Zweites Kapitel.

Belauscht.

Es war am Abende desselben Tages. Max Brandauer saß in dem Zimmer der Hofschmiede, welches ihm die Eltern als Studirstube überwiesen hatten, und versuchte, seine Gedanken auf die Lektüre einer militärwissenschaftlichen Abhandlung zu konzentriren. Es gelang ihm nicht, denn immer kehrten dieselben zu der heutigen Begegnung zurück.

Zunächst fesselte die Erscheinung der Zigeunerin seine Aufmerksamkeit. An ihren Namen knüpften sich Thatsachen und Erinnerungen, welche auf die ersten Tage seiner Kindheit, seines Lebens zurückführten. Er hatte sie als fünfjähriger Knabe ein einziges Mal gesehen; damals hatte sie in der Zeit des Nachsommers gestanden und eine immerhin noch anziehende Persönlichkeit gebildet. Sie war plötzlich verschwunden, ebenso schnell und unerwartet, wie sie gekommen war. Dann hatten die Eltern ihrer geharrt eine ganze Reihe von Jahren, und nun heut war sie wieder erschienen, ob nur für den einen Augenblick, ob für längere Zeit, ob aus oberflächlichen, gewöhnlichen Gründen oder zur Lösung der Räthsel, die mit ihrem früheren Auftreten verbunden waren - wer konnte das wissen?

Er hatte den Eltern von der Begegnung erzählt und von der Mutter einen linden Verweis erhalten, daß er sie wieder aus den Augen gelassen hatte. Der Vater aber war ruhig geblieben in der festen Überzeugung: "Sie kommt sicher, wenn sie es wirklich gewesen ist!"

Neben der verfallenen Gestalt der alten Wahrsagerin hob sich vor seinem geistigen Auge die Erscheinung der Prinzessin wie ein lichtes, glanzvolles Phänomen ab, dessen Strahlen unter den Lidern hindurch bis hinab in die tiefste Seele dringen. Er hatte die süßen, beglückenden Regungen der Liebe noch nie empfunden; es entging ihm also der Maßstab für die wunderbare Stimmung, in welche er sich seit heute versetzt fühlte, und er ließ, halb sinnend, halb träumend, mehr noch aber empfindend, die Erinnerung an das eigenthümliche Erlebniß ungestört auf sich einwirken.

|12A Drunten in der Werkstatt waren die Hammerschläge längst verhallt, und nach dem eingenommenen Abendbrode saßen die drei Gesellen vor der Thür, um über Dieses und Jenes zu sprechen und ihre Pfeife dabei zu schmauchen.

Unweit von ihnen hockten die zwei Lehrjungen auf umgestürzten Wagenrädern, in der löblichen Absicht, von dieser Unterhaltung so viel wie möglich wegzuschnappen |12B und dabei den Geruch des Kanasters zu genießen, der eine feinere Nase allerdings nicht in Entzücken versetzt hätte.

"Ja," meinte Thomas, der Obergeselle, "der junge Herr ist nun wieder da, und nun giept es zuweilen doch eine Plaisir, pei der man mitmachen darf. Alle Tage eine Fechtübung mit Rappier, Floret, Hieper und Stoßdegen, am Apend eine Wasserfahrt oder |12C sonst ein Ausgang, pei dem der Thomas nicht fehlen darf. Das pringt außer dem Vergnügen ein Glas Pier, eine Putterpemme mit Schinken oder - -"

"Oder ein Glas Doppelwachholder mit Ambalema," fiel ihm der Zweite in die Rede.

"Ja, das ist am Den!" stimmte der Dritte bei.

Die drei Gesellen waren nämlich durchweg Originale. Alle drei hatten gedient, Thomas bei der Reiterei, Baldrian bei den Grenadieren und Heinrich bei der Artillerie; Jeder von ihnen hatte |12D es zum Unteroffizier gebracht und hielt seine Waffe für die vorzüglichste. Sie waren unverheiratet und fest entschlossen, ihre jetzige gute Stellung so lang wie möglich beizubehalten, obgleich Jeder ohne Wissen des Anderen im tiefsten Winkel seines Herzens ein Ideal beherbergte, welches die größte Ähnlichkeit mit einer behäbigen Frauengestalt hatte. Thomas nämlich hielt gar große Stücke auf die Wittfrau Barbara Seidenmüller, Baldrian träumte sehr oft von der allerliebsten, jungen Wittfrau und Kartoffelhändlerin Barbara Seidenmüller, und Heinrich trank seinen Abendschoppen |13A am liebsten bei der ehr- und tugendsamen Wittfrau, Kartoffelhändlerin und Gasthofsbesitzerin Barbara Seidenmüller.

Dabei hatte Jeder von ihnen, wie man zu sagen pflegt, seine |13B kleine Neunundneunzig. Thomas Schubert, der Kavallerist, hatte es in seinem ganzen Leben niemals fertig gebracht, ein B auszusprechen, so daß sein eigener Name in seinem Munde nicht anders |13C als Schupert klang. Baldrian, der Grenadier, war höchst schweigsam und betheiligte sich an den gewöhnlichen Gesprächen meist nur mit den Worten: "Ja, das ist an Dem," oder "das ist nicht an Dem," verwechselte dabei aber regelmäßig den Casus und brachte |13D daher stets ein "am Den" zum Vorscheine. Heinrich, der Artillerist, war der Quälgeist der beiden anderen; er hatte stets einen Widerspruch oder eine Ironie bei der Hand und besaß dabei die Eigenthümlichkeit, Alles in hundertfacher Größe darzustellen oder, wie |14A man es gewöhnlich nennt, ganz gewaltig aufzuschneiden, ohne daß man dabei das Recht gehabt hätte, an seiner Biederkeit zu zweifeln.

Thomas schien die Unterbrechung seiner Rede nicht belobigen zu wollen; er stieß heftig einen Mund voll Rauch in die Luft und meinte:

"Haltet den Schnapel, Ihr Kerls! Was geht Euch mein Doppelwachholder an oder gar meine Lieplingscigarre? Ampalema ist nun einmal das beste Deckplatt, was es giept, das ist nicht apzustreiten. Hapamos, Capalleros, Londres, Patavia, Puros, Alles, Alles ist nichts gegen die ächte Ampalema. Der Herr Meister raucht nur solche, und da ist es unsere Schuldigkeit, ganz dasselpe auch zu thun. Üprigens hapt Ihr mich nicht irre zu machen, wenn ich vom jungen Herrn erzähle. Heut Apend soll ich ein Stück den Fluß hinaprudern, und Ihr könnt es gar nicht glaupen, wie gern ich das thue. Da liegt er still im Kahne, hat die Augen zu und sagt kein Wort; aper ich weiß, daß er gerade da am meisten sinnt und studirt. Und wenn wir dann zurückkommen und er gipt mir die Hand und sagt: "Heut war's wieder schön; Hap Dank, mein lieper Thomas!" so könnte ich ihn umarmen, wenn er dazu nicht gar zu gelehrt und vornehm wäre. Er hat so etwas an sich, was ich nicht pei dem rechten Namen nennen kann, was einem das Herz raupt und doch gewaltig in Respekt versetzt. Ich hape einmal ein Theaterstück gesehen, das hieß "der verwischte Prinz," und -"

"Der verwunschene Prinz," wagte hier Fritz, der eine Lehrjunge, zu verbessern.

|15A "Still, Grünschnapel! Wenn der Opergesell spricht, so hapen die Gesellen zu schweigen und die Lehrpupen also erst recht! Op ein Prinz verwischt ist oder verwunschen, das pleipt sich ganz egal! Also in dem Stücke kommt ein Prinz vor, der ein Schuster ist, und wenn ich den jungen Herrn sehe, so -"

"So kommt es Dir allemal vor, als ob er der Schuster sei und Du der Prinz," unterbrach ihn Heinrich.

"Du sollst mich nicht in meiner schönsten Rede unterprechen; ich weiß sonst zuletzt gar nicht mehr, wo ich wieder anzufangen hape!"

|15B "Ja, das ist am Den!" meinte Baldrian.

"Also, dieser Prinz, der ein Schuster war -"

"Thomas!" rief in diesem Augenblicke Max durch das geöffnete Fenster herab.

Der alte Unteroffizier erhob sich in kerzengerade Stellung.

"Zu Pefehl, Herr Doktor!"

"Bist Du fertig?"

"Allemal!"

Er strich das Haar glatt, schob die Mütze zurecht und knüpfte den Rock zu. Dann reichte er dem Lehrjungen die Pfeife hin.

"Da Fritz; trage sie hinauf in meine Kammer, weißt's schon, an welchen Nagel! Im Herrendienst ist das Tapakrauchen ordonnanzwidrig."

Nach einigen Minuten kam der Doktor herab.

"Wir gehen durch den Garten, Thomas; wir kommen da näher."

|16A In sechs Schritten Entfernung folgte ihm der Geselle. Als sie geräuschlos über den weichen Rasenplatz schritten, gewahrte der Letztere in einer Ecke des Gartens die beiden Lehrlinge, welche sich niedergelassen hatten und behaglich einer um den anderen an seiner Pfeife sogen. Ein durch den Rauch hervorgebrachtes Husten hatte sie verrathen.

"Herr Doktor!"

"Was?"

"Erlaupen Sie mir eine Seitenschwenkung! Dort sitzen die peiden Hallunken und peißen mir die Pfeifenspitze entzwei."

Er schlich sich näher und hatte bald die beiden Missethäter bei den Haaren.

"Was macht Ihr da mit meiner Pfeife, Ihr Schlingels! Ist das hier etwa meine Kammer, he? Da und da, hapt Ihr eine Ohrfeige als Apschlagsgeld; die Hauptsumme kommt nach, wenn ich wieder zu Hause pin. Jetzt hape ich keine Zeit, denn zu so etwas gehört die richtige Muse und Gemüthlichkeit!"

Er steckte die Pfeife zu sich und eilte dem Doktor nach.

Dieser hatte bereits den Fluß erreicht, welcher in der Nähe des Gartens vorüberfloß. Am Ufer hing eine Gondel, welche dem Schmied gehörte. Sie stiegen ein und stießen ab. Die Fahrt ging stromabwärts. Thomas brauchte nicht zu rudern, und Max saß am Steuer, um den Kahn treiben zu lassen. Das Dunkel des Abends senkte sich nieder, und am Firmamente traten Tausende von Sternen hervor, welche die sich zur Ruhe rüstende Erde mit magischem Lichte bestrahlten. Sie fuhren am Palaste des Herzogs von Raumburg vorüber und erreichten dann das Palais, welches zur Aufnahme hoher Gäste erbaut war. Gegenwärtig bewohnte es der Erbprinz von Süderland, dem benachbarten Königreiche, mit Gemahlin und Schwester, welche die Residenz mit einem Besuche beehrten, dem man eine geheime, diplomatische Mission unterschob. Das prachtvolle Gebäude lag etwas vom Ufer zurück in einem Garten, welcher an den Fluß stieß und sich längs desselben zu einem wohlgepflegten Parke verbreiterte. Ein kleiner Landeplatz lag dem Gartenthor gegenüber; Max legte eine Strecke oberhalb desselben an.

"Bleib hier halten, Thomas, bis ich wiederkomme!"

"Der Zutritt ist hier verpoten, Herr Doktor!"

"Ich weiß es."

Trotz dieser Antwort aber stieg er aus und stand nach einem raschen Sprunge über das eiserne Staket hinweg im Garten. Es trieb ihn keine bestimmte Absicht an diesen Ort, und wäre er gefragt worden, so hätte er über sein Thun nicht die mindeste Rechenschaft zu geben vermocht. Das Menschenherz ist der unbegreiflichste Motor unserer Handlungen und verträgt keine Kontrole, als nur die eigene.

Er näherte sich dem Hause, von welchem nur wenige Fenster erleuchtet waren. Er beobachtete eines nach dem andern, doch kein Schatten wollte ihm die Anwesenheit Derjenigen zeigen, deren Bild ihn magnetisch herbeigezogen hatte. Da ließen sich Schritte im Kiese des Ganges vernehmen; er trat hinter ein Bosket. Zwei Damen nahten, in eifriges Gespräch vertieft. Sie waren Beide hell gekleidet, und ihre Gestalten hoben sich von dem dunklen Grunde des Gartens ab.

"So laß uns gegen diese Politik konspiriren, meine gute Asta," meinte die eine. "Du sollst ihr nicht zum Opfer fallen, denn dieser Prinz, er ist auch mir unsympathisch."

Mehr konnte er nicht vernehmen; aber er wußte nun, ohne darnach getrachtet zu haben, welcher Grund die königlichen Gäste herbeigeführt hatte. So lange er die Damen mit den Augen verfolgen konnte, blieb er stehen; dann kehrte er auf demselben Wege, den er gekommen war, zum Kahne zurück.

"Weiter hinunter?" frug Thomas.

"Ja."

Wieder begann die Wasserfahrt. Max saß still und träumte. Er sah wohl kaum irgend eine Parthie der beiden Ufer, welche im lichten Sternenscheine hüben und drüben lagen; er sah nur die lichte Gestalt, die an der Seite der fremden Kronprinzessin an ihm vorübergegangen war. Was hatte er mit ihr? Sie war die Tochter eines Königs und er der Sohn eines einfachen Schmiedes. Aber eine solche Reflexion gab es nicht in ihm. Er war ihr gefolgt wie dem Sterne, von welchem das Auge nicht lassen kann, obgleich er Billionen von Meilen hoch über der Erde steht.

So waren sie eine ziemliche Strecke abwärts gelangt, ehe er wieder umkehren ließ und mit zu dem Ruder griff; diese Arbeit that ihm wohl, es war, als wolle er das, was in ihm vorging, durch äußere Anstrengung zur Klärung bringen, und so flog der Kahn, von vier kräftigen Händen getrieben, mit genügender Schnelligkeit wieder stromaufwärts.

Sie hatten eben den Palast des Herzogs von Raumburg passirt, |16B als ihnen ein kleineres Fahrzeug begegnete. Max hätte wohl nicht sehr auf dasselbe geachtet, wenn nicht Thomas ihn darauf aufmerksam gemacht hätte.

"Dort kommt ein Engländer, Herr Doktor. Das ist einer vom Ruderklupp in seiner Nußschale. Wo mag der noch hinwollen?"

Es war einer jener kleinen Wellenstecher, welche mit Paddelruder fortbewegt werden und, wenn der Mann darin sitzt, kaum zwei Zoll Bordhöhe haben. Er kam vom andern Ufer herüber und konnte die beiden Männer, welche im Schatten der dichtbelaubten Bäume ruderten, nicht leicht bemerken.

"Ein eigenthümlicher Kerl," meinte Thomas, als ein zufälliger Lichtstrahl von drüben herüber auf das kleine Fahrzeug fiel. "Der sieht ja fast wie ein Türke aus: ein gelper Kaftan und ein plauer Turpan!"

Jetzt blickte Max genau hin. Seine Vermuthung bestätigte sich, es war die Zigeunerin, welche sich ein Boot vom Ruderklubb losgekettet hatte und jedenfalls auf einer geheimnißvollen Parthie begriffen war.

"Laß sie vorüber!"

"Zu Pefehl, Herr Doktor!" meinte Thomas, ein wenig befremdet über das "sie".

"So. Wir müssen unbemerkt folgen. Umgelenkt!"

Der verfolgte Kahn fuhr an dem Palaste vorüber und landete eine Strecke unterhalb desselben im Ufergesträuch, welches an den Garten stieß. Max befand sich mit seiner Gondel noch oberhalb des Gebäudes. Er legte das Steuer nach links herüber und landete auch.

"Thomas, willst Du ein Abenteuer mitmachen?"

"Ein Apenteuer? Ich pin allemal dapei!"

"Die dort im Kahne saß, ist kein Mann, sondern eine Frau."

"Eine Frau? Potz Tausend; was hat die hier zu suchen? Es muß doch pereits elf Uhr vorüper sein!"

"Es ist eine Zigeunerin. Sie will jedenfalls in das herzogliche Palais, und zwar heimlich, daher landet sie weiter unten."

"Dann muß sie durch den Garten."

"Allerdings. Wir müssen ihr zuvorkommen."

"Zu Pefehl, Herr Doktor! Ich pinde den Kahn hier an den Paum. So; da hängt er fest."

"Dann vorwärts; schnell!"

Sie eilten nach der hintern Front des Palastes und an derselben hinab bis zum Garten, der mit einer durchbrochenen Mauer umgeben war, die dem Übersteigen kein großes Hinderniß bot. Sie gelangten ohne Anstrengung hinüber. An dieser Seite des Gebäudes befand sich am erhöhten Parterre eine Veranda, welche sich zu einer in den Garten herabführenden Treppe öffnete. Hierher mußte die Zigeunerin kommen, wenn sie wirklich die Absicht hatte, welche Max vermuthete. Er steckte sich mit Thomas hinter ein dichtes Ziergesträuch und wartete.

Nach einiger Zeit kam eine Gestalt vorsichtig längs der im Dunkel liegenden Rasenrabatte herbeigeschlichen, blieb eine Minute lang lauschend stehen und huschte dann zur Treppe. Sie stieg aber dieselbe nicht hinauf, sondern bückte sich an der Seite derselben nieder und verschwand. Die Treppe schien die vordere Decke eines Kellers oder Gewölbes zu bilden, zu dessen Erleuchtung an den beiden Stützwänden je ein rundes Fenster angebracht war. Nach einigen Augenblicken leuchtete im Innern ein Lichtschein auf.

"Ich folge ihr. Bleibe zurück und halte Wache!"

"Sie hat den Rahmen aufgewirpelt und ist hinuntergestiegen. Ich hape Ihnen nichts zu befehlen, Herr Doktor, aper es ist vielleicht pesser, wenn Sie dapleipen. So eine Zigeunerin ist voll Teufelsspuk und Zauperei, was für keinen Menschen gut und heilsam ist. Vielleicht will sie gar einprechen und nachher - - ja da hapen wirs; da ist er schon hinein und hinunter, und wenn das die Hexe merkt, so kann es eine saupere Geschichte gepen!"

Wirklich war das Fenster aus der Öffnung entfernt, die so groß war, daß ein Mensch bequem einzusteigen vermochte. Max hatte den Boden, welcher in kaum halber Manneshöhe unter ihr lag, leicht erreicht. In einiger Entfernung vor ihm schimmerte das Licht. Er entledigte sich so schnell wie möglich seiner Stiefel und folgte. Zarba bewegte sich so langsam vorwärts, daß es keiner Anstrengung bedurfte, ihr so nahe zu kommen, daß er sich hart außerhalb des Scheines befand, welchen das von ihr getragene Licht verbreitete. Er konnte beinahe ihren Athem hören, während sie nicht die geringste Ahnung hatte, daß sie auf diesem geheimnißvollen Gange belauscht wurde.

Die Wölbung, in welcher sie sich befanden, war doch kein Keller, sondern sie bildete einen schmalen, niedrigen Gang, welcher in gerader Richtung bis auf die Mitte des Gebäudes führte und dort auf eine aufwärtsgehende Treppe mündete. Zarba stieg empor; |17A sie mußte diesen Weg schon öfters zurückgelegt haben. Ohne auf das Parterre oder den ersten Stock zu münden, führte die Stufenreihe bis zur zweiten Etage in die Höhe, wo die Zigeunerin lauschend vor einer schmalen Thür stehen blieb, an welcher sich ein einfacher Drücker befand. Nach einigen Minuten ergriff sie denselben, um ihn in Bewegung zu setzen. Die Thür öffnete sich vollständig geräuschlos nach innen, und ein heller Lichtschein drang heraus, in dessen Beleuchtung die Zingaritta wie im Rahmen eines Bildes zwischen dem Thürgewände stand.

Ohne wieder zu schließen, glitt sie langsam vorwärts. Max trat näher. Vor ihm lag ein ringsum mit hohen Bücherrepositorien besetztes Bibliothekzimmer, aus welchem eine schwere, grünstoffene Portière in den nächsten Raum führte. Der geheime Eingang war durch eines der Büchergestelle, welches auf irgend eine Weise seine Beweglichkeit erhalten hatte, maskirt. Vom Plafond herab hing ein sechsarmiger Leuchter, dessen Lichter das Zimmer erhellten. In der Mitte des Letzteren stand eine lange Tafel, von oben bis unten mit Büchern und allerlei Skripturen belegt.

Zarba war an die Portière getreten, deren beide Theile sie vorsichtig auseinanderzog, um einen Blick hindurchzuwerfen. Dann verschwand sie hinter derselben. Max wartete eine Weile; dann glitt auch er hinzu. Ohne den Stoff bemerkbar zu bewegen, machte er sich eine kleine Öffnung und blickte hindurch.

Vor ihm lag ein im höchsten Komfort ausgestattetes und von einer kostbaren Ampel erleuchtetes Arbeitszimmer. Die Zigeunerin hatte gemächlich auf einem Sammetfauteuil Platz genommen und eine kurze Thonpfeife hervorgezogen, welche sie aus einer Düte mit Tabak stopfte und dann in Brand steckte. Sie rauchte mit einem Behagen, als befinde sie sich in ihrem Eigenthume, und es hatte allen Anschein, als ob sie sich nicht sogleich wieder erheben werde.

Was hatte das Alles zu bedeuten? Wie kam die fremde, verachtete Bettlerin dazu, in dieser Weise die geheimen Räume des Herzogs zu kennen und aufzusuchen? Max nahm sich jetzt nicht die Zeit, sich diese und ähnliche Fragen vorzulegen; er mußte vor allen Dingen die Situation ausnützen. Er glitt zurück, um den Eingang zu untersuchen, und bemerkte zu seiner Beruhigung, daß derselbe von innen durch einen hinter den Büchern angebrachten Riegel, welcher mit dem äußeren Drücker in Verbindung stand, geöffnet werden konnte.

Jetzt fiel sein Blick auf die Büchertafel. Gerade vor ihm lag neben einigen eng mit Ziffern beschriebenen Papieren ein Blatt, welches die Aufschrift "Schlüssel" führte. Sollte es den Schlüssel für die geheime diplomatische Korrespondenz des Herzogs enthalten? Dieser war als entschiedener Gegner des gegenwärtigen Systems bekannt und stand mit den verschiedenen Höfen in direkter Beziehung. Es waren sogar schon öfters Gerüchte aufgetaucht von einer ebenso verborgenen wie kräftigen Agitation für die Abdankung des jetzigen Herrschers. Der Herzog war Generalissimus der Armee - hundert Gedanken durchzuckten den Doktor; er trat nochmals zur Portière; die Zigeunerin saß noch in derselben ungenirten Haltung da und schmauchte ihren Stummel - schnell saß er auf einem Stuhle, zog sein Notizbuch und notirte Ziffer um Ziffer, Buchstaben um Buchstaben und Zeichen um Zeichen von dem wichtigen Blatte.

Eben war er damit fertig, als drüben ein halblauter Ausruf ertönte. Schnell trat er zur Portière und blickte hindurch. Der Herzog war eingetreten und hatte den nächtlichen, geheimnißvollen Besuch bemerkt.

"Donner und Doria; wer ist das?!"

Die Zigeunerin machte nicht die geringste Miene, sich zu erheben. Sie that noch einen kräftigen Zug aus ihrer Pfeife und antwortete dann:

"Donner und Doria; er kennt Zarba, sein Weib nicht mehr!"

"Zarba!" rief er, sichtlich erschrocken und den Riegel vor die Thür schiebend. "Du lebst noch! Was willst Du? Hast Du vergessen, daß der Tod darauf ruht, wenn Du mein Haus betrittst?"

"Der Körper der Zingaritta ist gealtert, aber ihr Geist ist stark. Sie hat nichts vergessen, doch fürchtet sie Dich nicht. Sie lebt noch und wird nur dann sterben, wen Bhowannie es will. Wo hast Du meinen Sohn?"

"Er ist längst gestorben."

Jetzt erhob sie sich.

"Lügner!"

Er lächelte überlegen.

"Weib, nimm Dich in Acht, daß ich Dich nicht vernichte!"

"Mann, hüte Dich vor Zarba, der Zigeunerin! Als sie die Schönste war unter den Töchtern der Brinjaaren, hast Du sie bethört. Sie verließ ihr Volk, um bei Dir zu wohnen; aber Deine Schwüre waren Meineid, Deine Küsse Gift und Deine Liebe und Treue Betrug. Du raubtest mir den Sohn, Deinen und meinen |17B Sohn und stießest mich hinaus in die Welt. Aber ich fand ihn, den Geraubten; ich sagte ihm, wer sein Vater und Henker sei. Du aber rissest mich wieder von ihm und ließest mich aus dem Lande stäupen. Ich kam dennoch zurück und fand seine Spur. Wo ist unser Kind?"

"Gestorben."

"Gestorben? Ja, todt, mehr als todt! Sein Körper lebt, aber seit sechs Jahren mordest Du seinen Geist, dessen Stärke Allem widersteht. Wo ist mein Kind, mein Sohn? Im Irrenhause, von Dir eingekerkert und unter die Wahnsinnigen gesteckt, weil er weiß, daß ein Herzog sein Vater ist. Gieb ihn heraus!"

"Du selbst bist wahnsinnig!"

Sie trat von ihm zurück und sah ihm lange in das finstere Angesicht; dann ließ sie sich langsam auf das Knie nieder.

"Du hast das Herz eines Mädchens kennen gelernt, welches sein Volk, seinen Stamm, seinen Glauben, seine Eltern und Schwestern und Alles, Alles hingab, weil Du es wolltest; aber Du kennst nicht das Herz einer Mutter; es ist das Herz einer Löwin, welche den zerreißt, der ihr Junges rauben will. Denke zurück an unser Glück und sieh Zarba, wie sie jetzt vor Dir kniet! Sie fleht zu Dir um" - - -

"Halt!" unterbrach er sie streng, "kein Bühnenspiel! Dein Sohn ist todt für Dich. Du wirst ihn niemals wiedersehen!"

Sie erhob sich.

"Noch einmal bittet Zarba: Gieb ihn mir zurück!"

"Niemals!"

"So wird die Zingaritta Dich zu zwingen wissen! Sie wird vor allen Thüren erzählen und auf allen Gassen ausrufen, daß Du der Vater ihres Kindes bist!"

"Pah! Das wird zu verhindern sein."

"Meinst Du?" Ihre Züge nahmen jetzt einen Ausdruck des Hasses und der Entschlossenheit an, der doch den Hohn, welcher um seine Lippen spielte, verschwinden machte. "Meinst Du, Zarba fürchte sich vor Dir und Deiner Macht, Herzog von Raumburg? Du bist in ihre Hand gegeben wie der Fuchs in die Tatze der Löwin, und ein einziges Wort von ihr bringt Dich in Tod und Verderben!"

"Ah? Sprich dieses Wort!" gebot er, ungläubig und verächtlich lächelnd.

Sie trat ihm näher und raunte ihm zu:

"Es heißt: Prinzenraub!"

Er fuhr zurück.

"Landstreicherin, Du bist wahrhaftig wahnsinnig!"

"So höre weiter!"

Sie näherte sich ihm von Neuem und zischte ihm Worte entgegen, welche Max nicht verstehen konnte, weil sie leise gesprochen waren. Der Herzog war mit einem Male leichenblaß geworden; er vermochte nicht zu antworten.

"Nun? Du trachtest nach Thron und Krone; die Hand der Landstreicherin kann Dir Beides geben und Beides nehmen. Soll sie ihren Sohn wiederhaben?"

Er trat an das Fenster und starrte lange hinaus. Endlich drehte er sich zu ihr um.

"Hast Du bisher geschwiegen?"

"Ja."

"Schwöre es mir!"

"Ich schwöre es bei Bhowannie."

"So sollst Du Deinen Sohn sehen!"

"Nur sehen?"

"Und mitnehmen dürfen."

"Wann?"

"Wann Du willst."

"Morgen! Ich kenne das Haus, in welchem er wohnt."

"Gut. Ich werde Dir einen Befehl für den Direktor schreiben."

Er setzte sich und füllte ein herbeigezogenes und bereits mit Unterschrift und Siegel versehenes Blanket aus.

"Hier. Auf Vorzeigen dieser Schrift erhältst Du Einlaß in die Anstalt."

Ihr Auge ruht scharf auf ihm.

"Du wirst mich nicht betrügen?"

"Nein."

"So lebe wohl! Ich komme niemals wieder!"

Die Antwort des Herzogs konnte Max nicht vernehmen; er mußte sich zurückziehen. Doch wohin? In den Gang durfte er sich noch nicht wagen, da ihn die dort bewandertere Zigeunerin sicher eingeholt hätte; es blieb ihm nichts Anderes übrig, als sich unter der Tafel zu verbergen, deren weit herabhängende Decke ihm sicheren Schutz gewährte.

|18A Kaum hatte er da Platz genommen, so traten die Beiden in das Bibliothekzimmer.

"Lebe wohl für immer," sprach der Herzog, "und bedenke, daß meine Macht so weit reicht, als Euch Eure Füße tragen!"

Sie entfernte sich durch die geheime Thür, während er in sein Arbeitszimmer zurückkehrte.

Lange hörte Max ihn in demselben auf- und abgehen; dann erklang das leise Kritzeln einer Feder. Schon überlegte der Doktor, ob er sich auf alle Gefahr hin entfernen oder ruhig versteckt halten solle, bis der Herzog schlafen gegangen sei, als dieser sich erhob und heraus in die Bibliothek trat. Er schritt zur verborgenen Thür, öffnete dieselbe und stieg die Treppe hinab.

Jedenfalls wollte er sich überzeugen, ob die Zigeunerin das Fenster unten wieder verschlossen habe. Max vermuthete, was der Herzog soeben geschrieben habe; er hatte jetzt Gelegenheit, sich zu überzeugen, ob seine Ahnung richtig sei. Er eilte in das Arbeitszimmer, trat an den Schreibtisch und warf einen Blick auf das dort liegende und bereits vollendete Schriftstück. Es enthielt den Befehl an den Direktor der Landesirrenanstalt, die Zigeunerin Zarba als unheilbar wahnsinnig zu installiren, sobald sie erscheine, sich auf keinerlei Verhör mit ihr einzulassen und bei etwaiger Widersetzlichkeit die schärfsten Zwangsmaßregeln in Anwendung zu bringen. Eine eingehendere Instruktion sollte umgehend folgen.

"Schurke!" konnte sich der Doktor nicht enthalten auszurufen; dann kehrte er in sein Versteck zurück.

Er erreichte es gerade noch rechtzeitig, denn schon im nächsten Augenblicke trat der Herzog wieder ein und begab sich in das Nebenzimmer. Bald darauf wurde der Geruch von Siegellack bemerkbar, dann rückte ein Sessel, und die Außenthür zum Arbeitskabinet erklang. Der hohe, fürstliche "Schurke" hatte dasselbe jedenfalls verlassen, um den Befehl einem Kourier zu übergeben, da es nothwendig war, der Zigeunerin zuvorzukommen.

Jetzt durfte Max seinen unbequemen Platz verlassen. Er öffnete das Bücherfach, verschloß es hinter sich und tastete sich die Treppe hinab. Er hatte ein eigenthümliches und gefährliches Abenteuer bestanden und stand, unten im Gang angelangt, unwillkürlich tief aufathmend still.

"Zarba, Du sollst gerettet werden," gelobte er sich; "Du und Dein unglücklicher Sohn. Gott hat mich hinter Dir hergeführt; er ist der Schutz der Gerechten!"

Er fand das Fenster geschlossen; die Wirbel befanden sich an der Außenseite desselben, doch war eine Scheibe zerbrochen, so daß er hindurchlangen und öffnen konnte. Als er hinausgestiegen war und den Verschluß wieder bewerkstelligt hatte, trat Thomas auf ihn zu.

"Gott sei Dank, Herr Doktor, daß Sie mit heiler Haut wieder pei mir sind! Die Hexe ist schon längst wieder heraus. Was hat es denn da drin gegepen?"

"Das sollst Du später erfahren. Bis dahin aber erzählst Du keinem Menschen, was heut geschehen ist!"

"Keinem Einzigen; ich gepe gleich einen Eid darauf! Nicht einmal der guten Parpara Seidenmüller, die doch sonst Alles wissen muß!" - - -


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