Wir folgten diesem Wege. Drüben angekommen, trafen wir auf ein zweites, noch breiteres Wasserbett, welches sich mit dem unserigen vereinte. Und da, gerade vor uns, sahen wir das Thor, durch das man in das »Tal des Sackes« gelangte.
Zwei früher senkrecht stehende Felsenwände hatten sich einander zugeneigt, bis sie hoch oben aufeinander getroffen waren. Sobald uns dieses finstere, aus gewaltigen Massen bestehende Thor aufgenommen hatte, war es dunkel um uns her. Indem wir nun langsam am Rande des Wasserbetts hinritten, begleitete uns hoch oben ein Himmelsstreifen, welcher nicht breiter als eine Hand zu sein schien.
Die Schritte unserer Pferde erregten hier einen Höllenlärm, von den zurückgeworfenen Schallwellen verzehnfacht, dumpf, hohl, ohne Höhe oder Tiefe, unbegrenzt, vollständig klang- und wesenlos. Es war ein
Spektakel schattenhafter Geräusche, denen mit dem Inhalt auch das Leben fehlte.
Wir atmeten eine dicke, stehende, feuchtmodrige Luft, welche die Lungen beschwerte. Das wurde erst besser, als die Felsen oben weiter auseinander traten und uns vom Ausgange der Schlucht her ein frischer Odem entgegenwehte. Dann gab es plötzlich Raum genug für uns alle. Der »Sack« war zu Ende.
Eigentlich war der Name nicht zutreffend gewählt für die Örtlichkeit. Sie glich weniger einem Sack, als vielmehr einer lang- und dünnhalsigen, weitbauchigen Phiole. Der schmale Gang verbreiterte sich mit einem Male zu einem großen, halbkreisähnlichen Platze, auf dem wir ganz bequem lagern konnten. Und doch hatte der Ausdruck Sack, wenigstens im vergleichenden Sinne, auch seine Richtigkeit, weil der Weg von hier nicht weiter ging. Die Bodenlinie der Flasche wurde nämlich von einem tiefen Felsenriß gebildet, dessen Ende wir nicht ersehen konnten. In diesen Riß mündete unser Wasserlauf. Es mußte bei gefülltem Bette Grauen erregen, die Wassermasse spurlos da unten in der Tiefe verschwinden zu sehen. Der jenseits liegende Teil des Berges war nicht steil gerichtet: er bildete vielmehr eine moosig grüne Böschung, auf welcher einzelne uralte Eichen und andere Laubhölzer standen. Das lockte hinüber aber leider konnten wir nicht, weil der Felsenspalt uns von ihm trennte ... (XXVIII, 244 ff.)
So weit die Schilderung, die mitten in eine der Mayschen Modell-Landschaften führt. Gleichwohl unterscheidet sich, was hier im »Reiche des Silbernen Löwen« der Reisefabel kulissenmäßig vor den Weg geschoben wird, grundsätzlich von allen früheren Duplikaten. Auch der unvorbereitete Leser, der dem reitenden Effendi aus dem Land der Deutschen bislang schon über ungezählte Wüsten-Warrs und Trümmerstätten in ungezählte exotische Täler gefolgt ist, wird einigermaßen stutzen bei dem dumpfen Hall, der aus diesem Tal des Sackes durch den gewohnten Lese-Ton heraufdringt, und irgendwie doch spüren dürfte er, daß es von da an - mit wachsend hohlem Hufschlag - über sehr doppelte Böden hinweggeht. Tatsächlich betreten wir in dieser »Sackgasse« - das ist in der oberschichtigen Allegorie der Chiffren-Wert dieser Landschaft - einen der immer merkwürdigen Schauplätze der Literatur: ein ganz abseitiges Schriftsteller-Leben geht darin zu Ende - und ein
neues, nicht minder abseitiges beginnt. Die offizielle Literatur-Würdigung hat das bis heute in ungewöhnlich gewöhnlicher Trägheit nicht recht wahrhaben wollen und überdrüssigen Ohrs darüber weggehört, schien doch auch unter diesen angegrauten Soffitten des Show-Masters May nichts weiter zu schallen als das altbekannte Geräusch jenes Pferdefußes der Literatur, der schön und züchtig »Volksschrifttum« heißt. Dabei ging dort etwas sehr Anderes vor sich, und das - ein wunderlichstes Schauspiel der Bekehrung - mag durchaus staunend betrachtet werden: wie da ein Autor, 60 Jahre alt, der bis dahin ein ganzes Schreiber-Leben lang das getan hatte, was man ebenso allgemein wie milde »Fabulieren« nennen könnte, plötzlich vor dem Ende seines »Lateins« steht und alsbald in einer Bildersprache sich mitzuteilen fortfährt, die seinen Leser-Millionen ausgesprochen - nun, sagen wir »persisch« vorkommen mußte. Planer gesagt: es handelt sich hier um jenen Orts- und Zeit-Punkt in der Geographie von »Karl Mays Gesammelten Reiseerzählungen«, wo der Autor die überaus erfolgreich visitierten Gefilde der Parterre-Literatur hinter sich ließ und einen ersten Schritt über die Grenze der Großen Dichtung tat. Das geschah, als innere Verwandlung, genau um die Jahrhundertwende, während der einzigen realen Orientreise, die May unternommen hat; das wurde sichtbar, lesbar abgebildet in den Jahren 1902/03, als der III. und IV. Band der Reiseerzählung vom »Reiche des Silbernen Löwen« erschien, das erste der »symbolischen« Alterswerke.
Begonnen hat die abenteuerliche Exkursion ins persische Hochland noch ganz im alten, dutzendfach bekannten Stil: da reitet der Effendi Kara Ben Nemsi mit seinem Alter-Ego Halef Omar wieder einmal ins Exotische hinaus, wohlausgerüstet mit seiner fünfundzwanzig-schüssigen Schreibfeder auf »Wind«-schnellem Phantasie-Vehikel: von Basra's sumpfiger Fieberregion geht es exakt geographisch über Muhammera und Doraq an den um diese Zeit ziemlich wasserreichen Dscherrahi und in die Berge des südlichen Luristan: die Höhen ragen schroff und steil - kahl liegen die Hänge - die Tage sind brennend heiß - die Nächte empfindlich kalt: so weit in wenigen Strichen die übliche Maysche Table-Top-Landschaft. Ganz üblich auch fallen die Beiden dann unverzüglich »unter die Räuber«, die ihnen Waffen und Pferde abeignen; - doch sind das schon recht sonderbare Gauner, die von da ab in der Handlung herumlaufen: sieht man genau hin, so erkennt man unter Keffije und
Agal sehr unexotische Grimassen: so wenig persisch, daß sie schon wieder echt-deutsch anmuten: - deutsche Verleger sind es; und was man sich unter den Besitztümern vorzustellen hat, um die sie den Autor begaunern, ist kaum weiter rätselhaft. Die Beiden, die als Helden diesmal ganz und gar nicht auf der Höhe sind, haben aus den Niederungen, in denen die Lebensreise begann, schlimme »Ansteckungsstoffe« mit heraufgeschleppt; und so kommt der inneren, im »Tal des Sackes« abgeschilderten Krise die äußere hinzu: der Effendi und seine Anima erkranken am »Typhus«, und nur mit letzten Kräften gelingt ihnen der Sprung über die Vergangenheit: über die tief einschneidende Schlucht, in der alles bisherige Dichten und Trachten spurlos verschwindet. Was sie dann »jenseits« finden, das geheimnisvolle Tal der Dschamikun, kann auch in Umrissen nicht hergezeichnet werden - wie denn das ganze 1300-Seiten-Werk mit einer Handlungsreportage nur zu Bruchteilen greifbar wird: nicht weniger, nichts Geringeres breitet sich aus als ein komplettes Kleines Welttheater«, auf dessen Bühne nicht nur »die Menschheit«, sondern das gesamte innere und äußere Personale von Mays Leben zu agieren beginnt. Er selber, der hier seinem Chodem, seinem Höheren Doppelgänger begegnet, bewegt sich nach langer Betäubung und endlicher Genesung bei Rosenduft und Harfenspiel zuerst noch ganz benommen in dem vieldimensionalen Raum, den er mit seiner Alters-Literatur betreten hat: - besichtigen wir mit seinen Augen von all den grandiosen, magisch verstellten Hell-Dunkel-Kulissen nur eine: Das Hohe Haus:
Was sind die alt-indischen Tempel? Die ägyptischen Pyramiden? Die mittelamerikanischen Teocalli? Gewaltige Menschenwerke, welche der Zerstörung bis heutigen Tages trotzten, ja. Doch reden sie zu uns von einer gewissen, ganz bestimmten Zeit in einem ebenso gewissen, ganz bestimmten Tone. Hier aber lag ein Bau vor mir, zu dem in unberechenbarer Vorzeit der Grund gelegt worden war; die später Gekommenen hatten ihn fortgesetzt, und heut sah ich, daß er noch fortzusetzen war. Also kein Überrest aus einer vergangenen, besonderen Epoche, sondern ein steinernes Kalenderwerk von Anbeginn bis auf die Gegenwart, mit Raum auch noch für die zukünftige Zeit.
la, von Anbeginn! Denn die lange, untere, massive, bis in das Innere des Berges reichende Mauer hatte kein Anderer als nur der gegründet,
der von Anfang an war. Waren vielleicht die höheren Teile dann ihm geweiht gewesen? Wie hieß hierauf der Mensch, der mächtige, dem diese Riesenmauer noch zu niedrig gewesen war? Vielleicht Olor, der sagenhafte? Oder war es Hasisadra, von dem man sagt, daß er zur Zeit der Sündflut dort König gewesen sei? Hatte er das Nahen der Flut geahnt und baute höher, um sich vor ihr zu schützen? Oder ging der Geist des ersten Brudermordes, Kains Gespenst, im Lande um? Mußte der Mensch sich von den Menschen durch Mauern trennen, die selbst für Giganten unersteigbar waren? Denn die Riesenquader hatten wenigstens dieselben Dimensionen wie die weltberühmten Mauersteine, welche die Umfassungsmauer von Baalbek bildeten. Ich selbst bin, um ihn auszuschreiten, dort auf einen Block gestiegen, den man Chadschar el Hubla nennt, und habe ihn über 21 Meter lang, mehr als vier Meter hoch und genau vier Meter breit gefunden. Und hier am »Hohen Hause« zählte ich sechs Lagen solcher Steine. Sie waren nicht durch Mörtel, sondern durch die eigene Schwere miteinander verbunden und hatten so fein und genau geschliffene Seiten, daß von da aus, wo ich stand, selbst nach verflossenen Jahrtausenden die Fugen nicht überall deutlich zu erkennen waren. In gleicher Höhe mit ihnen lagen in den Seiten des Berges die Brüche, denen man diese Kolosse entnommen hatte. Sie waren dunkel, fast schwarz gefärbt. Welche Art Gestein, das konnte ich natürlich von so weit aus nicht bestimmen.
Die Riesenquadermauer erreichte nicht die volle Breite des Felsenfundaments. Es war überhaupt jedes folgende Stockwerk schmäler als das vorhergehende gebaut, dafür aber mehr artikuliert. Je mehr der Geist den Stoff beherrscht, desto weniger ist von dem letzteren dazu nötig. Die obere Lage der Steine war etwas vorgerückt, vielleicht den sechsten Teil ihrer Breite. Dadurch war der Abschluß erreicht worden, der zugleich als Brüstung für das jedenfalls glatte Dach gedient hatte.
Welchem Zwecke hatte dieser cyklopische Bau gedient? Der Verehrung des großen, einzig-einen El, dessen Name in so vielen Gottesnamen wiederklingt? Warum ihm, dem »Allanwesenden« und »Nieverschwindenden« diese unzerstörbaren Felsenblöcke auf unwandelbarer, von der Natur selbst hergestellter Unterlage?
Wie lange wohl hatte das obere Dach dieses Souterrain, wie ich es nennen will, das Sonnenlicht geschaut? Wer kann es sagen! Dann waren
Andere gekommen und hatten weitergebaut. Die folgende Etage war, wie bereits erwähnt, schmäler; auch trat sie etwas zurück, um eine Vorhalle zu bilden. Auch sie bestand aus schweren Werkstücken, welche teils den schon angegebenen, teils den darüberliegenden Brüchen entnommen waren. Das Material der letzteren hatte hellere Farbe. Darum schaute die Etage nicht so sehr tiefernst, fast drohend wie das Erdgeschoß, zu mir herüber. Sie war nicht hoch, zeigte dafür aber schon das Bestreben der Gliederung und des figurenbildenden Meißels. Die vordere Seite wurde nicht von einer kompakten Mauer gebildet, sondern von starken, breiten, ungemein tragfähigen Pfeilern, deren Zwischenräume dem Sonnenlicht direkten Zutritt gewährten. Der Abschluß über ihnen ließ schon den Versuch zur Bogenlinie sehen. Die beiden Pfeiler, welche den Haupteingang bildeten, fielen mir ganz besonders auf. Es traten aus ihnen zwei eigenartige Hochreliefs hervor, welche sitzende Figuren zeigten, an denen die Zeit leider nicht schonend vorübergegangen war. Doch konnte man noch recht wohl erkennen, daß es sich um die Darstellung eines Wesens handelte, dessen Personifizierung vier Gesichter hatte. Die einstige Vorhalle war von einem auf leichteren Pfeilern ruhenden Dach überdeckt gewesen. Wahrscheinlich hatte es den Himmel darstellen sollen. Es war längst eingefallen, und von den Pfeilern standen nur noch zwei, deren Knäufe menschlichen Köpfen glichen. Von den Schultern gingen nach den Seiten Flügel aus, um das Architrav zu bilden. Geflügelte Wesen! Sollte diese Meißelarbeit auf die Strahlenflügel schlagenden Amschaspands deuten, welche nach alt-iranischem Glauben den Himmel bevölkerten ... ? Abermals zurücktretend und wieder etwas schmäler folgte nun ein zwei-etagiges Geschoß. Es stellte sich, obgleich aus hellerem Material gebaut, nichts weniger als freundlich dar. Es hatte nur oben Fensteröffnungen, waagerecht liegend, als solle jeder Blick von außen her abgewiesen werden. Wie schmal, wie niedrig sie doch waren! Und unten gab es nur eine ebenso schmale Thür, deren Oberschwelle von zwei steinernen Tafeln gebildet wurde. Sie hatten eine Schrift enthalten, welche man wahrscheinlich noch jetzt entziffern konnte, doch sah ich, daß sie durch einen quer darübergehenden Riß wie ausgestrichen worden war. Sie hatten nicht Festigkeit genug gehabt, den Druck von oben auszuhalten.
Dieser Bau sah ganz so aus, als müsse sein Bewohner jeden Augen-
blick aus der engen Thür treten, um in alle Welt hinauszurufen: »Daß sich mir niemand nahe! Ich bin der Auserwählte von Anfang an und werde es ewig bleiben!« Auf dem Vorhofe sah es wüst aus. Auf Haufen von Schutt und Scherben wucherte dichtes Unkraut. Üppige Dornen wanden sich um den Überrest eines steinernen Gebildes, das eine in sieben Arme geteilte Säule zu sein schien. War es vielleicht ein Kandelaber gewesen? Wem war das siebenfache Licht verlöscht, als jener Riß dort quer über die beiden Tafeln ging? Hatte der »allanwesende El« da unten im Erdgeschoß nicht Macht genug besessen, die Leuchter hier oben zu schützen?
Jede der bisherigen Etagen hatte, wenn nicht einen besonderen Stil, so doch wenigstens Einheitlichkeit. Nun aber kam ein Geschoß, welches nur das Einheitliche besaß, daß die Gesamtfassade aus einem und demselben Material bestand. Dies war ein weißlich-grauer, dichter Kalkstein, vermengt mit den Überresten fossiler Organismen. Das Bauwerk erhielt durch diese hellere Färbung, welche auch die in gleicher Höhe liegenden Brüche zeigten, ein freundliches, beinahe einladendes Aussehen; leider aber wurde dieser gute Eindruck fast vollständig dadurch aufgehoben, daß es sich in allen übrigen Beziehungen als ein architektonisches Quodlibet darstellte. Es gab Thore und Thüren in den verschiedensten Formen und Größen. Eine imposante Freitreppe führte zu einem so engen und niedrigen Thürchen, daß man nicht aufrecht passieren konnte; man war gezwungen zu kriechen. Und vor einem hohen, breiten, weitgeöffneten Thore lag eine alte, wackelige, hölzerne Treppenstiege, der eine ganze Anzahl von Stufen abhanden gekommen waren. Es gab Eingänge ganz zur ebenen Erde und aber auch solche, die man nur per Leiter erreichen konnte.
In so ganz verschiedener Höhe lagen auch die Fenster. Keines befand sich in gleicher Lage mit dem anderen. Neben breiten, hohen Saal- oder Kirchenfenstern gab es kleine, arme Gucklöcher, in die kein Mensch den Kopf zu stecken vermochte. Hier war eines vollständig unbeschützt, dort ein anderes mit einem so starken Laden versehen, als ob man sich vor ganzen Räuberbanden zu fürchten habe. Man denke sich hierzu die ebenso unregelmäßig und verworren angebrachten, oft ganz schief gehenden Haupt-, Brüstungs-, Gurt-, Kämpfer- und Sockelgesimse, die Eckarmierungen und Lisenen, die »Säulen- und Pilaster-
stellungen«, zwischen denen es keine einzige verbindende Idee gab, so kann man sich wohl schwerlich darüber wundern, daß der Fremde dieses Bauwerk häßlich genannt hatte. Ein Anderer hätte es wohl gar als lächerlich bezeichnet . . .
Wer war der Architekt, der dieses Unikum ersann? Oder hat ein solches Quodlibet gar nicht in seiner Absicht gelegen? Hat er keinen Plan, keine Zeichnung hinterlassen? Hat er keine Weisungen gegeben? Sollte es nicht eine Wohnung für viele unter einem einzigen Dache werden? Warum steht das ganze Gebäudekonglomerat jetzt leer? Warum haben nicht einmal die Dschamikun sich entschlossen, es zu bewohnen? Befürchten sie, daß es zusammenbrechen werde? Oder ist ihnen ihr auf Gottes ebenem Boden und am klaren Wasser liegender Duar lieber als die fremdartige, untrauliche Baute, die wie die Bergeszellen am Dschebel Qarantel bei Jericho nur unfreiwilligen Anachoreten zur Wohnung dienen konnte? - (XXVIII, 501 ff.)
Wir müssen hier mechanisch unterbrechen, um noch einmal auf das Panorama zurückzusehen. Auffällig mag sein, wie wenig typisch Persisches imgrunde in dieser persischen Tal-Landschaft zu finden ist; ja, die beiden einzigen Vergleiche benutzen »landfremde« Bilder: Baalbek - und die Zellenhöhlen vom Qarantel in Palästina, damals eine Strafkolonie für orthodoxe Priester. Das kommt nicht von ungefähr; und wenn sich vielleicht minutenlang vergessen ließ, daß es sich hier ja keineswegs um das Protokoll, sondern um den durchaus spirituellen Entwurf einer Landschaft handelt, so wird dies deutlich wieder an solchen Stellen, wo die Metaphernsprache Anleihen bei der Realität versucht. Denn im Gegensatz zu diesem »Tal der Dschamikun« hat May sowohl Baalbek wie auch den Qarantel mit leiblichen Augen gesehen: zwei Jahre zuvor, während der 16-monatigen Orientreise; und der kleine Kunstgriff, der die Wirklichkeitsnähe der Schilderung vergrößern, ja so halb unter der Hand »beweisen« soll, kommt für den Kenner einer Fehlleistung gleich. Selbst wenn die Frage unentschieden wäre (und 2 Monate der Reise lagen für die Forschung lange genug »im Dunkel«, um die Vermutung zu erlauben), ob der polytropische Mayster sich nicht doch in Persien etwas umgesehen und irgendwo ein Urbild seiner Beschreibung erblickt habe, wären aus solchen Details Gegenbeweise zu beziehen: nein, dies »Tal der Dschamikun« ist im
geographischen Persien nicht zu finden. Wollte man ein Modell suchen, das die Schilderung vom »Hohen Haus« zwar nicht angeregt und ausgelöst, wohl aber mit durchdrungen habe, so wäre an die Grabeskirche in Jerusalem zu denken: den kuriosen Bau hat May zweimal mit skeptischer Andacht besichtigt. Aber die Frage nach den wirklichen Bezugs-Systemen, den realen Ressourcen der Darstellung kommt allgemein bei den wirklichen Reisen Mays auf nur geringe Kosten; denn - und das ist ein ganzes Thema für sich - bei der hier zuständigen Orientreise von 1899/1900 wie der späteren Exkursion in die USA von 1908 läßt sich das gleich Erstaunliche feststellen: die nachfolgenden Bücher, denen beide gedient haben sollten, bewegen sich weit abseits von den besichtigten Schauplätzen, und die Handlungsstätten früherer Reisebeschreibungen aufzusuchen und etwa mit kühlem Kontrollblick ins Auge zu fassen, hat May geradezu auffällig vermieden. Nur ganz dünne, flüchtige Verbindungen reichen zwischen den beiden Dimensionen seines Reisens herüber und hinüber. Und mochte er sich zur Staffage seiner Erzählungen auch solider, mit mehr oder weniger Akribie benutzter Fach-Unterlagen bedienen, - die eigentlichen »Quellen« sind anderswo zu suchen, und sie führen unmittelbar in jene verklommen mehrschichtige Seelenlage des wunderlichen Mannes hinunter, die für sein Spätwerk so erstaunlich formbildend wurde. Ein Indiz für das, was in diesem Zyklopenbild vom »Hohen Hause« eigentlich heraufragt, erhellt die Gestik, mit der hier besichtigt wird: aus Distanz, von einem ganz bestimmten, fixen Aussichtspunkt aus (eine zwanghafte Bedingung, die zu erreichen May sich im Buch nicht wenige Umstände kosten läßt): überall in seinem Werk signalisiert sich damit ein Memento an jene eine schlimme Dunkelpause seines Lebens, wo er zum erstenmal die Tröstung des Langen Gedankenspiels erfuhr, wo er, von Mauern umstellt, zum erstenmal in die exotische Ferne sah, in die er sein beschädigtes Dasein dann so heilsam hinüberrettete. Und wenn am Ende des zitierten Abschnitts noch das verräterische Bild von den Zellen hereinhuscht, die nur unfreiwilligen Anachoreten zur Wohnung dienten, so fällt über die untrauliche Baute doch ein sehr anderes Licht: das Hohe Hause ist eine späte, geisterhaft vergrößerte Schatten-Projektion der Gefängnisse Schloß Osterstein und Waldheim, in deren Zellen May einst sieben Jahre harte Strafe abbüßte. So tief versteckt, so heimlich
vor sich selbst geheim gehalten blieb lebenslänglich dieser dunkelste Punkt, daß May sein ganzes Werk hindurch in ungezählten Konnotationen daran herumbewältigt hat: von den Wildnis-Festungen der ersten Reiseerzählungen bis hin zur Totenstadt des späten Romans von »Ardistan und Dschinnistan« sind seine Großbauten allesamt Signalmarken eines Lebens, das sich selber vergeblich zu entrinnen suchte. Denn all diese Hallräume hinter den Konsonanzen des oberschichtigen Vokabulars liegen außerhalb des Bewußtseins, und analytisch abhorchbar sind sie zuletzt nur darum, weil der Trance-Schreiber May in ihnen keinerlei Zensur zu üben vermochte. Der psychische Funktionswert erklärt darüberhinaus ein weiteres Form-Phänomen: kaum heraufgedrungen verlangen die dumpfen Konfessions-Elemente schon vom Bewußtsein die Aufhebung und Verdrängung, und deren Mittel heißt beim späten May: mythisch-mystische Überhöhung. So setzt auch hier beim »Hohen Haus« der Signal-Apparat des Unbewußten alsbald die bewußt-symbolische Gegenbesetzung des Bildes in Gang; und es entsteht, bei entsprechend feierlichem Licht besehen, eine gar nicht unfeine Parabel von den »Lehrgebäuden« der Katholischen Kirche (mit der May, wie so Mancher, eine kräftige Rechnung zu begleichen hatte). Noch ist, in diesem Stadium der Erzählung, das architektonische Quodlibet - das, wer hätte es gedacht, leer steht und nur von gewissen Interessengruppen um jeden Preis erhalten werden soll - dezent verschleiert: Töne von Homilie decken es fast behäbig zu; an Stelle exakter Gleichheitszeichen stehen rhetorische Parabasen. Was May dann freilich anschließend aus dieser Bilder-Exposition »macht«, ist durchaus größerer Ehren wert; es sei zum Nachlesen empfohlen. Einstweilen steigen wir zu einer weiteren Besichtigung in einen der unterweltlichen Trakte des Bauwerks hinunter:
Der Kanal war am Anfang noch sehr schmal. Aber als wir uns eine Strecke weit fortgegriffen hatten, traten die Wände doppelt weit zurück, und auch die Höhe nahm in demselben Verhältnisse zu. Die Luft war kalt und feucht, doch gut und leicht zu atmen. Wände und Decke bestanden aus den schon oft erwähnten Riesenquadern. Der Kanal ging stetig geradeaus. Das Wasser war tief und schwarz, dabei aber durchsichtig wie Kristall. Das Bild unserer ruhig brennenden Fackelflamme schaute wie aus unergründlicher Tiefe zu uns herauf.
Ich war so vorsichtig gewesen, die Länge des Kanals abzuschätzen; die Zahl der Quader gab mir den Anhalt hierzu. Vierzig, sechzig, achtzig Meter! Ein solcher Aufwand von Material und Arbeitskraft konnte nicht bloß den Zweck einer einfachen Zu- oder Ableitung des See- oder Bergwassers haben. Es mußte noch ganz andere Gründe gegeben haben, diesen Zu- oder Abfluß nicht oben vor aller Augen, sondern hier unten in der Verborgenheit geschehen zu lassen. Wenn ich mich in die ferne Zeit zurückdachte, in welcher diese Bauten entstanden waren, so drängte mir die von unserer Fackel kaum einige Bootslängen weit durchbrochene Finsternis die Frage auf, ob dieses Wasser wohl als lebensspendendes Element oder aber als verschwiegener, düsterer Helfer des Todes betrachtet worden sei.
Bereits über achtzig Meter waren wir vorgedrungen. Wir mußten uns ungefähr an der Stelle befinden, wo droben die Zyklopenmauer begann. Da hörten hier unten die behauenen Quader auf; der Kanal wurde noch breiter und höher, und die Wände bestanden aus dem mühsam durchbrochenen Gestein des Berges. Die Decke war gewölbt.
Hierauf kamen wir an einen Seitenkanal, welcher rechtsab führte. Die rechte Seite war Naturgestein, die linke aber Mauer, aus Riesenblöcken aufgeführt, doch nichts weniger als glatt behauen. Es gab hüben wie drüben hervorragende Ecken, Kanten und Spitzen. Da, wo dieser Seitenkanal aufhörte, wich die Decke plötzlich zurück. Wir sahen in eine dunkle Öffnung hinauf, deren Höhe nicht abzumessen war, weil unser Licht sich hierzu als unzulänglich erwies.
»Dort hängt etwas«, sagte Kara, »an einer Spitze im Gestein. Es sieht genau so aus, als ob Jemand von da oben heruntergestürzt sei, wobei ein Fetzen seines Gewandes dort losgerissen und festgehalten worden ist.«
Ich schaute hinauf. Es war so. Der hängengebliebene Fetzen war ganz mit Kalksinter überzogen und also nicht vermodert.
»Mich schaudert, Effendi«, fuhr Kara fort. »Wenn dieses finstere Loch da oben erzählen könnte, wie Viele hier in diesem dunkeln, eiseskalten Wasser sterben mußten---Laß uns umkehren! Mich friert!«
Wir griffen zu den Rudern und brachten uns in den Hauptkanal zurück, welcher nur noch eine kurze Strecke weiterführte und dann auf ein großes, unterirdisches Wasserbecken mündete. Die Decke war so
hoch, daß wir sie bei unserm schwachen Licht nicht sehen konnten. Zu unserer linken Hand verlor sich die natürliche Felswand des Bassins in tiefe Dunkelheit. Rechts lag die unbewegte Flut in drohender Finsternis. Die Luft war feuchter als vorher, beinahe nässend und von einer moderigen Schärfe, als ob sich hier Fäulnisprozesse abgespielt hätten, die nun zwar vorüber waren, doch ohne daß der stechende Duft der Verwesung sich vollständig niedergeschlagen hatte.
»Das stinkt wie alte, nasse Gräber!« sagte Kara, indem er sich schüttelte. »Ich habe das Gefühl, als müßten in dem Wasser unter uns nur lauter Leichen liegen!«
Wir lenkten vom Kanale rechts ab und fuhren längs der überstark scheinenden Mauer hin und kamen in einen zweiten Seitenkanal, der nicht durch eine feste, kompakte Wand, sondern durch natürliche Pfeiler eingefaßt wurde. Es gab auch hier eine dunkel gähnende Öffnung oben, die irgend einen Zweck gehabt haben mußte. Indem ich prüfend emporschaute, äußerte sich Kara:
»Wahrscheinlich stürzte man auch hier diejenigen Personen herunter in den Tod, die man verschwinden lassen wollte! Es gibt zwar kein bestimmtes Zeichen hierfür, aber--Allah w' Allah! Sieh dorthin! Was liegt da auf dem Stein?«
Er deutete nach dem letzten der erwähnten Pfeiler. Dieser ragte in einem Durchmesser von wenigstens sechs Meter aus dem Wasser, verjüngte sich aber sofort. Hierdurch entstand eine ebene Platte von vier Meter Breite, und auf dieser lag, was Kara veranlaßt hatte, seinem Satz ein so erschrockenes Ende zu geben. Wir paddelten das Boot hin und sahen, daß es ein menschliches Gerippe war, ganz zusammengekrümmt, die Kniee bis an den Leib herangezogen, die eine Hand geöffnet, um nach Hilfe auszufassen, die andere aber geballt, wie in fluchender Drohung ausgestreckt.
»Das ist einer der Unglücklichen, von denen ich sprach«, rief Kara aus. »Er hat schwimmen können, bis er in der Finsternis zufällig an den Pfeiler stieß. Er fühlte die ebene Stelle und kroch hinauf. Da ist er dann elend verschmachtet, verhungert, zu Grunde gegangen. Wie mag er gebetet, geflucht, geschrien, gewimmert haben in dieser schrecklichen, nassen erbarmungslosen Unterwelt!«
Ich sagte nichts. Die Untersuchung des Skelettes war mir wichtiger
als alle Reflexionen. Es war feucht, aber hart wie Stein, von Kalk ganz durch- und überzogen. Ein ausgewachsener Mann in den kräftigsten Jahren. Eine hohe, breite Stirn. Im Leben wohl ein schöner, kluger Denkerkopf. Wie lange lag er hier an dieser Stelle? Jahrhunderte? Jahrtausende? Welchem Volke, welchem Stande, welcher Religion gehörten die Gräßlichen an, die ihn in einen derartigen Tod geschleudert hatten? Ich vermutete grad über uns den zweiten Werkstückbau mit den beiden Hochreliefs. Also Heiden!
Als wir wenden wollten und darum die Ruder tiefer in das Wasser tauchten, brachten wir dieses in lebhaftere Bewegung als bisher. Der Wellenschlag vervielfältigte in der Tiefe die Bilder unserer Fackelflammen. Die Brechung des Lichtes bewirkte ein scheinbares Emporsteigen alles dessen, was sich da unten befand, und so erhob sich vor unseren Augen eine Menge menschlicher Gestalten, welche sich zu bewegen und drohend auf uns zuzuschwimmen schienen. Kara stieß einen gellenden Ruf des Schreckens aus, und auch auf mich wirkte dieser Anblick so, daß mir fast das Ruder entfallen wäre.
»Leichen, nichts als Leichen, über denen wir uns befinden!« preßte der junge Hadeddihn hervor. »Effendi, leben wir noch, oder sind wir gestorben und müssen selbst auch da hinunter?«
»Fasse dich, Kara!« ermutigte ich ihn. »Wir leben, und auch unter uns ist nicht der Tod, sondern etwas ganz Anderes ... Was du jetzt sahst, war Kalk, war Gips, war aufgelöster, weißer Ruchamstein. Denk dir, es seien bloß nur Marmorbilder, die man hier tief versteckte, damit sie nicht in falsche Hände kommen möchten! Rudern wir ruhig weiter!«
»Ja. Aber brenn noch eine Fackel an, damit es lichter um uns werde! Mir ist, als schaute rings der Tod aus tausend leeren Augenhöhlen zu uns her. . .!«
Nachdem wir den Umfang des Innenbeckens kennengelernt hatten, beschlossen wir, es auch einmal zu durchqueren. Da stießen wir schon nach wenigen Ruderschlägen auf einen aus dem Wasser ragenden Riesenblock von genau rechteckiger Gestalt. Er war feucht, schlüpfrig, unten weiß überkalkt, je höher hinauf aber umso trockener und dunkler. Seine Kanten waren so gradlinig und scharf, daß ich diese Regelmäßigkeit für Menschenarbeit halten mußte. Seine oberen Linien lagen im Bereiche unserer Flammen. Auch sie waren genau wie nach
Schnur oder Wasserwage gebildet. Das Ganze hatte so sehr das Aussehen eines allerdings gewaltigen Sockels oder Postaments, daß ich eine der Fackeln nahm, mich aufrichtete und in die Höhe leuchtete. Fast glich meine Überraschung einem frohen Schreck! Das Licht fiel auf etwas wunderbar rein weiß Glitzerndes, etwas so schneeig Zartes und Unbeflecktes, daß ich zunächst meinen Augen gar nicht trauen wollte. Dieses lautere, keusche, unschuldige Weiß, auf welchem Millionen Flammenkörnchen brillierten, kam mir nach Allem, was wir hier unten bisher gesehen hatten, so heilig, so unbegreiflich vor, als ob mein Blick auf etwas Überirdisches, vollendet Seelisches gefallen sei.
»Siehst du etwas, Effendi?« fragte Kara unter mir.
»Ja,« antwortete ich, noch immer staunend.
»Was?«
»Etwas wie aus dem Paradiese! . . .« (XXIX, 301 ff.)
Schon diese wenigen, stark gekürzten Stellen führen eine Höllen-Phantasie vor, deren Symbolik, einmal erschlossen, nicht lange dunkel bleibt. Und wie schon die erste Schilderung des Baus ein Zittern durchlief, ein unsicheres Her- und Hintasten zwischen den Bildern der Anbetung und denen der Zwangsherrschaft (El - Hasisadra - Oloros - Kain), so läßt sich auch hier wieder das so bezeichnende Schwanken in den Richtungen der Chiffrensprache erkennen: hin und her zwischen der unterbewußten Abbildung der Kerkerhallen und der bewußt darübergeschichteten des mythologischen Kirchen-Hades; doch sind die Bewegungen, die durch die allgemein dumpfe Atmosphäre gehen, schneller geworden, und über längere Partien hin vermag das Auge der semantischen Oszillation so wenig mehr zu folgen, daß ein schillernd schallerndes Doppelbild entsteht: für den Kenner literargeschichtlich durchaus eine Sensation. Durch das ganze Werk hin geht der Konflikt, und erst am Ende - einem metaphysischen Happy-end - löst sich mit dem einen Bilderkomplex auch der andere: »von oben« her setzt die heilsame Katastrophe ein, zerschlägt den Ruinenbau, und mit der in die Unterwelt verbannten Reinen Gottesidee wird auch das Bessere Ich des versteinerten Gefangenen frei: eine Erlösung, die jenseits aller skeptischen Erwägungen jeden anrühren muß, der weiß, was sie für May bedeutete. Wir müssen es mit dieser Vernissage der May'schen Bilder-Galerie bewenden lassen, so wenig diese sonderbarste seiner
Reisebeschreibungen auch mit ein paar Strichzeichnungen aus der Exposition erst umrissen ist. Denn wie die geschilderten Stätten erst im Verlauf der Handlung mit sehr dramatischen Personen bevölkert werden und sich buchstäblich beleben (und wie erhellend ist dabei wieder dies: daß die Gefängnisse, Orte seines tiefsten Elends, in der Abbildung für May immer wieder zu Schauplätzen grandioser Taten werden müssen!) - etwa in dem imposanten Konvent der »Schatten« und der »frommen Lichter« im Allerheiligsten des »Hohen Hauses« oder in dem tiefsinnigen Höhlentraum des Effendi, wo es nicht nur ins Sou-Terrain der Lehrgebäude, sondern tief in die Untergeschosse des May'schen Bewußtseins hinabgeht - , so wird auch der Formenkanon des Buches erst voll in den Verarbeitungen der Themen sichtbar: seine differenzierten »Lese-Ebenen« wie deren Komposition: eine Scharade von solcher künstlerischen Stringenz, daß sie rechts liegen zu lassen - wo immer, unter bloßer Belletristik, oder gar unter Traktatenschrifttum, wie es einst Forst-Battaglia tat - allmählich doch etwas fahrlässig wäre. Wie lange aber das Verständnis brauchen wird, um hier Schritt zu halten, - eins wäre nicht unbillig zu verlangen: Daß überall, wo von den »Reiseerzählungen« Karl Mays die Rede ist, doch auch jener Arbeiten seines Alters gedacht werde, die weder zur Sparte der Massenunterhaltung gehören, noch aufs Film- und Fummelniveau der zuständigen Geschäftemänner. Sondern in die Literatur.
Es war im Osten vollständig morgenrot geworden, und die Sonne stand dem Aufgange nahe. Die Alabasterkrone hoch oben lag bereits in vollster, goldiger Glut. Aber tief unter ihr war es unheimlich, denn da begann es sich zu regen und zu bewegen, und man konnte doch nicht deutlich erkennen, wo und wie. Es war wie ein langsames Wiegen hin und her. Hier und hier und dort und da schütterte und verschwand der Boden in sich hinein, in die Tiefe, wie durch sich bildende Schächte. Wir hörten einen Knall, als ob die Erde von innen heraus auseinandergesprengt werde. Es folgte ein steinernes Knacken und Prasseln, wie von einem gigantischen Ungeheuer, welches Berge verzehrt und die Felsenknochen mit den Zähnen zermalmt. Und da - da - - da tat sich vor unsern Augen drüben ein furchtbarer Rachen auf und begann, die Ruinen mitsamt den herabgestürzten Höhenmassen zu verschlingen! Und während sie in diesem heißhungrigen, gefräßigen Schlund ver-
schwanden, schoß ihm das emporgetriebene Wasser der Tiefe über die Lefzen und wurde zu gleicher Zeit mit einer solchen Gewalt aus dem Kanal in den See gepreßt, daß es sich wie ein beutegieriger, springender Leviathan über seine Fläche stürzte und erst weit draußen verendend niedersank.
Wir aber achteten nicht auf den jetzt plötzlich in hohen Wellen gehenden See, sondern nur auf eine einzige Stelle, die unsere Aufmerksamkeit in fast wunderbarer Weise gefangen nahm. Wir sahen von den Ruinen nur noch die vordere Mauer. Alles, was hinter und über ihr gelegen hatte, war verschwunden, in ein vollständig ebenes Feld verwandelt, fast genau so, wie es von der Kirchenzeichnung des Ustad dargestellt wurde. Und grad da, wo auf dieser Zeichnung im Hintergrund der Säulenhalle das leere Postament stand, leuchtete uns die herrliche Alabastergestalt des durch die Katastrophe nun endlich erlösten »verzauberten Gebetes« entgegen. Vom dunkeln Hintergrund der Nische uns doppelt hell gezeigt, streckte es seine emporgehobenen Arme dem Aufgange der Sonne entgegen, um mit offenen Händen den Segen zu nehmen und zu spenden, in den der tausendjährige Fluch verwandelt worden war. Und wie sie nun emporstieg, die ersehnte Sonne, so kam ihr Licht von der funkelnden Alabasterkrone hernieder und floß über das ganze Tal, um zu verkünden, daß es bisher nur Morgen gewesen, nun aber endlich und wirklich Tag geworden sei ... (XXIX, 629 ff.)
Der vorstehende Text wurde 1966 für den Funk geschrieben und mehrfach, vom HR und WDR, gesendet: Beitrag zu einer Reihe mit dem Sammeltitel »Reisebeschreibung ohne Reise«. Er wollte die Vorstellung eines Abschnitts aus dem Alterswerk Mays mit einer knappen Hör- und Leseanleitung verbinden; da hierbei Vorkenntnisse nicht angenommen werden durften, beschränkte er sich auf allgemeine Hinweise und zeigte nur an einem einzigen Bilderbeispiel auf, welche Form-Mechanismen eine Analyse der späten Arbeiten Karl Mays zu erkennen hat. Vielleicht aber kann er, über seinen ursprünglichen Zweck hinaus, auch dem genauer unterrichteten Leser willkommen sein - als Anregung zu Untersuchungen, für die es ein halbes Jahrhundert nach Karl Mays Tod wahrhaftig an der Zeit ist.
Die Zitate mußten, dem Zweck entsprechend, stark gekürzt werden und sind auch hier in dieser gekürzten Form wiedergegeben.