Abhold war Karl May allem Oberflächlichen, allem, wo nicht wenigstens ein Körnchen Feingehalt darin war, denn Edelmetall sollten nach seinem Dafürhalten alle Schriftsteller geben, auch dann, wenn sie nur schrieben, um zu unterhalten.
Hoch schätzte Karl May Lessing, ganz besonders »Minna von Barnhelm«, ihr nachstrebend wollte er seine »Pantoffelmühle« als Volksstück schaffen, aber mit Gesang (2). Die Pläne dazu hatte er entworfen, mir auch Phantasien daraus auf dem Klavier vorgetragen, lustige und ernste Szenen. Fertig wurde er damit nie. Immer war sie nicht gut genug, oder das Leben schob andere Dinge dazwischen, die ihn um die ganz eigenartige Stimmung brachten, in der er war, wenn diese heitere Muse bei ihm weilte, die lachte und doch eine Träne im Auge nicht zu verbergen vermochte. Es verwoben sich da Anzengrubergestalten mit den klassischen Linien Lessings, und seine liebsten Figuren, die ihm da
vorschwebten, waren Schweighover (3) und Mina Hensel, die Mutter unserer herrlichen Helena Forti (4).
Anders, wie viele Menschen, nahm Karl May literarische Genüsse auf. Z.B. war für ihn jeder Theaterbesuch ein wichtiges Ereignis (5). Da war er in Feierstimmung. Rechtzeitig mußte er da sein, eine Stunde zuvor schon den Alltag abstreifen können und sich nun auf das, was da kommen sollte, vorbereiten, und wenn er's auch noch so oft gesehen hatte. Ebenso war's nach der Vorstellung. Mindestens eine Stunde brauchte er, um die Eindrücke wieder zu verarbeiten, die der Abend ihm gebracht. Er beobachtete und urteilte fein, jede Veränderung, die ein Darsteller gab, wurde durchdacht und erwogen, gelobt oder getadelt. Miterleben konnte er alles, wie mir Lachen und Weinen zeigten. Aber er vermochte recht scharf und rücksichtslos zu werden, wenn in den Pausen die entsetzlichen Alltagsgespräche an sein Ohr drangen und er davon belästigt wurde. Einmal verbat er sich's sogar im Symphoniekonzert, nach einem Beethovenschen Werk, als drei Damen, die vor seinem Platz standen, über Toilettenfragen laut verhandelten. Es nützte nichts, das Thema schlug nur um in Küchensachen, und Karl May war der Abend gründlich verdorben (6). Von da an ging er aber auch nie mehr auf wahllose Plätze, sondern nur auf einen bestimmten, der ein Absondern vom Alltag ermöglichte. Oft beneidete er den König Ludwig von Bayern, der Kunstwerke nur für sich allein hatte genießen können, freilich meist nur Wagner, was Karl May wiederum nicht begriff, denn Wagner war nicht meines Mannes Ideal, ihm gingen Mozart, Weber, Beethoven über alles. Parsifal hörte er nie; wäre es der Fall gewesen, auch Karl May wäre ein begeisterter Wagnerianer geworden, glaube ich. Nach meinem Empfinden mißfiel Karl May das zu Laute, zu sehr Verwobene der Wagnerschen Kunst, sie war ihm nicht schlicht genug, nicht zu Herzen gehend. Es erfreute ihn nicht, wenn es nicht allen vergönnt war, an dem gebotenen Schönen sich zu erfreuen. Er war ein Kind des Volkes und vertrat das Interesse einfacher Menschen. Für sie lebte er und für sie hat er geschaffen (7).
Welche Werke Karl May am liebsten hatte, beantwortet am besten seine Bibliothek. Da stehen sie alle, die vielen Lieblinge. Jeder der ca. 3000 Bände hat ihn einst bewegt und nahm zeitweise sein ganzes Sinnen gefangen (8). Es kam vor, daß er so unter dem Bann eines Buches
stand, daß er weder hörte noch sah, was um ihn her vorging und Essen und Trinken vergaß. Letzteres will freilich bei ihm nicht viel sagen, denn er war kein Freund lukullischer Genüsse; wenn es nicht hätte sein müssen, würde er sich diese Arbeit erspart haben.
Die Werke sind in der Hauptsache wissenschaftlicher Natur. Belletristik ist schwach vertreten. Die Neuerscheinungen verfolgte er im Lesezirkel, und da waren ihm die »Fliegenden Blätter« das liebste. Sein erster Griff galt ihnen, eine herzliche Freude bereiteten sie ihm.
Die Bibel sollte ich eigentlich unter seinen Lieblingen nennen, das wäre aber unrichtig, denn für ihn war die Bibel d a s Buch der Bücher, und ich glaube, ihren Inhalt hatte er sich ganz zu eigen gemacht, denn er kannte sie großenteils auswendig, und oft hatte ich Gelegenheit, anläßlich von Besuchen geistlicher Herren seine unglaubliche Bibelfestigkeit zu bewundern. Seitenzahl und Psalmen stimmten in Streitfällen stets, und selbst berufene Vertreter mußten ihm Recht geben, denn was er wußte, wußte er genau (9).
Ich sprach einmal mit ihm darüber, wie es komme, daß er so leicht lerne? Er sagte mir: »Wenn ich ein Werk lese, dann steht es nach Jahr und Tag mir vor Augen, wenn ich es intensiv in mein Gedächtnis zurückrufe. Ich habe das Buch vor mir, ich lese wieder, wie vielleicht vor Jahren im Original, die Seiten, sehe, was mich damals besonders anregte, kurz, ich habe das Werk wieder vor mir und belebe neu mein Wissen.«
So war es mit der Bibel, sie lag geistig vor ihm, sein Leben lang, er konnte darin lesen, auch ohne die Blätter zu berühren. Ich glaube, auch diese abnorme Eigenschaft gehört in das Gebiet der Traumzustände, die so furchtbar in sein junges Leben eingegriffen hatten und die nur sein eiserner Wille bannte, nachdem er die Folgen der Passivität begriffen und aus jenem halb willenlosen Dämmerdasein erwacht war, dem die Gelehrtenwelt heute mit ganz anderem Verstehen begegnet als vor 50 Jahren. Hunderte von analogen Fällen haben inzwischen gezeigt, daß man es hier mit einem abnormen Zustand zu tun hat, der wie eine Krankheit jeden befallen kann und der nur unter der Hand eines kundigen Arztes schwindet, dem aber kein Strafrichter, am wenigsten ein solcher mit Anschauungen behaftet begegnen kann, wie sie noch vor 50 Jahren üblich waren (10).
Die französische Literatur war nie Karl Mays Faible, die englische war ihm lieber, obgleich er Shakespeare nur mit Einschränkungen verehrte. Es gab da zuviel Tote, zuviel Blut, nach seiner Meinung hätte sich's mit weniger Blut wohl auch machen lassen (11). Die Grausamkeit schreckte ihn, Byron war ihm lieb und vertraut. Oskar Wildes »De profundis«» hat ihn ins Tiefste erschüttert. Maria Corelli mit ihren phantasievollen, edlen Erzählungen hatte es ihm angetan (12). Longfellow und Trine regten ihn sehr an, aber den Letzteren zu lesen verbot er mir: »Du sollst dir deinen Gott nicht erschüttern lassen«, so sagte er, »nur ganz fest im Glauben an Gott stehende Menschen können mit Nutzen diese Werke lesen. Ich will nicht, daß auch nur ein Schatten in deine Seele falle. Mir raubt keiner meinen felsenfesten Glauben, ich kann alles lesen.« (13)
Und so tat er auch. Wie eine Biene flog er von Blume zu Blume auf dem Feld der Literatur und trug zusammen, fügte Eigenes zum Bau hinzu, den er hinterließ. In seinem letzten Vortrag in Wien, wo ihn zum letzten Mal unbeschreiblicher Jubel umtoste, legte er die Werke seiner Freundin Bertha von Suttner seinen Hörern ans Herz, predigte wie jene herrliche Frau »Frieden«, und wie ein Hohn auf all dies Wollen brach so kurze Zeit danach dieser grauenvolle Weltkrieg aus. Am 12. Februar 1913, nicht ganz ein Jahr nach meines Mannes Heimgang, war Bertha von Suttner noch bei mir, um alte Erinnerungen auszutauschen, die sich an jene Wiener Tage knüpften und um jedes Plätzchen zu sehen und zu betreten, wo hier im Hause der von ihr so hoch verehrte Mann geweilt. »Er hat mehr erreicht als ich und meinesgleichen«, so sagte sie mir, »er hat die Herzen der Menschen zu finden gewußt.« Damit hatte sie Recht. Karl May fand die Herzen seiner Leser und wird manchem ein Freund auch in schweren Lebenslagen geworden sein. Um das zu können, halfen wohl alle seine geistigen Freunde, die in der nun vereinsamten Bibliothek stehen und ernst und still auf den Beschauer niedersehen.
Anmerkungen:
Das Thema »Klara May und die Wahrheit« eröffnet, wie der Kenner weiß, sehr heikle Perspektiven. Nicht nur hat die zweite Frau Karl Mays die Forschung durch Vernichten wichtigster Dokumente empfindlich geschädigt; sie trug auch durch eine bedenkenlose Legenden-Fabrikation folgenschwer zu jenem Abziehbild vom strahlend-
imbezillen »Volksschriftsteller« bei, dessen Verfestigung der Erkenntnis Mays heute so sehr im Wege steht. Einige Beispiele habe ich in meiner Monographie mitgeteilt; weitere Proben bringt das hier zu Papier gekommene, 1919 angefertigte Porträt vom »Kind des Volkes«, das seine »Lieblingsschriftsteller« so »ganz besonders ins Herz geschlossen« hat, dem Schiller »ein nie versiegender Jungborn« ist, bei dessen Benutzung stets »die hellen, blauen Augen« leuchten, und das sich - ein unwiderstehlich schöner Zug - seinen »felsenfesten Glauben« nicht rauben läßt. Wer diese schwer erträglichen Einfältigkeiten durch die reinen Motive entschuldigt sieht (einer Frau, die Karl May an seinen Wahrheiten hatte leiden sehen und deren Liebe sein Bild leidlos auf die Nachwelt zu bringen wünschte), der wird vielleicht doch nachdenklicher, wenn er verfolgt, mit welcher Hemmungslosigkeit solche harmlos begonnenen Retuschen bei Klara May im Lauf der Jahre fortwucherten - bis hin in jene späte Zeit, wo sie auf einmal »den Führer als idealen Friedensverkörperer« erblickte, »seine Wege, die zum Frieden führen müssen, in Karl Mays Sinne« sah, Karl May selbst für den Antisemitismus zu reklamieren gedachte und auf diesen zeitgemäßen Pfaden immer mehr mit den Grundgedanken der May-Texte kollidierte; weshalb sie dann, völlig konsequent, diese selbst zu retuschieren versuchte: für eine Neuauflage von »Friede auf Erden!« verlangte sie, den »heiklen Punkt« der »Rassenmischung am Schluß« zu eliminieren, und empfahl dafür, in einem Vorwort auf die »klugen, menschlichen Maßnahmen« aufmerksam zu machen, zu denen »A. Hitler die Wege gewiesen«: - ein Ansinnen, dem der Verleger E. A. Schmid glücklicherweise standzuhalten wußte. Das Beispiel ist extrem - und geht so über alle Grenzen des Tolerablen hinaus, daß zugleich deutlich wird, was eigentlich hier zu verklagen ist: nicht die bedauerliche urteils- und maßstabslose Individualität einer Frau, die dem Rang des Namens, den sie trug, nicht gewachsen war, sondern jene Nachkommen-Gesinnung schlechthin, die den Abstand zwischen dem der Öffentlichkeit gehörenden Werk eines Schriftstellers und ihren privaten Wünschen nicht zu erkennen vermag. Das 20. Jahrhundert ist unangenehm reich an Beispielen; aber nur eines - Elisabeth Förster-Nietzsche - mag schauerlicher sein als das der Klara May. Hier Wandel zu schaffen, Sicherung eines wahrhaft »öffentlichen Interesses«, wäre Sache des Gesetzgebers; hier die Augen zu öffnen, für Kritik und Kontrolle den Blick zu schärfen. kann das harmlose Beispiel helfen. Und nur darum zuletzt drucken wir den Aufsatz Klara Mays ab, zeigen wir »Klara May in ihrem eigenen Lichte«: weil er die Gefahren erkennen läßt, die dem Bild eines bedeutenden Mannes gerade von der Seite drohen, die ihm feindlich gewiß nie gesonnen war - und die doch seiner Wahrheit feindlicher nicht sein könnte. Wahrheit: ist in dem bunt plaudernden Aufsatz Klara Mays nicht oder kaum enthalten; wohl aber ist darin enthalten: das Bild der plaudernden Klara May selbst, - ein Bild, um dessen sehr aufmerksame Betrachtung der kritikfähige Leser gebeten wird.
Einige weitere Anmerkungen mögen das Verständnis vergrößern:
1 Pauline Ulrich (1835 - 1916) wirkte von 1859 bis zu ihrem Tode am Dresdener Hoftheater: eine Schauspielerin von einzigem Rang, die das tragische, heroische und komische Fach mit gleichem Können beherrschte. Sie setzte sich besonders für moderne Autoren ein (Ibsen, Björnson), und ihre Zusage für die Marah Durimeh hat, obwohl sonst nirgends belegt, viel Wahrscheinlichkeit für sich. Zeitgenössische Kritiken rühmen an ihr die Ablösung des traditionellen Pathos, der olympischen Sprach-Pose durch eine aus Humor und Grazie gewachsene natürliche Sprechweise. Theodor Fontane schrieb nach einem Ehrengastspiel der Schauspielerin am Berliner
Hoftheater, er habe seit langem »auf dem Gebiete der Tragödie und des historischen Schauspiels auf unserer Bühne nichts gesehen, was an die Pompadour des Fräuleins Pauline Ulrich heranreichte ! Hier hatten wir das alle kleinsten Details beachtende Hineinleben in einen Charakter - hier war alles durchdacht und berechnet und doch wiederum natürlich geworden unter dem Vollmaß der ihr eigenen Kunst; in jedem Augenblicke Kontrolle und Zügelführung. und doch auch wieder jene Freiheit, die das Resultat der Sicherheit ist ...«
2 Die Pantoffelmühle. Original-Posse mit Gesang und Tanz in acht Bilderz von Karl May. Musik von demselben ...: hierzu vgl. die Mitteilungen von Max Finke im KMJB 1925, 5.58 ff. Die Handschrift stammt aus früher Zeit; möglicherweise schrieb May den Entwurf bereits 1864, als er für den Ernstthaler Gesangverein »Lyra« tätig war. Wenn er später bei leichten Gelegenheiten aus den Kompositionen noch vortrug, so erscheint es doch ausgeschlossen, daß er die Vollendung beabsichtigte: er war über den geringen Anspruch solcher Arbeiten hinausgewachsen, als Klara ihn kennenlernte. Ihre Behauptung, »diese heitere Muse« habe noch häufig bei ihm »geweilt«, läßt sich nicht einmal durch Wahrscheinlichkeit stützen, und richtig ist lediglich der eine kurze Satz: »Fertig wurde er damit nie.« - Der aberwitzige Vergleich mit Lessing erledigt sich von selbst.
3 Felix Schweighofer (1842 - 1912): neben Alexander Girardi einer der großen Charakterkomiker der Wiener Volksbühne; in seinem Todesjahr erschien von ihm »Mein Wanderleben«.
4 Helena Forti (1884 - 1942): bedeutende Sopranistin, 1911 bis 1924 an der Dresdener Hofoper engagiert; ihre Stimme ist auf einigen seltenen Odeon-Platten festgehalten. - Ihre Mutter, Minna Forti-Hänsel (und daß Klara die Namen unbeirrbar falsch schreibt, mag die Frage mit beantworten, welche Stimmigkeit von ihren Mitteilungen erwartet werden darf), wirkte seit 1887 als Soubrette und später als Komische Alte am Dresdener Residenztheater.
5 Vgl. den Abschnitt »May und das Theater« bei Hansotto Hatzig, Karl May und Sascha Schneider, Bamberg 1967, 5.233 f.
6 Dergleichen Anekdoten haben u. a. die Eigenart, sich im Lauf der Zeit im Detail zu verändern: bei Max Finke, Karl May und die Musik (KMJB 1925, S.61 f.), erzählt Klara May von »Damen, die in der Pause nach einer Beethovensinfonie von Weinabziehn zu sprechen wagten. Er (Karl May) ging, ohne die Fortsetzung des Konzerts anzuhören ... «
7 Die allzu dürftigen Gründe, die Karl May hier für seine Abneigung gegen Wagner in den Mund gelegt werden, sind durch die Wendung »nach meinem Empfinden« genügend gekennzeichnet. Klara May selbst war begeisterte Wagner-Verehrerin; sie hat auch im Hause Wahnfried verkehrt und dort sogar bei glücklicher Gelegenheit den schon erwähnten Friedensverkörperer kennengelernt; ihr enthusiastischer Bericht darüber blieb jedoch - ein Verdienst E. A. Schmids - ungedruckt.
8 Ein Verzeichnis von Mays Bibliothek, die heute im Karl-May-Verlag, Bamberg, wiederaufgestellt ist, erschien im KMJB 1931. Leider spottet es nur allzu vieler bibliographischen Gesetze (so muß man z. B. Thomas de Quincey unter »Thomas« suchen, ganz als handelte es sich um den von Aquin; Übersetzungen erscheinen rätselhafterweise unter dem Originaltitel, wo das Impressum ihn den Bibliographen verriet, jedoch mit Ort und Jahr der Übersetzung; lateinische Autoren treten wahlweise im Akkusativ oder Genetiv auf, usw.), und es steht nur zu hoffen, daß dieses unzulängliche Hilfsmittel einmal durch einen exakten Katalog ersetzt werden kann, der bei den einzelnen »vielen Lieblingen« auch vermerkt, wie weit sie - durch Anstreichungen erkennbar - von May durchgearbeitet wurden und wieweit sie nur, unaufgeschnitten bzw. -gebrochen, einen Ruheplatz in den Regalen fanden. Vgl. hierzu meine Monographie S. 62.
9 Die Szene, in der »berufene Vertreter« Karl May auf Bibelfestigkeit prüfen, wird sicher ihre Wirkung auf niemanden verfehlen, wobei als besondere Feinheit der
Beobachterin gelten darf, daß der von geistlichen Herren Besuchte sogar die »Seitenzahl« der Schriftstellen anzugeben wußte.
10 Eine Forschung, die nicht entschuldigen, sondern erhellen möchte, kann sich mit dieser verharmlosenden Erklärung der frühen Verfehlungen Mays nicht zufrieden geben (vgl. die Darstellung in meiner Monographie). Klara May glaubte sich freilich zur Durchsetzung ihrer These besonders befähigt, nachdem es ihr mit Hilfe Erich Wulffens gelungen war, störend konkrete Materialien wie die gesamten Mittweidaer Strafakten Mays (2 Bände) vernichten zu lassen - : auch hier müssen Motiv und Tat getrennt beurteilt werden.
11 Da ein Gegner Mays bei diesem Satz besonders betroffen dreinblicken wird, sei nochmals daran erinnert, daß hier nicht Karl May redet, sondern seine Witwe - ein Unterschied, ähnlich groß wie der zwischen Wahrheit und Dichtung.
12 Marie Corelli (1855 - 1924): englische »Volksschriftstellerin« mit den höchsten Auflagen ihrer Zeit. »Der Grund für ihren Erfolg lag nicht so sehr in der Qualität ihres Werkes als in der Tatsache. daß sie den Volksgeschmack so genau zu treffen wußte ...« (Everyman's Encyclopaedia, 4London 1958). Karl Mays Bibliothek enthielt 7 Werke der Autorin.
13 Die »Erinnerungen«, mit denen Klara May Leben und Streben ihres Mannes zu verschönern suchte, sind, da ihr eine besonders namhafte Intelligenz bei diesem Geschäft nicht zur Seite stand, glücklicherweise in den meisten Fällen leicht aufzuklären. So fällt auch die Rührung bezweckende Geschichte vom felsenfest glaubenden Dichtergatten, der seiner wenig klaren Klara ihren Gott nicht erschüttern lassen will, in sich zusammen, wenn eine Nachprüfung zeigt, daß von den vier Büchern Trines, die in Mays Bibliothek standen, zwei auf dem Vorsatz eine handschriftliche Widmung an das »Herzle« tragen. Das behauptete Verbot übertrat die Gattin auch sichtbar insofern, als die einzige englische Ausgabe von ihr mit zahlreichen Vokabelanmerkungen am Rand versehen wurde, die zwar nicht auf tieferes Verständnis, doch auf ausführliche Beschäftigung schließen lassen. Von Ralph Waldo Trine (1866 - 1958), dem Emerson-Schüler und Populär-Philosophen, besaß May folgende Werke: Was alle Welt sucht, Stuttgart 1906 (Anstreichungen Mays); In Harmonie mit dem Unendlichen, Stuttgart 1907 (Widmung ans »Herzle« 1908); What all the world's a-seeking, London 1908 (Anmerkungen Klaras); Das Größte, was wir kennen, Stuttgart 1908 (Widmung ans »Herzle« Weihnachten 1908; Anmerkungen Mays).
Sigmund Freud, das hellste Gehirn dieses finsteren Jahrhunderts, hat von der »ganz eigentümlichen Weise« gesprochen, in der Biographen »an ihren Helden fixiert sind. Sie haben ihn häufig zum Objekt ihrer Studien gewählt, weil sie ihm aus Gründen ihres persönlichen Gefühlslebens von vornherein eine besondere Affektion entgegenbrachten. Sie geben sich dann einer Idealisierungarbeit hin, die bestrebt ist, den großen Mann in die Reihe ihrer infantilen Vorbilder einzutragen, etwa die kindliche Vorstellung des Vaters in ihm neu zu beleben. Sie löschen diesem Wunsche zuliebe die individuellen Züge in seiner Physiognomie aus, glätten die Spuren seines Lebenskampfes mit inneren und äußeren Widerständen, dulden an ihm keinen Rest von menschlicher Schwäche oder Unvollkommenheit und geben uns dann wirklich eine kalte, fremde Idealgestalt anstatt des Menschen, dem wir uns entfernt verwandt fühlen könnten. Es ist zu bedauern, daß sie dies tun, denn sie opfern damit die Wahrheit einer Illusion und verzichten zugunsten ihrer infantilen Phantasien auf die Gelegenheit, in die reizvollsten Geheimnisse der menschlichen Natur einzudringen ...« (Ges. Werke VIII, 202 f., London 1941 ff.) Das alles könnte über Klara May geschrieben worden sein. Aber Klara May ist kein Einzelfall. Sie ist ein Typus.
Hans Wollschläger
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