empfängt seinen emotionalen Impuls von der Empörung des
Dichters über die Ausbeutung der farbigen Völker durch die Weißen. Auch in künftigen Jahrbüchern und in der geplanten Monographienreihe unserer Gesellschaft wollen wir versuchen, weitere May-Erzählungen unseren Lesern im Urtext wieder zugänglich zu machen.
Ein Wort noch zur inhaltlichen Gliederung des Jahrbuches: Die Beiträge des ersten Abschnittes sind einem geschlossenen Themenkomplex, der letzten Lebenszeit Mays, gewidmet; die zweite Aufsatzgruppe versucht Interpretationen; die dritte bringt biographische Beiträge, und der Schlußabschnitt legt verschiedene Werkmaterialien vor. Alle von Karl May stammenden Zitate und Texte sind durch Kursivdruck hervorgehoben; zitiert wird aus Gründen der Authentizität stets nach den originalen (also unbearbeiteten) Texten Mays, bei den Reiseerzählungen nach der Klein-Oktav-Ausgabe des Verlags Fehsenfeld, Freiburg 1892 - 1910. Die redaktionelle Betreuung des Buches ist eine Gemeinschaftsarbeit der auf der Impressumseite verzeichneten Herren. Neben unseren Autoren und meinen »Mitredakteuren«, deren Arbeitsanteil den meinen bei weitem übersteigt, habe ich besonders Herrn Prof. Dr. Heinz Stolte, Hamburg, zu danken, dessen Rat und tatkräftige Hilfe zum Erscheinen des Jahrbuches wesentlich beigetragen haben.