Unter der Windhose.
Ein Erlebnis aus dem fernen Westen von Karl May.
Es war ein wunderbar schöner Junimorgen, eine wirkliche Seltenheit in jener weit entlegenen Ecke, welche der nordwestliche Winkel des Indianerterritoriums mit den gradlinigen Grenzen von Kansas, Colorado und Neu-Mexiko bildet. Es hatte während der Nacht ziemlich stark getaut; nun funkelten an Halmen und Zweigen brillantene Tropfen, und der eigenartige Duft des Büffelgrases und der kurzlockigen Grama erhielt eine so erquickende Frische, daß die Lunge das balsamische Cumarin in langen, tiefen Zügen einatmete. —
Ein solcher Morgen pflegt auf die Stimmung des Menschen von wohlthätiger Wirkung zu sein, und doch ritt ich ziemlich verdrossen in den prachtvollen Tag hinein. Der Grund war ein sehr einfacher: mein Pferd ging lahm. Es war vorgestern im Galoppieren an einer Wurzel hängen geblieben. Und in der Prairie ein lahmes Pferd zu reiten, das ist nicht nur ärgerlich, sondern es kann unter Umständen sogar von den verhängnisvollsten Folgen sein. Bei den dort täglich drohenden Gefahren hängen Leben und Sicherheit des Jägers nur zu oft von der Brauchbarkeit seines Tieres ab.
Ich hatte mit einigen Coloradomännern droben in der Nähe der Spanish Peaks gejagt und war dann über die Willow-Springs hierher nach dem Nescutunga-Creek gekommen, um an dessen rechtem Ufer mit Will Salters zusammenzutreffen, mit welchem ich vor Monaten in Nebraska Biber gefangen und dann beim Scheiden das gegenwärtige Stelldichein verabredet hatte. Wir wollten das Indianerterritorium bis an dessen südöstliche Grenze durchschreiten und dann gerade nach Westen in die Llano estacado gehen, um diese berüchtigte Wüste kennen zu lernen.
Dazu war ein gutes Pferd unbedingt nötig, und das meinige lahmte. Es hatte mich treu durch viele Gefahren getragen; ich wollte es gegen kein anderes vertauschen, und so war ich gezwungen, ihm Ruhe zu gönnen, bis der Fuß sich wieder eingerichtet haben werde. Die dadurch entstehende Zeitversäumnis war höchst unangenehm, und so erschien es nicht ganz ungerechtfertigt, daß ich mich nicht bei guter Laune befand.
Während mein Mustang langsam über die Prairie hinkte, sah ich mich nach Anzeichen um, aus denen ich die Nähe des Flusses zu erraten vermochte. Da, wo ich ritt, gab es nur vereinzeltes Buschwerk. Nach Norden hin aber zog sich eine dunkle Linie hin, welche mich auf geschlosseneren Baum- oder Strauchwuchs schließen ließ. Ich lenkte also nach dieser Richtung ab, denn wo sich mehr Vegetation findet, muß auch mehr Wasser sein.
Ich hatte recht gehabt. Die dunkle Linie bestand aus Mezquite- und wilden Kirschensträuchern, welche sich an den beiden Ufern des Flusses hinzogen. Dieser letztere war nicht breit und, wenigstens an der Stelle, an welcher ich auf ihn traf, auch nicht tief.
Ich ritt langsam am Ufer hin, aufmerksam nach einem Zeichen Will Salters’ suchend, der ja schon vor mir hier angekommen sein konnte.
Und richtig! Im seichten Wasser lagen zwei große Steine hart nebeneinander, zwischen welche ein größerer Ast so eingeklemmt war, daß der kleine Zweig, welcher sich an demselben befand, flußabwärts wies.
Dies war unser verabredetes Zeichen, welches ich in kurzen Unterbrechungen noch viermal bemerkte. Salters befand sich hier und war dem Laufe des Wassers nachgeritten. Da seine Fährte nicht mehr zu erkennen war und die Blätter der Signalzweige sich bereits in welkem Zustande befanden, so war Salters nicht später als höchstens gestern hier gewesen.
Nach einiger Zeit bog der Fluß noch mehr nach Norden ab; er schien einen Bogen zu machen. An dieser Stelle zeigte der Ast, welchen Will in den Ufersand gesteckt hatte, in die Prairie hinein. Er war also dem Flusse nicht gefolgt; er hatte den Bogen des Flusses auf der Sehnenlinie abschneiden wollen. Ich that natürlich ganz dasselbe.
Nun gewahrte ich gerade vor mir einen nicht sehr hohen, einzeln stehenden und zerklüfteten Berg, welcher vermöge seiner isolierten Lage ganz geeignet war, dem einsamen Westmanne als Fanal zu dienen. In einer guten halben Stunde hatte ich ihn erreicht. Sein Gipfel war kahl, der untere Teil nur von Buschwerk bestanden, und zwar sehr dürftig. Darum wunderte ich mich, an der Ostseite, als ich ihn umritten hatte, mehrere Gruppen von Platanen zu erblicken, von denen die stärkste beinahe mit der berühmten Platanno orientalis, welche ich in Bujukdereh bei Konstantinopel gesehen hatte, verglichen werden konnte. Sie war sicher über tausend Jahre alt. Es fiel mir auf, daß das Erdreich in einem beträchtlichen Umkreise tief aufgewühlt war. Es gab da Löcher von einigen Metern Tiefe, sichtlich mit Hacke und Schaufel ausgearbeitet. Gab es hier in dieser entlegenen Gegend Menschen? Wozu waren diese Löcher gemacht worden?
Ich ritt weiter, hielt aber bereits nach kurzer Zeit wieder an, denn ich gewahrte eine Fußspur im Grase. Als ich abgestiegen war, um sie genau zu untersuchen, fand ich, daß sie von einem weiblichen oder noch nicht ausgewachsenen männlichen Fuße, welcher mit indianischen, absatzlosen Mokassin bekleidet gewesen war, herrührte. Gab es hier Indianer? Oder hatte ein Weißer indianisches Schuhwerk getragen? Die Eindrücke beider Füße waren
gleichmäßig; jetzt fiel mir dieser Umstand nicht besonders auf; später jedoch sollte ich an ihn erinnert werden.
Eigentlich hätte ich dieser Fährte folgen sollen; aber sie führte nach Norden, dem Flusse zu, während meine Richtung ostwärts ging; ich wollte baldigst auf Salters treffen; darum stieg ich wieder auf und ritt weiter.
Nach einiger Zeit glaubte ich, aus gewissen Anzeichen schließen zu müssen, daß diese Gegend nicht so unbesucht sei, wie ich vorher geglaubt hatte. Einzelne zerknickte Halme, an den Zweigen gebrochene Aestchen, hier und da ein wie von einem menschlichen Fuße zu Mehl zertretenes Steinchen ließen vermuten, daß hier irgend ein Nachkomme des ersten Menschenpaares vorüber gekommen sei. Darum war ich auch nur erstaunt, nicht aber erschrocken, als ich später, den Fluß wieder erreichend, hart am Ufer desselben ein mit jungen Tabaks- und Maispflanzen bestecktes Feld bemerkte. Jenseits desselben erhob sich ein niedriges Blockhaus mit einer hohen, aber sehr beschädigten Fenz um den ziemlich beträchtlichen Vorplatz.
Also eine Farm hier am Nescutunga-Creek! Wer hätte das denken sollen? Hinter der Fenz rieb sich ein alter, spitzhüftiger Gaul den Kopf an dem leeren Futtertroge, und außerhalb derselben erblickte ich einen jungen Menschen, welcher beschäftigt war, eine schadhafte Stelle der Umzäunung auszubessern.
Er schien über mein Erscheinen zu erschrecken, blieb aber stehen, bis ich bei ihm anhielt.
„Good morning, boy!“ grüßte ich ihn. „Darf ich erfahren, wie der Besitzer dieses Hauses heißt?“
Er strich sich mit der Hand durch das dichte blonde Haar, betrachtete mich forschend mit den prächtigen, germanisch blauen Augen und antwortete:
„Rollins heißt er, Sir.“
„Du bist der Sohn?“
Ich nannte ihn „Du“, weil er wohl kaum mehr als sechzehn Jahre zählte, obgleich sein kräftig entwickelter Körper eigentlich auf ein höheres Alter deutete. Er antwortete:
„Ja, der Stiefsohn.“
„Ist Dein Vater daheim?“
„Seht euch um! Da ist er.“
Er deutete nach der engen, niedrigen Thür, aus welcher soeben ein Mann trat, welcher sich bücken mußte, um oben nicht anzustoßen. Er war sehr lang, sehr hager und schmalbrüstig, und zwischen den wenigen Haaren seines dünnen Vollbartes blickte die Gesichtshaut wie gegerbtes Leder hervor. Seine Yankeephysiognomie verfinsterte sich, als er mich sah. Er hatte ein altes Gewehr und eine Hacke in den Händen und legte beides nicht weg, als er langsam auf mich zutrat. Er richtete den stechenden Blick feindselig auf mich und erkundigte sich mit heißer [heiser]klingender Stimme:
„Was wollt Ihr hier!?“
„Zunächst will ich Euch fragen, Master Rollins, ob nicht vielleicht gestern
oder vorgestern ein Mann bei Euch vorgesprochen hat, der sich Salters nannte und irgend einen Auftrag zurückgelassen hat.“
Da antwortete der Sohn schnell:
„Das war gestern früh, Sir. Dieser Salters war — —“
Er konnte nicht weiter sprechen. Sein Vater stieß ihm den Gewehrkolben in die Seite, daß der arme Junge wimmernd gegen die Fenz taumelte, und rief zornig:
„Willst du schweigen, Kröte! Wir haben keine Lust, einen jeden Landstreicher zu bedienen!“ Und zu mir gewendet, fuhr er fort: „Macht Euch von dannen, Mann! Ich wohne weder für Euch, noch für Euren Salters hier!“
Das war einfach grob. Ich hatte meine eigene Hinterwaldsmanier, solche Leute zu behandeln. Ich stieg gemütlich vom Pferde, band es an die Fenz und sagte:
„Diesesmal werdet Ihr doch eine Ausnahme machen müssen, Master Rollins. Mein Pferd geht lahm, und ich werde hier bei Euch bleiben, bis es geheilt ist.“
Er trat einen Schritt zurück, maß mich mit zornblitzenden Augen vom Kopfe bis zu den Füßen herab und schrie:
„Seid Ihr toll? Mein Haus ist kein Boardinghaus, und wer sich hier breit machen will, dem brenne ich sehr einfach eine Ladung Schrot auf den Pelz. Zounds! Das ist ja auch dieser miserable Indsman wieder! Warte, Bursche, dich will ich forträuchern!“
Ich folgte schnell mit meinem Blicke dem seinigen, welcher bei den letzten Worten auf ein nicht sehr entferntes Buschwerk gerichtet war. Von dorther kam ein junger Indianer herbeigeschritten. Rollins erhob das Gewehr und legte auf ihn an. Er drückte gerade in dem Augenblicke ab, in welchem ich ihm den Lauf zur Seite schlug. Der Schuß krachte, ging aber fehl.
„Hund! Du vergreifst dich an mir?“ brüllte mich der Yankee an. „Da, nimm das dafür!“
Er drehte schnell das Gewehr um und holte zum Kolbenhiebe aus. Die Hacke hatte er vorher, um schießen zu können, weggelegt. Ich stieß ihm die Faust unter den erhobenen Arm und schleuderte ihn so kräftig gegen die Fenz, daß sie unter ihm zusammenbrach. Die Büchse entfiel ihm und ich griff sie auf, ehe er sich wieder erhoben hatte. Er riß im Aufstehen das Messer aus der Scheide und gurgelte mit vor Zorn erstickter Stimme:
„Mir das! Auf meinem Grund und Boden! Das kostet Blut und Leben!“
Ich hatte ebenso schnell meinen Revolver in der Hand, hielt ihm denselben entgegen und antwortete:
„Ihr meint wohl Euer Blut und Leben? Steckt sofort das Messer ein! Meine Kugel ist schneller als Eure Klinge, Mann!“ (Fortsetzung S. 85.)
Unter der Windhose.
Ein Erlebnis aus dem fernen Westen von Karl May.
Er ließ den bereits erhobenen Arm sinken und hielt die Augen nicht gegen mich, sondern nach der andern Ecke des Blockhauses gerichtet. Dort hielt ein Reiter, welcher unbemerkt von uns herbeigekommen war und mir lachend zurief:
„Schon bei der Arbeit, alter Bursche? Recht so! Schlage den Kerl nieder; er hat es verdient! Aber gieb ihm keine Kugel, denn einen Schuß Pulvers ist er nicht wert.“
Dieser Reiter war Will Salters. Er kam vollends vorbei, gab mir die Hand und fuhr fort:
„Welcome, Kamerad! Wenn es nach diesem Scurvy fellow gegangen wäre, hättest du mich nicht wiedergefunden. Ich schätze, er hat dich grad so empfangen, wie gestern mich. Dafür erhielt er einige Nasenstüber, für welche er mir eine Kugel nachschickte, die aber höflicher war als er; sie wich mir weit zur Seite aus. Ich wollte dich hier bei ihm erwarten, durfte aber nicht, sagte jedoch seinem Sohne, daß ich heut’ zurückkehren würde, um zu sehen, ob der Mann bei besserer Laune sei. Wenn es dir recht ist, geben wir ihm eine Lektion im Umgange mit unsersgleichen. Ich will mich einstweilen seiner Persönlichkeit versichern!“
Er stieg ab. Da raffte Rollins die Hacke vom Boden auf und floh in weiten Sprüngen davon. Wir blickten ihm verwundert nach. Sein Verhalten war befremdend. Erst rücksichtslose Grobheit und nun feige Flucht! Wir kamen nicht dazu, eine Bemerkung darüber zu machen, denn aus der Thür, hinter welcher sie bisher ängstlich versteckt gewesen war, trat jetzt eine Frau. Sie hatte Rollins hinter den Büschen verschwinden sehen und sagte, froh aufatmend:
„Gott sei Dank! Ich glaubte schon, es werde zum Blutvergießen kommen. Er ist betrunken. Er hat während der ganzen Nacht phantasiert und dann die letzte Flasche Brandy ausgetrunken!“
„Ihr seid seine Frau?“ fragte ich.
„Ja. Ich hoffe, daß ich es nicht zu entgelten habe, Mesch’schurs! Ich kann ja nichts dafür.“
„Das wollen wir glauben. Fast möchte man annehmen, daß Euer Mann geistig gestört sei.“
„Das ist er leider auch. O Gott, ihr glaubt gar nicht, wie unglücklich ich bin! Er bildet sich ein, daß ein Schatz hier in der Nähe vergraben liege. Den will er heben. Kein Anderer soll ihn finden, und darum duldet er keinen Menschen in dieser Gegend. Hier, dieser junge Indsman ist schon seit vier Tagen hier. Er konnte nicht weiter, weil er sich den Fuß vertreten hat, und wollte bei uns bleiben, bis er wieder richtig laufen kann; aber Rollins jagte ihn fort. Nun muß der arme Teufel im Freien kampieren.“
Sie deutete auf den Indianer, welcher herbei gekommen war. Es war alles so schnell geschehen, daß ich ihn noch nicht wieder hatte beachten können.
Er mochte achtzehn Jahre alt sein. Sein Anzug war aus mit Gehirn gegerbter Hirschhaut gefertigt und an den Nähten ausgefranst. Diese Fransen waren nicht mit Menschenhaaren geschmückt; er hatte also noch keinen Feind getötet. Sein Kopf war unbedeckt. Seine Waffen bestanden aus einem Messer und Bogen mit Köcher. Er durfte wohl noch kein Feuergewehr tragen. Um den Hals trug er eine messingene Kette, an welcher das Rohr einer Friedenspfeife hing; der Kopf derselben fehlte. Das war das Zeichen, daß er sich auf der Wallfahrt nach den heiligen Steinbrüchen befand, aus welchen die Indianer den Pfeifenthon beziehen. Während dieser Reise ist ein jeder unverletzlich. Selbst der blutgierigste Gegner muß ihn da unbeschädigt ziehen lassen, ja, ihn nötigenfalls sogar beschützen.
Die offenen, intelligenten Züge dieses Jünglings gefielen mir. Das Gesicht hatte einen fast kaukasischen Schnitt. Die Augen waren sammetschwarz und mit dem Ausdrucke des Dankes auf mich gerichtet. Er streckte mir die Hand entgegen und sagte:
„Du hat Ischarshiütuha beschützt. Ich bin dein Freund!“
Diese letzte Versicherung klang sehr stolz; das gefiel mir ebenso wie der Sprecher selbst. Sein Name aber frappierte mich. Ischarshiütuha ist ein apachisches Wort und heißt so viel wie „kleiner Hirsch“, darum fragte ich:
„Bist du ein Apache?“
„ Ischarshiütuha ist der Sohn eines Häuptlings der Gila-Apachen, der tapfersten roten Männer.“
„Sie sind meine Freunde, und Winnetou, der größte ihrer Häuptlinge, ist mein Bruder.“
Sein Blick fuhr rasch und scharf an meiner Gestalt empor. Dann fragte er:
„Winnetou ist der tapferste der Helden. Wie nennt er dich?“
„Selki-lata.“
Da trat er um mehrere Schritte zur Seite, senkte den Blick und sagte:
„Die Söhne der Apachen kennen dich. Ich bin noch kein Krieger; ich darf nicht mir dir sprechen.“
Das war die Demut eines Indianers, welcher den Rang eines Andern offen anerkennt, den Kopf aber nicht um einen Zehntelzoll niederbeugt.
„Du darfst mit mir sprechen, denn du wirst einst ein berühmter Krieger sein. Du wirst in kurzer Zeit nicht mehr Ischarshiütuha, der kleine Hirsch, heißen, sonder Pehnulte, der große Hirsch. Du hast einen kranken Fuß?“
„Ja.“
„Und bist aus deinem Wigwam ohne Pferd gegangen?“
„Ich hole den heiligen Pfeifenthon. Ich laufe.“
„Dieses Opfer wird dem großen Geiste gefallen. Komm in das Haus!“
„Ihr seid Krieger, und ich bin noch jung. Erlaubt, daß ich bei meinem kleinen weißen Bruder bleibe!“
Er trat zu dem hübschen blonden, blauäugigen Knaben, welcher still und traurig dagestanden hatte, die Hand auf die Stelle gelegt, an welche ihn der Gewehrkolben seines Vaters getroffen hatte. Die Beiden wechselten einen Blick, ganz unbewußt, mir aber sofort auffallend. Sie standen jedenfalls jetzt nicht zum erstenmale nebeneinander. Der „kleine Hirsch“ war nicht ohne Absicht hier; er verbarg ein Geheimnis, vielleicht gar ein für die Bewohner des Blockhauses gefährliches. Ich fühlte das Verlangen, hinter dasselbe zu kommen, ließ mir aber nichts merken.
Die Knaben blieben also im Freien; ich folgte mit Will Salters der Frau in das Haus oder vielmehr in die Hütte, deren Inneres aus einem einzigen Raume bestand.
Da sah es denn höchst ärmlich aus. Ich war schon in mancher Blockhütte gewesen, deren Bewohner sich auf das Notwendigste zu beschränken hatten; hier aber war es schlimmer. Das Dach war höchst defekt, die Verstopfung der Zwischenräume in den Blockwänden verschwunden. Durch diese Löcher und Ritzen kroch das Elend aus und ein. Ueber dem Herde hing kein Kessel. Der Speisevorrat schien nur aus einer geringen Anzahl von Maiskolben zu bestehen, welche in einer Ecke lagen. Die einzige Kleidung der Frau bestand aus dem dünnsten, verschossenen Druckkatun. Sie ging barfuß. Ihr einziger Schmuck war die Sauberkeit, welche trotz dieser Aermlichkeit wohlthuend an ihr auffiel. Auch ihr Sohn war höchst ungenügend gekleidet gewesen, doch jede zerrissene Stelle sorgfältig ausgebessert.
Als ich auf das nur aus Laub bestehende Lager in der Ecke und dann in das bleiche, abgehärmte Gesicht dieser braven Frau blickte, kam mir, ohne daß ich es eigentlich wollte, die Frage über die Lippen:
„Ihr habt Hunger, liebe Frau?“
Sie errötete schnell und wie beleidigt; dann aber brachen plötzlich die Thränen aus ihren Augen, und sie antwortete, mit der Hand nach dem Herzen greifend:
„O Gott, ich wollte gar nicht klagen, wenn nur Joseph sich satt essen könnte! Unser Feld trägt nichts, weil mein Mann es verwildern läßt; so sind wir also auf die Jagd angewiesen, die aber auch nichts bringt, weil Rollins den Wahnsinn hat, nur immer nach dem Schatze zu graben.“
Ich eilte hinaus zu meinem Pferde, um meinen Vorrat an Dürrfleisch
herein zu holen, den ich ihr gab. Der gute Will Salters war ebenso schnell zu seinem Pferde und brachte auch seinen Vorrat herein.
„O Mesch’schurs, wir gut ihr seid!“ sagte sie. „Man möchte euch gar nicht für Yankees halten.“
„Da habt ihr, wenigstens in Beziehung auf mich, sehr recht,“ antwortete ich. „Ich bin ein Deutscher. Master Salters aber hat zwar nur von mütterlicher Seite deutsches Blut in den Adern, ist aber ein noch viel besserer Kerl als ich. Seine Mutter war eine Oesterreicherin.“
„Herrgott! Und ich bin in Brünn geboren!“ rief sie aus, die Hände froh zusammenschlagend.
„Also eine Deutsche! So können wir uns ja der Muttersprache bedienen.“
„Ach ja, ach ja! Ich darf mit meinem Sohne nur heimlich deutsch reden. Rollins leidet es nicht.“
„Ein schrecklicher Kerl!“ sagte Salters. „Ich will Sie nicht kränken; aber es ist mir ganz so, als ob ich ihm früher, vor Jahren, einmal begegnet sei, unter für ihn nicht ehrenvollen Umständen. Er hat eine große Aehnlichkeit mit einem Kerl, den man nur unter einem indianischen Namen kannte. Ich weiß nicht, was dieser Name bedeutet. Wie lautete er doch nur? Ich glaube, so ähnlich wie Indano oder Indanscho.“
„Inta-’ntscho!“ klang es vom Eingange her.
Dort stand der junge Indianer. Er hatte natürlich nicht die deutschen Worte, aber doch den Namen verstanden. In seinem Auge glühte es flackernd auf. Als da mein Blick forschend auf ihn fiel, drehte er sich um und verschwand von der Thür.
„Dieser Name ist dem Apachischen entnommen, welches du nicht verstehst,“ erklärte ich dem Gefährten. „Es bedeutet so viel mit ‚böses Auge‘.“
„Böses Auge!“ fragte die Frau. „Diese Worte sagt mein Mann sehr oft, wenn er im Traum spricht, oder in der Betrunkenheit dort in der Ecke sitzt und sich mit unsichtbaren Personen zankt. Er ist zuweilen über eine Woche lang fort. Da bringt er sich aus Fort Dodge drüben am Arkansas Brandy mit; ich weiß nicht, wovon er ihn bezahlt. Dann trinkt und trinkt er, bis er nicht mehr denken kann, und spricht von Blut und Mord, von Gold und Nuggets, von einem Schatze, der hier vergraben liegt. Wir getrauen uns dann Tage und Nächte lang nicht in die Hütte aus Angst, daß er uns umbringen werde.“
„Sie unglückliche Frau! Wie sind Sie denn zu der Kühnheit gekommen, einem solchen Manne nach diesem Winkel der Wildnis zu folgen?“
„Ihm? O, mit ihm wäre ich nie, niemals hierher gegangen. Ich kam mit meinem ersten Manne und dessen Bruder nach Amerika. Wir kauften Land und wurden von dem Agenten betrogen. Das Dokument, welches wir über den Kauf erhielten, war gefälscht. Als wir nach dem Westen kamen, hatte der rechtmäßige Eigentümer die Stelle schon seit Jahren bewohnt und bebaut. Unser Geld war alle; es blieb uns nichts übrig, als vom Ertrage der Jagd zu leben. Dabei gingen wir immer weiter nach dem Westen. Mein Mann
wollte nach Kalifornien. Er hatte von dem Golde gehört, welches dort gefunden wird. Wir kamen bis hierher, da ging es nicht weiter; ich war krank und erschöpft. Wir kampierten im Freien, fanden aber zum Glücke nach kurzer Zeit diese Blockhütte. Sie war verlassen. Wem sie gehört hat, wissen wir nicht. Wir behalfen uns so, wie es eben gehen wollte. Aber der Gedanke an Kalifornien ließ meinem Manne keine Ruhe. Er wollte hin. Ich konnte nicht, und sein Bruder wollte nicht; er hatte Sehnsucht nach der Heimat. Gott allein weiß es, nach welchen schweren Kämpfen ich die Erlaubnis gab, daß mein Mann allein nach dem Goldlande gehen möge, um sein Glück zu versuchen, während der Schwager bei mir bleiben solle. Er ist nie zurückgekehrt. Ein halbes Jahr nach seinem Weggange wurde mir mein Joseph geschenkt. Er hat seinen Vater nie gesehen. Er war drei Jahre alt, als der Schwager einst des Morgens auf die Jagd ging und nicht wiederkam. Einige Tage später fand ich ihn am Ufer des Flusses liegen. Er hatte eine Schußwunde im Kopfe. Vielleicht ist er von einem Indianer ermordet worden.“
„War er skalpiert?“
„Nein.“
„So ist der Mörder ein Weißer. Wie aber haben Sie leben können?“
„Von dem kleinen Maisvorrate, den wir hier nebenan erbaut hatten. Dann kam mein jetziger Mann in diese Gegend. Er wollte jagen und dann weiter gehen, blieb aber länger und länger und zuletzt für immer da. Ich war froh, ihn zu haben; ohne ihn wäre ich mit meinem Kinde verhungert. Er ging hinüber nach Dodge City und ließ meinen Mann für tot erklären. Ich brauchte einen Beschützer und mein Sohn einen Vater. Rollins ist beides geworden. Einst aber hatte ihm von einem Schatze geträumt, der hier vergraben sei. Sonderbarerweise wiederholte sich der Traum so oft, daß Rollins nicht nur fest an die Existenz dieses Schatzes glaubt, sondern in einen förmlichen Wahn verfallen ist. Des Nachts phantasiert er von dem Golde, und des Tages gräbt er nach dem Golde.“
„Wohl an dem Berge, an dessen Fuß die alten Platanen stehen?“
„Ja. Aber ich darf nicht mit ihm hin und mein Sohn ebensowenig. Ich kann keinem Menschen sagen, wie unglücklich ich bin. Ich bete täglich und stündlich um Errettung. Wenn Gott doch helfen wollte!“
„Er wird helfen, wenn auch seine Hilfe Ihnen anfänglich Schmerz bereiten sollte. Ich habe so oft im Leben die Erfahrung gemacht, daß — —“
Ich wurde unterbrochen. Joseph kam herein und bat uns, hinauszukommen und den Himmel zu betrachten. Wir folgten ihm, verwundert über dieses Verlangen. Der „kleine Hirsch“ stand draußen und blickte aufmerksam nach einem Wölkchen, welches fast scheitelrecht über unsern Köpfen stand. Sonst aber war der Himmel vollständig rein und ungetrübt. Joseph sagte uns, daß der Indianer dieses Wölkchen für uns sehr gefährlich halte. Der „kleine Hirsch“ sprach nämlich ganz leidlich englisch und konnte sich also dem weißen Knaben verständlich machen. Will Salters zuckte die Achsel und sagte:
„Dieses Zigarrenwölkchen soll gefährlich sein? Pshaw!“
Da wendete der Indianer den Kopf zu ihm hin und sagte nur das eine Wort: „Iltschi.“
„Was bedeutet das?“ fragte mich Will.
„Wind, Sturm!“
„Unsinn! Ein gefährlicher Wind, also eine Bö, kommt nur aus einem ‚Loche‘, das heißt, wenn sich der ganze Himmel schwarz umzogen hat und sich in dieser schwarzen Decke ein rundes, helles Loch befindet. Hier aber ist es umgekehrt. Der Himmel ist außer dieser Stelle vollständig ungetrübt.“
„Ke-eikhena-iltschi,“ sagte der Indianer.
Jetzt wurde ich doch aufmerksamer. Diese drei Worte bedeuten „der hungrige Wind“. Der Apache bezeichnet mit diesem Ausdrucke einen Wirbelsturm. Ich fragte den jungen Mann, ob er einen solchen befürchte. Er antwortete:
„Ke-eikhena-akh-iltschi.“
Das heißt „der sehr hungrige Wind“ und bedeutet gar eine Windhose. Wie kam der Apache zu dieser Vermutung? Ich konnte an dem Wölkchen wirklich nichts Verdächtiges bemerken; aber ich wußte auch, daß diese Kinder der Wildnis einen wunderbaren Instinkt für gewisse Naturereignisse besitzen.
„Unsinn!“ meinte Salters zu mir. „Komm herein! Ich glaube gar, du fängst an, ein bedenkliches Gesicht zu machen.“
Da legte der Indianer sich den Finger an die Stirn und sagte zu ihm:
„Ka-a tschapeno!“
Er hatte wohl gemerkt, daß Will nicht apachisch verstand und bediente sich des Tonkawadialektes, zu deutsch: „Ich bin nicht krank“, nämlich im Kopfe. Salters verstand ihn, nahm ihm aber die Worte übel und trat wieder in die Hütte. Ich benutzte die Gelegenheit, dem „kleinen Hirsch“ zu zeigen, daß ich ihm seine früheren Antworten nicht geglaubt habe. Ich fragte ihn:
„Welcher Fuß meines Freundes ist krank?“
„Sintsch-kah — der linke Fuß,“ antwortete er.
„Warum aber hinkte mein Bruder mit dem rechten Fuße, als er dort aus den Sträuchern kam?“
Es glitt ein Lächeln der Verlegenheit über sein Gesicht, doch antwortete er schnell gefaßt:
„Mein tapferer Bruder hat sich geirrt.“
„Mein Auge ist scharf. Warum hinkt der ‚kleine Hirsch‘ nur dann, wenn er gesehen wird? Warum ist sein Gang richtig, wenn er allein ist?“
Er blickte mich forschend an, ohne zu antworten. Darum fuhr ich fort:
„Mein junger Freund hat von mir gehört. Er weiß, daß ich die Fährte lese, daß mich kein Halm des Grases, kein Korn des Sandes zu täuschen vermag. Der junge [‚kleine] Hirsch‘ ist heute früh vom Berge herabgekommen und nach dem Flusse gegangen, ohne zu hinken. Ich habe seine Spur gesehen. Hat er auch jetzt den Mut, zu sagen, daß ich mich täusche?“
Er senkte den Blick zur Erde und schwieg.
„Warum sagt der ‚Hirsch‘, daß er nach den heiligen Steinbrüchen mit
seinen Füßen gehe?“ fuhr ich fort. „Er ist von seinem Wigwam aus bis hierher geritten.“
„Uff!“ antwortete er erstaunt. „Wie könntest du das wissen?“
„Ist nicht der größte Häuptling der Apachen mein Lehrer gewesen. Meinst du, daß ich ihm die Schande mache, mich von einem jungen Apachen, der noch kein Feuergewehr tragen darf, hintergehen zu lassen? Dein Tier ist ein tschi-kayi-kle, ein Rotschimmel.“
„Uff, uff!“ rief er zweimal als Ausdruck der höchsten Verwunderung.
„Willst du den Bruder Winnetous belügen?“ fragte ich vorwurfsvoll.
Da legte er die Hand auf das Herz und antwortete:
„Schi-itkli takla ho-tli, tschi-kayi-kle — — ich habe ein Pferd, einen Rotschimmel.“
„So ist es recht! Ich sage dir sogar, daß du heute früh bei Zeiten die ganze indianische Schule durchgeübt hast.“
„Mein weißer Bruder ist allwissend wie Manitou, der große Geist!“ rief er aus, förmlich betroffen.
„Nein. Du bist im Karriere geritten, mit einem Fuße im Sattel hängend und mit einem Arme am Halsriemen, deinen Körper an die eine Seite des Pferdes legend. Das thut man im Kampfe, um sich vor den Geschossen des Feindes zu schützen, zur Friedenszeit aber nur, wenn man die volle Schule übt. Nur bei einem solchen Ritte ist es möglich, daß Mähnenhaare sich an Griff und Scheide des Messers verfitzen und, ausgerissen, hängen bleiben. Solches Mähnenhaar kann nur ein Rotschimmel haben.“
Er fuhr mit beiden Händen nach dem Gürtel, an welchem das Messer in der Scheide steckte. Daran hingen einige Haare. Ich sah trotz seiner indianischen Hautfärbung, daß er errötete, und fügte hinzu:
„Das Auge des ‚kleinen Hirsches‘ ist hell, aber noch nicht geübt genug für solche Kleinigkeiten, an denen doch oftmals das Leben hängt. Mein junger Bruder ist hierher gekommen, um den Besitzer dieses Hauses zu sehen. Hat er eine Blutrache mit demselben?“
„Ich habe das Gelübde des Schweigens abgelegt,“ antwortete er; „aber mein weißer Bruder ist der Freund des berühmtesten Apachen. Ich will ihm etwas zeigen, was er mir heute noch zurückgeben wird. Er kann davon sprechen, denn meine Stunde ist gekommen.“
Er öffnete das Jagdhemd und zog ein wie ein Briefcouvert viereckig zusammengelegtes Leder hervor. Er gab es mir und schritt davon, nach dem Maisfelde zu, bei welchem jetzt der blonde Joseph stand. Ich sah noch, daß er diesen beim Arme ergriff und mit sich fortzog.
Ich schlug das Leder, welches aus einem gegerbten Hirschfelle geschnitten war, auseinander. Der Inhalt bestand aus einem zweiten Lederstücke aus Büffelkalbfell, nur von den Haaren befreit, mit Kalk gebeizt und zu Pergament geglättet. Es war zweimal zusammengeschlagen. Als ich es auseinander gefaltet hatte, sah ich eine Reihe von Figuren, in roter Farbe hervorgebracht, in der Zeichnung ganz ähnlich der berühmten Felseninschrift von
Tsitßumovi in Arizona gehalten. Ich hatte ein Dokument in Indianerschrift in Händen, eine solche Seltenheit, daß ich gar nicht sogleich an das Entziffern dachte, sondern in die Hütte eilte, um Will Salters diesen Schatz zu zeigen. Er schüttelte den Kopf dazu und meinte ganz verwundert:
„Das soll man lesen können?“
„Natürlich!“
„Nun, so lies du es. Schon wenn es sich um unsere gewöhnliche Schrift handelt, will ich mich lieber mit zwanzig Indsmen als mit drei Buchstaben herumschlagen. Ich bin niemals ein Held im Lesen gewesen; ich schreibe meine Briefe dem Adressaten gleich hier mit der Doppelbüchse in den Leib; das ist das Kürzeste. Die Feder zerbricht mir zwischen den Fingern, und die Tinte schmeckt zu schlecht. Nun erst diese Figuren zu entziffern, das ist ja fürchterlich. Man kann sie hier in der dunkeln Hütte, die nur zwei kleine Gucklöcher an Stelle der Fenster hat, ja gar nicht einmal erkennen.“
„So komm mit hinaus vor die Thür!“
„Na, mitgehen will ich wohl; das Lesen aber magst du allein besorgen.“
Wir gingen hinaus. Die Frau blieb zurück. Sie hatte auf dem Herde ein kleines Feuer angezündet, um einige Stückchen unseres Fleisches zu braten.
Ich hatte die Augen natürlich sofort auf den Figuren; Will Salters aber hielt die seinigen nach dem Himmel gerichtet. Er brummte bedenklich:
„Hm! Eigentümliche Wolke! Habe noch niemals so etwas gesehen. Was sagst du dazu?“
Dadurch aufmerksam gemacht, blickte ich empor. Das Wölkchen war nicht viel großer geworden, hatte aber ein ganz anderes Aussehen bekommen. Vorher bläulichgrau, hatte es jetzt eine hellrote, durchsichtige Färbung, und es war, als ob von ihm aus Millionen und aber Millionen spinnenfadendünne, mattgoldene Fäden nach der ganzen Ausdehnung des Gesichtskreises hinuntergingen. Diese kaum sichtbaren Fäden zuckten nicht; sie waren vollständig unbeweglich, wie fest angespannt.
„Nun?“ fragte Will.
„Ich habe auch nie etwas Aehnliches gesehen.“
„Sollte dieser junge Mensch, der Indsman, recht behalten mit seinem Wirbelwinde, uns alten, erfahrenen Savannenleuten gegenüber!“
„Bedenklich sieht es aus. Der Apache sprach gar von einer Windhose. Das wäre noch schlimmer.“
„Es mag sein, was es wolle, wir müssen es eben abwarten. Ich hoffe, du kannst dich in deiner Indianerschrift besser zurechtfinden als da oben in dem unbegreiflichen Fadengewirr. Wie steht es?“
„Hm! Wollen sehen! Da vorn sehe ich eine Sonne gemalt mit nur aufwärtsgehenden Strahlen, also wohl die aufgehende Sonne. Dann kommen vier Reiter. Sie haben Hüte auf, sind also wahrscheinlich Weiße. Der vorderste hat etwas am Sattel hängen; kleine Säcke sollen es wohl sein. Hinter diesen vieren kommen zwei andere. Sie haben Federn auf den unbedeckten Köpfen, dürften also wahrscheinlich Indianerhäuptlinge vorstellen.“
„Na, das ist ja alles sehr einfach. Nennst du das etwa lesen?“
„Es ist der Anfang dazu. Man muß erst die Buchstaben kennen lernen, ehe man sie zu Wörtern zusammenzusetzen vermag. Es befinden sich nun noch einige kleinere Figuren hier, welche über den größeren angebracht sind. Ueber dem einen Indianer sehe ich einen Büffel, welcher das Maul öffnet, aus dem einige kleine Striche hervorgehen. Aus dem Maule kann nur die Stimme hervorgehen; es ist also wohl ein brüllender Stier gemeint. Ueber dem Kopfe des anderen Indsman ist eine Tabakspfeife, aus deren Kopf ähnliche Striche hervorgehen; das soll wohl Rauch bedeuten. Die Pfeife brennt also.“
„Du, ich fange an, lesen zu können!“ sagte Will. „Da fällt mir ein, daß es zwei Apachenhäuptlinge gab, zwei Brüder; der eine war der ‚brüllende Büffel‘ und ist seit langem tot; der andere hieß die ‚brennende Pfeife‘, weil er von friedlicher Gesinnung war und gern mit jedermann die Friedenspfeife rauchte. Er soll noch leben.“
„So sind vielleicht gar diese beiden gemeint! Wollen sehen! Ueber den zweiten Weißen ist ein Auge gemalt mit einem hindurchgehenden Strich. Entweder hat er nur ein Auge, oder er ist auf dem einen blind, oder das Auge ist krank. Ah, das wäre ja der Name, den du vorhin nanntest: ‚böses Auge!‘ Das soll wohl heißen, boshaftes Auge. Und über dem dritten Weißen ist ein Beutel mit einer danach greifenden Hand. Sollte das Diebstahl bedeuten?“
„Ja, ja, gewiß!“ sagte Salters schnell, „die stehlende Hand. Ich hab’s, ich hab’s! Jetzt weiß ich, wo ich diesen Rollins gesehen habe! Nämlich droben in den schwarzen Bergen; er hieß Haller, war ein Pferde- und Biberfallendieb und wurde die ‚stehlende Hand‘ genannt.“
„Du wirst dich irren!“
„Nein, nein! Die ‚stehlende Hand‘ und das ‚böse Auge‘ waren Vettern oder gar Brüder und hielten zusammen. Sie sind gemeint. Weiter, weiter!“
„Da die aufgehende Sonne voran steht, so sind diese Reiter nach Sonnenaufgang, also nach Osten geritten. Hier auf der zweiten Zeile kommen dieselben Figuren wieder vor, und zwar öfters und in verschiedenen Gruppen. Erste Gruppe: die drei hinteren Weißen schießen auf den Voranreitenden. Zweite Gruppe: er liegt tot am Boden, und sie haben seine Säcke oder Beutel. Dritte Gruppe: die Indianer schießen auf die drei Weißen. Vierte Gruppe: Zwei Weiße und ein Indianer, der ‚brüllende Büffel‘, sind tot; die ‚stehlende Hand‘ entflieht. Fünfte Gruppe: die ‚brennende Pfeife‘ vergräbt die Beutel. Sechste Gruppe: die ‚brennende Pfeife‘ hat den ‚brüllenden Büffel‘ auf dem Pferde und reitet hinter der ‚stehlenden Hand‘ her, verfolgt ihn wahrscheinlich. Siebente Gruppe: die ‚brennende Pfeife‘ begräbt den ‚brüllenden Büffel‘; die ‚stehlende Hand‘ ist verschwunden. Nun kommen noch zwei kleine Bilder. Da stehen drei Bäume; unter dem mittleren stecken die Beutel in der Erde. Und dann kommt ein großer, einzelner Baum, unter welchem man den ‚brüllenden Büffel‘ in der Erde liegen sieht; sein Grab also. Jetzt löst sich das ganze, schaurige Erlebnis leicht — — —“
„Halt!“ unterbrach mich Salters. „Laß einmal die Angelegenheit auf
sich beruhen und blicke in die Höhe! Merkst du denn nicht, daß es ganz finster wird. Siehe dir doch um Gotteswillen einmal den Himmel an!“
Ich folgte seiner Aufforderung und erschrak. Die erwähnten mattgoldenen Fäden waren verschwunden. An ihrer Stelle sah ich mehrere dunkle Striche, zu denen sie sich höchst wahrscheinlich zusammengezogen hatten und welche die Wolke, die tief dunkel geworden war, mit dem nördlichen Horizonte verbanden. Der übrige Teil des Himmels war hell und rein. An den Strichen wurde die Wolke wie an starken, straffen Seilen abwärts nach Norden gezogen. Das ging zusehends schnell. Je weiter sie zur Erde gezogen wurde, desto deutlicher sah man von der letzteren aus eine erst durchsichtige und dann sich immer mehr verdunkelnde Masse emporsteigen, unten breit, oben schwächer werdend, sich drehend und mit dem oberen, hin und her flatternden Schwanze nach der Wolke haschend. Diese sank immer schneller nieder, oben sich verbreiternd, nach unten nun ihrerseits einen Schwanz aussendend. Die beiden Schwänze suchten sich und fanden sich. Als sie sich berührten, war es, als ob die Wolke auf die Erde herabgerissen werden solle; aber sie hielt sich in der Luft und bildete mit dem Wirbelwind nun einen sich rasend schnell um seine eigene Achse drehenden Doppeltrichter, dessen Spitzen sich in der Mitte vereinigt hatten, während seine beiden Grundflächen unten an der Erde und hoch oben in der Luft wohl einen Durchmesser von fünfzig Meter erreichten.
Da sich in der Umgebung nur niedriges Buschwerk befand, so konnten wir die beängstigende Naturerscheinung fast in ihrer ganzen Achsenhöhe beobachten. Sie wickelten und wirbelten sich sehr schnell vorwärts, grad auf uns zu. Und hier um uns gab es völlige Unbewegtheit der Luft und eine plötzlich eintretende Schwüle, welche uns sofort den Schweiß aus allen Poren trieb.
„Der ‚kleine Hirsch‘ hat recht gehabt,“ sagte ich. „Es handelt sich um unser Leben. Schnell, Will, retten wir uns und die Frau!“
„Wie denn und wohin denn?“ fragte er erschrocken.
„Auf unsere Pferde.“
„Wir wissen doch nicht, wohin wir uns wenden sollen!“
„So eine Windhose ist freilich unberechenbar in ihren Bewegungen, aber wir müssen eben unsere Richtung ändert, sobald sie die ihrige ändert. Vielleicht wird sie vom Flusse aufgehalten und kommt gar nicht herüber auf unsere Seite. Hole Rollins’ Gaul hinter der Fenz hervor. Ich springe nach der Frau!“
Ich fand diese am Herde, ohne Ahnung von der ihr drohenden Gefahr. Sie fiel fast in Ohnmacht, als ich ihr mitteilte, was draußen vorgehe. Ich faßte sie und trug sie eilig hinaus. Will kam eben mit dem Gaule an.
„Das Thier thut obstinat,“ rief er. „Ich will mich daraufsetzen; er ist nicht gesattelt und die Lady würde beim ersten Schritte abgeworfen. Hebe sie auf meinen Fuchs! Schnell, schnell!“
Er sprang auf und trieb das alte Pferd im Galoppe vorwärts.
„Können Sie reiten?“ fragte ich die Frau.
„So nicht, wie es hier sein muß,“ jammerte sie.
„So nehme ich Sie zu mir.“
Ich schwang mich auf den Fuchs, welcher zwei Personen eher tragen konnte als mein lahmer Brauner, zog die Zitternde zu mir herauf, so daß sie quer auf meinen Knieen lag, ergriff meinen Lahmen beim Zügel und folgte dem voransprengenden Salters.
Das war alles so schnell geschehen, daß vom ersten Erblicken der Windhose bis jetzt nicht mehr als eine Minute vergangen war. Ich hatte es nicht bequem. Mit der Rechten mußte ich die Frau halten und mit der Linken den Fuchs leiten und auch den Braunen führen. Aber es ging. Als wir eine ziemlich bedeutende Strecke zurückgelegt hatten, rief ich Will zu, jetzt anzuhalten. Er that es, und wir drehten uns um.
Die Trombe hatte fast den Fluß erreicht. Von Luft und der Wolke war nichts mehr zu sehen. Sie bildete ein finsteres Ungetüm, genau von der Gestalt einer Sand- oder Eieruhr, aber von riesenhafter Größe, in welcher ausgerissene Sträucher, Steine und mächtige Rasenstücke mit ganzen Wagenladungen von Sand rundum gewirbelt wurden — ein entsetzliches, überirdisch erscheinendes Ungetüm.
Jetzt hatte sie das Ufer erreicht. Wird sie halten bleiben — sich am jenseitigen Ufer fortbewegen, auf- oder abwärts — vielleicht in sich zusammenfallen? So fragten wir uns. Der Mensch, der in ihren Bereich kam, war sicher verloren. Turmhoch auf und nieder und um sich selbst gewirbelt, mußte er ersticken, wenn er nicht vorher zur Erde geschmettert oder von den sich mit ihm drehenden Massen zerquetscht wurde.
Sie hielt an, als ob sie sich besinnen wolle. Der obere, nach abwärts sich verjüngende Trichter neigte sich herüber, die bisherige Richtung fortzusetzen. Er zerrte an dem untern Trichter; fast schien es, als ob er sich von demselben losreißen wolle. Da that es einen fürchterlichen Krach; die dunkleren, kompakteren Massen, Sand, Steine, Sträucher, Rasen verschwanden, und eine lange Wassersäule stieg auf, erst von cylindrisch gleichmäßiger Gestalt, dann sich in der Mitte einengend, die frühere Figur eines Doppelkegels annehmend. Aus der Windhose war eine Wasserhose geworden, die sich, wie zornig über den am Flusse erlittenen Aufenthalt, nun mit doppelter Schnelligkeit fortbewegte, augenblicklich die Blockhütte erfassend, gerade auf uns zu.
„Fort jetzt! Da rechts hinüber!“ schrie ich auf.
Die Pferde waren nur schwer für den kurzen Moment zu halten gewesen. Sie erkannten die Gefahr und schossen fort, daß wir sie gar nicht anzutreiben brauchten. Den Blick auf die Wirbelhose gerichtet, sah ich zu meiner Freude, daß sie eine westliche Richtung nahm. Sie entfernte sich von uns. Wir konnten wieder anhalten und waren gerettet, wenn sie nicht umkehrte.
Aber dieses letztere geschah nicht. Sie bewegte sich in ungeminderter Schnelligkeit weiter, nicht mehr durchsichtig wie am Wasser, sondern wieder dunkel und undurchsichtig. Sie hatte alles, worauf sie stieß, von der Erde auf- und emporgerissen. Wir sahen, wie sie wuchs und an Mächtigkeit gewann. Alles, was sie nicht in sich zu halten vermochte, weit von sich schleudernd, verfolgte sie verderbenbringend ihren Weg, bis auf einmal von fern her ein
donnerndes Getöse erfolgte, unter dem die Erde erbebte — sie war verschwunden.
Aber fast in demselben Momente hatte sich, wir wußten gar nicht wie, der ganze Himmel schwarz umhüllt, und es stürzte ein Regen hernieder, dessen Tropfen größer als eine Erbse waren.
„Unser Haus, unsere Wohnung! Was ist aus ihr geworden?“ jammerte die Frau, jetzt zum erstenmal ihr Schweigen brechend.
Statt der Antwort setzten wir die Pferde in scharfen Trab und kehrten nach dem Blockhause zurück. Nach dem Blockhause? Nein; das war nicht mehr vorhanden. Es war auseinander gerissen, auseinander gedreht, wie man ein dünnes, haltloses Strohgeflecht zerfetzt. Die schweren, mannesstarken Stämme und Klötze, aus denen es bestanden hatte, waren weit, weit mit fortgeschleppt und dann wieder zur Erde geschleudert worden. Von der Fenz war keine Spur zu sehen, keine einzige Planke, keine Latte, keine Stange — alles durch die Lüfte mit davongewirbelt.
Die Frau sank vor Entsetzen in einen Zustand der Empfindungslosigkeit. Das war uns lieb. Ich dachte an ihren Mann, an ihren Sohn, an den jungen Indsman. Ich wußte, seit ich die Zeichnung besaß, wo die Genannten zu finden seien — dort an dem Berge, an welchem die Windhose in sich zusammengestürzt war, weil er als ein unüberwindbares Hindernis in ihrem Wege gelegen hatte. Wie aber mochte sie geendet haben? Jedenfalls wie eine sterbende Gigantin, welche im Todeskampf alles zermalmt, was in den Bereich ihrer Hände kommt. Es erwarteten uns dort vielleicht schreckliche Szenen, welche wir ihr ersparen wollten. Als sie aber hörte, daß wir ihren Sohn suchen wollten, erhielt sie ihre Thatkraft zurück. Es half weder Bitten noch Zürnen; wir durften sie nicht zurücklassen. Sie stieg auf und ritt mit.
So plötzlich, wie der Regen losgebrochen war, hellte es sich auch wieder auf. Die Wolken waren verschwunden, wie weggezaubert, und die Sonne lachte vom Himmel herab, als ob gar nichts geschehen sei.
Aber wie sah es auf dem Wege aus, welchen wir einzuschlagen hatten! Wohl über sechzig Meter breit war die Bahn, welche die Trombe hinter sich gezeichnet hatte. Aller Pflanzenwuchs war wie wegrasiert. Sie hatte Löcher gerissen und wieder mit Trümmern gefüllt. Und weit, weit rechts und links über die Bahn hinaus lagen die Blöcke, Steine, Sträucher und sonstigen Massen, welche sie von sich geschleudert hatte.
Und nun gar am Berge; wie sah es da aus! Bereits von weitem erblickten wir die Verwüstung. Der Strauchwuchs war aus der Erde gerissen, emporgewickelt, in unentwirrbare Knäuel zusammengedrückt und rechts und links hinweggeschleudert worden. Die Windhose hatte sich eine weite Strecke längs des Berges hin einen Ausweg gesucht und im Grimme darüber, ihn nicht finden zu können, alles Leben in Tod verwandelt. Die nackt gelegten Felsen hatten das Aussehen tief eingehauener Steinbrüche. Die Platanen, über welche ich mich im Vorüberreiten so gefreut hatte, waren kaum mehr zu erkennen. Mannsstarke Stämme lagen, samt den Wurzeln aus dem Boden
gerissen, da; Aeste von der Stärke eines Kindes waren wie Taue zusammengedreht worden. Die größte der Platanen hatte alle ihre Hauptäste eingebüßt. Sie bot mit ihren tiefen und lang geschlitzten Rißwunden einen bejammernswerten Anblick. Wo aber waren — — ah, da drüben stand ein indianisch gesatteltes Pferd, ein Rotschimmel, an einem gewaltigen, chaotisch verfitzten Gesträucherballen, an dessen Blättern es lüstern knabberte. Das war das Pferd des „kleinen Hirsch“. Wo das Tier war, mußte auch der Besitzer sein.
Wir ritten hin, und siehe da: Eine mächtige Platane war ausgerissen worden; im Umstürzen hatte sie mit den zähen, unzerreißbaren Wurzeln den ihr bisher gehörigen Grund und Boden emporgewuchtet. Unter diesem ungeheuren Wurzelballen gähnte ein breites, tiefes, höhlenartig nach innen verlaufendes Loch. Und da saßen der blonde Joseph und der junge Apache, von den Wurzeln wie von einem für den Regen undurchdringlichen Dach beschirmt. Sie lachten uns vergnügt entgegen. Die Mutter stieg in Eile hinab, den Sohn an ihr Herz zu drücke. Der Apache aber sprang herauf und fragte:
„Glauben nun meine weißen Brüder, daß ich das Anzeichen des ‚sehr hungrigen Windes‘ kenne?“
„Wir glauben es,“ antwortete ich. „Wie aber habt ihr euch gerettet?“
„Der ‚kleine Hirsch‘ hatte sein Pferd tief im Gebüsch versteckt. Er holte es und setzte sich mit dem blauäugigen Bleichgesichte darauf, um dem Winde zu entfliehen. Als dieser sich gesättigt hatte, ritt Ischarshiütuha hierher und fand, was er mit dem kleinen Bleichgesichte seit drei Tagen gesucht hatte.“
„Du bist mit Joseph heimlich zusammengekommen?“
„Ja. Er ist der Sohn des Mannes mit den Beuteln, welcher hier ermordet wurde. Komm und siehe, wo die ‚brennende Pfeife‘ die Nuggets vergraben hatte.“
Er führte uns an die andere Seite des Wurzelballens. Dort war in der Nähe des Stammes die Erde auseinander geborsten, und wir erblickten zwei allerdings vom Moder weißgrau gewordene Ledersäckchen, welche sich bei näherer Besichtigung als mit Goldstaub und Goldkörnchen gefüllt erwiesen. Joseph wußte bereits alles. Als nun seine Mutter erfuhr, was ich bereits erraten hatte, die Ermordung ihres ersten Mannes, wollte sie vor Jammer in die Kniee brechen. Einen Trost bot freilich der unerwartete Besitz des wertvollen Metalles, doch war es ihr fast unmöglich, an denselben zu glauben. Auf ihre Fragen erzählte der Indianer:
„Der ‚brüllende Stier‘ war mein Vater. Er machte sich mit der ‚brennenden Pfeife‘, seinem Bruder, auf, um den großen Vater der Bleichgesichter 1 zu besuchen und ihm die Wünsche der Apachen mitzuteilen. Die beiden Häuptlinge ritten nach Westen. Sie kamen dazu, wie drei Bleichgesichter einen Weißen ermordeten, weil er Gold gefunden hatte. Zwei von den Mördern waren das ‚böse Auge‘ und die ‚stehlende Hand‘; den dritten kannten sie nicht. Sie straften den Mord und töteten das ‚böse Auge‘ und den dritten. Die ‚stehlende Hand‘ entkam, nachdem sie meinen Vater erschossen
hatte. Die ‚brennende Pfeife‘ folgte ihm, nachdem sie das Gold vergraben und die Leiche des ‚brüllenden Büffel‘ zu sich aufs Pferd genommen hatte, konnte ihn aber nicht erreichen. ‚Brennende Pfeife‘ begrub den Bruder da, wo ich ihn in zwei Tagen finden werde, und ritt allein nach Washington. Der Bruder mußte gerächt werden; ich mußte ihn rächen, denn ich bin sein Sohn. Aber es verging eine lange Zeit, weil ich noch klein war. Dann aber machte ich mich auf, um mir den Skalp des Mörders zu holen, denn dann bin ich ein Krieger und darf ein Feuerrohr tragen. Der Mörder wohnte in der Hütte des Ermordeten; er hatte das Weib desselben zu seiner Squaw gemacht; dadurch wurde die Hütte sein Eigentum und er konnte nach dem Schatze suchen.“
Als die Frau diese Eröffnung vernahm, stieß sie einen Schrei des Entsetzens aus und fiel in Ohnmacht. Ihr zweiter Mann war der Mörder des ersten.
„Nun sollt ihr die ‚stehlende Hand‘ sehen,“ sagte der Apache. „Folgt mir!“
Joseph blieb bei seiner besinnungslosen Mutter zurück, welcher wir die Besinnungslosigkeit wohl gönnten. Salters und ich folgten dem Indianer zu der großen Platane. Dort lag Rollins an der Erde unter einem der wohl drei Fuß im Durchmesser haltenden Hauptäste, welcher auf ihn gefallen war und ihm die Beine bis herauf an den Leib vollständig zermalmt hatte.
„Hier liegt er,“ sagte der Apache. „Ich wollte mir seinen Skalp holen; aber der große Geist hat ihn gerichtet. Ich nehme nur den Skalp eines Mannes, den ich besiegt habe. — Diesen hier hat der Zorn des gerechten Manitou erschlagen, an demselben Orte, an welchem er den Mord beging. Verstehest du nun die Schrift, welche ich dir zu lesen gab?“
„Vollständig,“ antwortete ich.
„‚Brennende Pfeife‘ kann nicht schreiben. Er hat die Schrift von dem großen Häuptling Winnetou machen lassen, dem er alles erzählte. Du bist der Bruder dieses berühmten Kriegers, und darum will ich dir die Schrift schenken. Siehe, der Elende öffnet die Augen. Vielleicht kannst du noch mit ihm sprechen. Ich aber gehe; er ist der Mörder meines Vaters; ich hätte ihn getötet, aber sein Wimmern mag ich nicht hören. Der rote Mann hat auch ein Herz, gerade wie das weiße Bleichgesicht; er will schnell strafen, aber nicht langsam martern.“
Er kehrte zu Joseph und dessen Mutter zurück. Wir aber hatten noch eine schlimme Viertelstunde zu überstehen, die Sterbeminuten des Mörders. Das Bewußtsein kehrte ihm zurück; er fühlte, daß der Tod ihm nahe sei und gestand alles. Zwar fehlte ihm die Kraft zur zusammenhängenden Rede, aber konnte unsere Fragen doch mit Ja oder Nein beantworten. So erfuhren wir, was wir uns eigentlich selbst schon ergänzen konnten.
Er hatte bemerkt, daß der ihn verfolgende „brüllende Stier“ die Nuggets nicht bei sich führte, sie also vergraben hatte. Er führte den Indianer irre und kehrte nach dem Schauplatz des Ueberfalles zurück. Dort machte er unter
vieler Mühe ein Loch für die Leichen, damit der Mord ein Geheimnis bleibe. Einige Tage später schoß er auch noch den Bruder des Ermordeten nieder, um sich bei der Frau als willkommener Beschützer einführen zu können. Dann konnte er in aller Bequemlichkeit nach dem Golde suchen. Es gelang alles, nur die Hauptsache nicht: er konnte die Nuggets nicht finden. Der Durst nach dem Golde und die Qualen seines Gewissens brachten ihn dem Wahnsinn nahe. Er litt keinen Fremden, damit ja nicht durch irgend einen Zufall etwas entdeckt werde. So waren Will und ich abgewiesen worden, und so hatte er auch den „kleinen Hirsch“ fortgejagt, welcher sich lahm stellte, um unter diesem Vorwande bei ihm Eintritt zu erhalten.
Gott richtete ihn nach seiner Allgerechtigkeit. Gerade jetzt lag der Mörder auf der Stelle im Sterben, unter welcher die Gebeine der von ihm Verscharrten lagen, und noch in seinen letzten Augenblicken mußte er von uns erfahren, daß das so lange vergebens gesuchte Gold gefunden worden und in die Hände des von ihm gehaßten Knaben komme.
Und doch verfuhr der Barmherzige noch gnädig mit ihm: Die zermalmten Glieder verursachten ihm keine Schmerzen; er schlief ein, ohne einen Seufzer auszustoßen. —
Wir meldeten seinem Weibe das Geschehende. Sie mochte ihn nicht sehen und that recht daran. Wir Zwei haben ihm das Grab gemacht und ein Vaterunser über demselben gebetet.
Der „kleine Hirsch“ ritt bald von dannen. Er ließ sich nicht halten. Und als die schwer geprüfte Frau ihm einen Teil des Goldes anbot, sagte er stolz:
„Behalte deinen Staub. Der Apache weiß, wo Gold in Menge zu finden ist, aber er sagte es keinem Menschen und verachtet es. Der große Geist hat den Menschen erschaffen, nicht daß er reich, sondern daß er gut werde. Möge er dir von nun an soviel Glück geben, wie du bisher Leid erfahren hat!“
Er stieg auf und ritt von dannen.
Am andern Vormittag verließen auch wir die Gegend, Joseph und seine Mutter mit uns nehmend. Der alte Gaul trug das Gold, der Fuchs die Lady und mein Brauner den Knaben; Will und ich schritten nebenher. Im nächsten Settlement, wo Mutter und Sohn eine bessere Reisegelegenheit abwarten konnten, nahmen wir Abschied von ihnen, denen die Windhose so schlimme Aufklärung, dafür aber auch die Mittel zu einer besseren Existenz gebracht hatte.
Und was aus Joseph und dem „kleinen Hirsch“ geworden ist? Der Apache ist jetzt ein berühmter Krieger, und aus dem blauäugigen Joseph ist, so jung er noch ist, ein tüchtiger Regierungsbeamter geworden, welcher vor nicht gar langer Zeit im Felsengebirge ein höchst wundersames Wiedersehen mit dem „großen Hirsch“ gefeiert hat. Doch davon vielleicht das nächste Mal! — — —