Ibn el ’amm.
Von P. van der Löwen.
Es war ein ziemlich langer Zug von Habanié-Arabern und Fohri-Negern, welcher sich im Wadi Salamat gegen die Berge des Dschebel Marra bewegte. Alle
diese schwarzen oder tiefbraunen Männer saßen auf Eseln, denn im Sudan ist das „Schiff der Wüste“ nicht zu Hause.
Voran ritt der tapfere Rakab es Seraf, zu deutsch Giraffenhals, welchen Namen er wegen der ungewöhnlichen Länge seines Halses erhalten hatte. Er war ein Sendbote des Mahdi und wollte seine Schar dem Schwager desselben, dem bekannten Schech El Obed zuführen.
Wegen der nächtlichen Kühle war die Karawane bereits vor Sonnenaufgang aufgebrochen; der Tag war noch nicht erschienen, und so hatten die Gläubigen ihr Morgengebet noch nicht gesprochen.
Da trieb Es Ssaghir, der „Kleine“, sein Tier an die Seite des Führers. Er verdankte diesen Namen seiner Zwerggestalt, war aber als ein mutiger Mann bekannt und ritt das einzige Pferd der Karawane, eines jener berühmten Garbani, welche über den Tsadsee nach dem Osten gebracht werden.
„Schau!“ sagte er, nach vorwärts deutend, wo zwischen den auseinandertretenden Felsenhöhen sich ein lichter Streifen des Horizontes sehen ließ, „es naht die Morgenröte, die Zeit, in welcher Saba-Bey den größten Hunger hat. Wollen wir nicht vorsichtig sein und lieber lagern, bis er wieder zu Bett gegangen ist?“
Saba-Bey ist der Löwe. Der Bewohner jener Gegenden scheut sich, den Namen des Löwen laut zu nennen. Er denkt, das Tier hört es und wird dadurch herbeigerufen. Darum machte Rakab es Seraf sofort eine warnende Handbewegung und antwortete leise:
„Dachel Allah — um Gottes willen! Sprich nicht so laut, sonst kommt der Herr des Erdbebens gerannt, und holt uns beide aus dem Sattel! Er soll sein Lager hier in der Nähe haben; darum müssen wir ganz heimlich vorüberreiten. Sage den Leuten; daß sie kein Geräusch machen dürfen und die ersten Worte der achtundvierzigsten Sure beten sollen!“
Es Ssaghir richtete den Befehl aus, und bald flüsterte jede Lippe:
„Wahrlich, dir ist ein großer Sieg verliehen; auf daß dir Gott alle deine Sünden vergebe und seine Gnade an dir vollende und dich leite auf den richtigen Weg und dir beistehe mit seinem mächtigen Schutze.“
So zog die Karawane möglichst geräuschlos weiter. Die Ufer des jetzt wasserlosen Wadi (Flußbett) hatten sich wieder verengt. Sie stiegen steil empor und verschlossen mit einer scharfen Krümmung den Reitern die Aussicht nach vorn.
Da plötzlich erscholl jenes tiefe Brüllen, welches röchelnd beginnt, schnell zu fürchterlicher Stärke anschwillt und dann sich in ein donnerartiges Rollen verliert — das Brüllen eines Löwen. Der Araber nennt es Rad, d. i. Donner, und bezeichnet den Löwen als den „Herrn des Erdbebens“.
Alle, Menschen und Tiere, erzitterten.
„Allah akbar, Allah kerihm — Gott ist groß, Gott ist gnädig“ rief es durcheinander. „Kawahm, kawahm — schnell, schnell, reitet Galopp!“
Im nächsten Augenblicke sausten die Reiter im Carriere dahin, daß die beladenen
Packtiere, welche sie bei sich hatten, kaum zu folgen vermochten. Die Stimme des Löwen hatte ein mehrfaches Echo erweckt, so daß man nicht genau wußte, von woher sie erschollen war, ob von vorn, von hinten oder von einem der zu beiden Seiten aufstrebenden Felsenufer.
Als die fliehenden Reiter die Krümmung hinter hatten, wurde das Wadi breiter, und vorn, wo sich das linke Ufer senkte, sah man die ersten Strahlen der Morgenröte erglühen. Das ist die Zeit des Fatscher, des ersten Gebetes, welches kein wahrer Gläubiger versäumen oder später vornehmen darf. Darum hielt Rakab es Seraf trotz der Angst, in welcher sich alle befanden, sein Reittier an und rief mit lauter Stimme:
„Haï es sallah — auf zum Gebete! Esch schems, das Licht des Tages, beginnt emporzusteigen. Gebt Allah die Ehre, der sie und uns geschaffen hat!“
Er sprang vom Esel, und die anderen folgten seinem Beispiele. Er kniete nieder, das Gesicht nach Mekka richtet, machte mit den Händen die Bewegungen des Waschens und betete laut die erste Sure des Korans, welche ihm die anderen nachsprachen.
Die Tiere standen schnaufend still, die Packesel in der Nähe eines stachelreichen Mimosengebüsches, welches am Fuße des linken Ufers stand, da wo eine enge Seitenschlucht in den Felsen lief. Sie waren höchst unruhig und zitterten unter ihren Lasten, was aber die frommen, eifrigen Beter nicht beachteten.
In vielstimmigem Chor erscholl das Gebet:
„Im Namen des allbarmherzigen Gottes! Lob und Preis sei Gott, dem Weltenherrn, dem Allerbarmer, der herrschet am Tage des Gerichtes. Dir wollen wir dienen, und zu dir wollen wir flehen, auf daß du uns führest den rechten Weg, den Weg derer, die deiner Gnade sich erfreuen, und nicht den Weg derer, über welche du zürnest, und nicht — — —“
Weiter kamen die Knieenden nicht in ihrem Gebete. In dem erwähnten Mimosengebüsche hatten gleich am Anfange leise Bewegungen stattgefunden, und jetzt, in diesem Augenblicke, erscholl das entsetzliche Brüllen abermals aus unmittelbarster Nähe, und zwar nicht einfach, sondern aus den Kehlen mehrerer Löwen.
Einen Augenblick lang herrschte die tiefste Stille. Die Männer waren wie vor Schreck erstarrt. Dann sprang der Neger Er Rih als der erste vom Boden auf und schrie:
„Ma uhna, ma uhna, madad — zu Hilfe, zu Hilfe! Reißt aus, reißt aus!“
Er rannte davon. Aber donnernd ertönte die Stimme des Führers und Vorbeters Rakab es Seraf:
„— — — und nicht den Weg der Irrenden!“
Er vollendete also als echter Muselman, welcher an das Kismet glaubt, trotz der ungeheuren Gefahr sein Gebet, und dieses Beispiel wirkte so, daß alle ihm diese Worte noch nachsprachen. Freilich geschah das nicht in andächtiger Ruhe, sondern sie waren
auch aufgesprungen und rannten vor Angst wirr durcheinander.
Diese Angst hatte freilich ihre volle Berechtigung, denn ein ungeheurer Löwe hatte sich in mächtigem Sprunge auf einen der Packesel geworfen, ihn niedergerissen und zermalmte ihm krachend mit einem einzigen Bisse das Genick; eine Löwin, die ihm an Mächtigkeit der Glieder fast nichts nachgab, warf sich eben auf einen zweiten Esel, welcher ihr mit einem angstvollen Satze entgehen wollte, und ein zweiter, schon ganz ausgewachsener männlicher Löwe trat in demselben Augenblicke aus dem Gebüsch hervor und stieß, sein Opfer wählend, in stolzer, selbstbewußter Haltung ein tiefes, herausforderndes Brüllen aus. Im Hintergrunde schlich eine junge, doch sehr starke Löwin sich an ein anderes Packtier heran, welches vor Furcht der Gefahr gerade entgegengerannt und in das Gesträuch hineingesprungen war.
Dem furchtsamen Neger Er Rih war es ebenso ergangen. Er rannte wie besessen gerade auf den alten Löwen zu und erhielt dabei von einem der Esel, welcher hinten so hoch und kräftig ausschlug, daß sein schweres Gepäck aus dem Sattel geschleudert wurde, einen solchen Schlag an die Brust, daß er zu Boden stürzte. Im nächsten Augenblicke warf sich der Löwe auf ihn.
Die wilde Scene, welche der gegenwärtige Moment bot, spottet jeder Beschreibung. Menschen und Tiere rannten wirr durcheinander. Die ersteren wurden umgerissen und gerieten unter die Hufe der letzteren. Wer eine Stimme hatte, rief, schrie, brüllte, jammerte und zeterte aus Leibeskräften. Der Bewohner des Südens ist nicht so kaltblütig und geistesgegenwärtig wie der Nordländer. Daß nach Art und Weise der berühmten Löwenjäger Jules Gérard und Gordon Cumming ein einzelner Mann sich mutig und selbstvertrauend mit sicherer Büchse dem König der Tiere entgegenstellt, das ist ihm etwas Unerhörtes und Unbegreifliches. Zudem waren die Männer der Karawane nur mit alten Lunten- oder Steinschloßflinten bewaffnet, also höchst ungenügend solchen Tieren gegenüber.
Nur zwei hatten ihre Besinnung nicht verloren, nämlich der tapfere „Hals der Giraffe“ und Es Ssaghir, der Kleine. Der letztere sprang auf sein Pferd, um von allen gesehen zu werden, und rief mit schallender Stimme:
„Flieht nicht, ihr Männer, ihr Helden! bleibt stehen, ihr Schurken, ihr Feiglinge, ihr Hunde! Nehmt eure Waffen, ihr Lieblinge, ihr Tapfern, ihr Elenden! Schießt auf den Ibn el ’amm! Er ist gekommen mit seiner Frau und sein beiden Kindern, um uns und unsere Esel zu fressen. Allah jenahrl hasa schejtan — Allah verdamme diesen Teufel!“ —
Ibn el ’amm heißt „Vetter väterlicherseits.“ So wird der Löwe genannt, wenn man sich scheut, das eigentliche Dingwort auszusprechen.
Der Kleine galoppierte auf den Alten zu, sprang vom Pferde, hielt ihm, der dem Neger eben den Kopf zerbiß, die Mündung
des Gewehres gerade vor das Auge und drückte los, sprang dann aber augenblicklich weit zur Seite. Das mächtige Tier zuckte zusammen, blieb ein Augenblick lang unbeweglich, fiel dann auf die Seite und streckte die Glieder — es war tot.
Ein unbeschreiblicher Jubel erhob sich. Das Beispiel des Kleinen wirkte. Die Fliehenden sammelten und rüsteten sich zum Angriffe.
„Der Ibn el ’amm ist tot! Hamdullillah — Allah sei Preis!“ schrieen die Leute. „Tötet seine Frau und seine Kinder! Schießt die ganze Sippschaft tot!“
Einer schob den andern voran; die Lunten begannen zu rauchen; Schüsse krachten; Kugeln pfiffen. Natürlich traf unter zwanzig nur eine; aber es war Fieber des Kampfes über die Leute gekommen, und sie glaubten ja alle, daß Allah ihre Schicksale im Buche des Lebens verzeichnet habe. Sie hielten sich also wacker.
Freilich gab es einen gräßlichen Kampf. Mehrere der Leute wurden von den Tieren getötet, viele schwer oder leicht verwundet, endlich aber lagen doch die Löwen mit arg zerschossenen Fellen tot auf der Walstatt. Keiner der Angreifer, Es Ssaghir den Kleinen ausgenommen, konnte behaupten, daß er den tödlichen Schuß gethan habe, sondern die Frau und die Kinder des „Vetters väterlicherseits“ waren wohl am Blutverluste verendet, der eine Folge der zahlreichen Verwundungen war.
Nun fielen die Sieger über die Besiegten her, rauften sie, traten sie mit Füßen, spuckten sie an und gaben ihnen alle erdenklichen Schimpfnamen, an denen die arabische Sprache ja so reich ist.
Die Toten wurden mit Steinen zugedeckt, damit sie nicht von El Büdj, dem gewaltigen Bartgeier verzehrt werden könnten, und die Verwundeten verbunden. Die Felle der drei Löwen wurden in so viele Stücke zerschnitten, daß jeder Sieger eins derselben als Andenken erhalten konnte. Es Ssaghir aber erhielt die Haut des Ibn el ’amm, den er ja allein erlegt hatte. Es war eine Trophäe, unter deren Schwere sein Packtier weidlich zu schwitzen hatte. Die anderen trugen leichter. —
Als die Karawane dann später an ihrem Bestimmungsorte ankam, wurde das Abenteuer natürlich in allen Tönen ausposaunt.
Als der Mahdi Mohammed Achmed davon hörte, meinte er:
„Dieser Neger Er Rih ist wie die Luft gewesen, feig und schnell zur Flucht. Er hat sterben müssen, weil er sein Gebet nicht beendete. Er wird beim jüngsten Gericht von der Brücke der Prüfung hinunter in die Hölle stürzen. Rakab es Seraf aber ist ein wackerer Führer. Ich werde ihn zum Mulasim 1) erheben. Und der Held Es Ssaghir ist klein von Gestalt aber groß von Mut. Er soll in meine Leibwache treten und den Ehrennamen Abu el bundukija, Vater der Flinte, führen, bis Allah ihn von hinnen ruft. Fi aman Allah — Gott schütze ihn!“ — — —