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Die verhängnißvolle Neujahrsnacht.

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Humoreske von Karl May.

     

In Birkenstein war gestern Sylvester, und darum schreibt man in Brei­tenfeld heut den ersten Januar. In Birkenstein hat es seit Men­schen­gedenken kein solches Schnee­ge­stö­ber gegeben wie heut, und in Brei­tenfeld fällt der Schnee so groß­flockig und dicht, daß er Einen [Ei­nem] förmlich die Augen zustößt. In Birkenstein ist Neumond; darum brennt am Thorwege des Gasthofes zum „blauen Löwen“ die einzige Laterne des Ortes, und in Breitenfeld hat man denselben Kalender; darum ist die dortige „Einzige“ vor dem „Hotel de Sellerie“ auch in Brand gesteckt worden.

Diese beiden Lichtspenderinnen verdanken ihr Dasein der unbegreiflichen Existens eines alten, ausgeleierten Stellwagens, welcher von Tag zu Tage bis Abends Punkt Elf vor dem „Sellerie“ steht. Um diese Zeit spannt Hans die Pferde vor, steigt auf den Bock und kutschirt zur Stadt hinaus, beim „wilden Manne“ vorüber bis nach Birkenstein vor den „blauen Löwen,“ wo er bis ein Uhr ausruhen darf, um dann mit frischen Kräften den Weg zurückzulegen.

Allerdings liegt eben keine bewundernswerthe Weisheit darin, den Omnibus grad zu einer Zeit loszulassen, in welcher es keinem vernünftigen Menschen einfallen wird, ihn zu benutzen, aber die beiden Orte liegen einander in den Haaren vom Bürgermeister bis zum Nachtwächter herab, versäumen keine Gelegenheit, sich alle mögliche Liebe und Dankbarkeit zu erweisen und haben es glücklich so weit gebracht, daß die wurmstichige Beförderungsmaschine nicht über ihr Vermögen angestrengt

wird. Diese nachbarliche Freundschaft feiert ihre schönsten Triumphe im „wilden Manne,“ welcher grad auf halbem Wege zwischen Birkenstein und Breitenfeld liegt und wo die beiderseitige Jugend sich an jedem Sonn- und Festtage bei Musik und Tanz versammelt, um sich am Schlusse des Vergnügens noch ein Wenig bei den Ohren zu nehmen.

Ganz draußen, im letzten Hause Birkensteins, wohnt der ehrsame Tischlermeister und Nachtwächter Bergmann. Trotz des heutigen Feiertages sitzt seine Frau emsig am Spinnrade und arbeitet, als gelte es, sich vom Bettelstabe zu retten. Das ist von je her so ihre Art und Weise gewesen, die auch von ihrem Eheherrn so treulich befolgt worden ist, daß sie etwas Schönes vor sich gebracht haben. Lange Zeit ist in der Stube Nichts vernehmlich gewesen, als nur das Schnurren des Rades; jetzt aber ertönt ein kräftiges Gähnen hinter dem mächtigen Kachelofen hervor:

„U — aaah! U — aaah! — — Hanne!“ ruft es mit schnarrender Stimme.

„Was denn?“

„Gucke doch’ mal an die Uhr, welche Zeit es ist!“

„Grad halb Zehn. Ich wollte Dich eben wecken.“

„Halbzehne schon! U — aaah! — Ist der Kaffee fertig?“

„Er steht schon seit einer Stunde in der Röhre.“

„Da wird er auch schöne schmecken! Und die Flasche?“

„Sie ist voll: ein Nösel Nordhäuser und für sechs Pfennige Rum hinein.“

„Gut! Es ließe sich sonst gar nicht aushalten bis früh um Viere! Gieb mir meine Filzschuhe her!“

Die Frau zieht die verlangten Zehenwärmer von den Füßen und fackt sie über die Stube hinüber bis an das Kanapee. Dann spinnt sie in bloßen Strümpfen ruhig weiter. Nun knarrt, rasselt und stöhnt das alte Lager, als wolle es aus allen Fugen gehen; zwei lange dürre Beine schieben sich hinter dem Kachelgebäude hervor; ihnen folgt eine undefinirbare Panzerform, aus welcher ein Paar hagere Arme um sich greifen; dann kommt ein stoppeliger Schwarzdornbart, überragt von einer Nase, an welcher der Nordhäuser ein wahrhaft überwältigendes Exempel statuirt hat, und endlich steht er da, fährt mit den Füßen in die Schuhe, wirft einen prüfenden Blick nach dem braungeräucherten Zifferblatt und

bringt sich darauf mit einem einzigen Schritte seiner Stacketenbeine bis vor die „Röhre,“ aus welcher er die Mokkakanne zieht, um sich der lieben Cigorie mit einem solchen Eifer hinzugeben, daß er dem erquickenden Inhalte der Kanne gar bald auf den Grund gekommen ist. Darauf erhebt er sich, um seine Wächtergarderobe anzulegen und dabei aus dem steifen Panzer zu fahren, der seine Vorderseite kugeldicht in Verwahrung nimmt. Diese räthselhafte Schildkrötenschale ist nämlich früher einmal eine blaue Leinwandschürze gewesen; da aber die Hausfrau mit dem Ausbessern der Löcher zu viel Zeit versäumt, so ist der praktische Tischlermeister auf den glücklichen Gedanken gekommen, sich selbst zu helfen und die Flickflecken gleich aufzuleimen. Aus diesem Grunde durfte die Schürze niemals einer Wäsche unterworfen werden, was der Nachtwächterin allerdings nicht unangenehm war, und so kam Flecken immer wieder auf Flecken, bis ein Harnisch fertig wurde, den die Franzosen anno Siebzig getrost einer ihrer Panzerlocomotiven hätten umhängen können.

„Wo ist denn eigentlich der Fritz?“

„Frage ihn selbst! Mir sagt er Nichts wenn er fortgeht.“

„Ja, der Junge fängt an, uns über den Kopf zu wachsen. Denke dir [Dir] nur, er will von der Nachtwächterei Nichts wissen! Das hat er mir heut Nachmittage gradezu ins Gesicht gesagt.“

„Mir wär’s schon recht!“

„Was?! Fast dreihundert Jahre lang ist das Amt in unsrer Familie vom Vater auf den Sohn übergegangen; wir sind stolz darauf gewesen, haben Ehre und Nutzen davon gehabt, und nun soll das Alles auf einmal alle sein? Daraus wird Nichts! Der Fritz wird Nachtwächter; ich wills, der Bürgermeister wills, die ganze Gemeinde wills!“

„Aber er selber wills nicht, und darauf kommt es doch wohl am Meisten an.“

„Oho, der wird gar nicht gefragt! Das wär mir eine Geschichte, wenn das schöne Amt an einen Andern kommen sollte, und Niemand hätte ein solches Gaudium darüber wie der Grundmann in Breitenfeld! Wenn ich Dem sein schadenfrohes Gesicht zu sehen bekäme, müßte ich mich im Grabe umdrehen. Der Kerl kennt schon so kein größeres Vergnügen, als uns schlecht zu machen; er ist der Allerschlimmste in dem dummen Neste da drüben, wo Einer

immer eingebildeter ist als der Andre, und weil er zuweilen einen nichtsnutzigen Reim zusammenschmiedet, den er vor den Fenstern singt, so hält er sich für einen großen Ingenius. Der platzt ganz gewiß noch vor lauter Hochmuth mitten entzwei; er ist ja dick genug dazu, der Schmeersack, der Hornduter, der Verseschneider, der Dichterich!

„Da mache es doch grade so wie er! Ein hübscher Reim, der auf die Leute paßt, bringt allemal ein Trinkgeld; und das können wir gebrauchen, wenn unser jetziges Hundert bald voll werden soll.“

„Du hast gut reden! Wo soll ich denn die Reime hernehmen? Etwa aus den Hobelspähnen, he? Als der neue Pastor eingezogen war, da wollte ich einen machen, der fing an:


„Der Pastor steht nun in der Kirche

Und predigt auf der Kanzel;“


so weit habe ich ihn fertig gebracht; aber ich habe kein einziges Wort gefunden, was sich auf die Kirche reimt, und auf die Kanzel giebt es erst recht keins. Ich bin von dem vielen Nachdenken ganz confus im Kopfe geworden und habe mir gleich vorgenommen, nie wieder einen Reim anzufangen.“

„Das ist Dir schon recht! Wenn Du mir nur ein Wort davon gesagt hättest, so wäre das Gedicht fertig geworden. Meiner Mutter ihrem Schwager sein Pathe ist Schulmeister gewesen, und da kannst Du Dir wohl denken, daß ich auch nicht auf die Nase gefallen bin!“

„Du? Na, den Reim hätte ich sehen mögen!“

„Was, du [Du] willst es nicht glauben? Warte, ich will es Dir beweisen! Kirche — Kanzel — Kirche — Kanzel — Nachbars Jürge — Richters Hansel — Na, was sagst du [Du] jetzt?“

„Alle Wetter, Alte; du bist wirklich nicht ganz so dumm, wie ich immer gedacht habe! Nun ist mir auf einmal geholfen, und der Grundmann soll sich todt ärgern. Hanne, gleich morgen geht es los: Du machst die Reime, und ich singe sie; aber die Leute müssen denken, daß ich sie selber gemacht habe. Jetzt soll mir der Fritz erst recht Nachtwächter werden; es ist ja immer mein bester Triumph gewesen, daß es mit den Grundmanns nun aus ist, bei ihnen giebt es keinen Jungen, sondern blos ein Mädchen, nämlich die Liese, das eingebildete, verzogene Ding.“

„Aber hübsch ist sie und brav und arbeitsam dazu.“

„Ja, lobe sie nur! Ich weiß es schon lange, daß Du mit dem Jungen unter einer Decke steckst. Aber macht Euch nur keine Pläne ohne mich. Kannst Du Dir denn eine größere Schande denken, als wenn ein Bergmann eine Grundmann heirathet? Und dabei ist der Nichtsnutz ganz gewiß nach dem „wilden Manne“ gelaufen und läßt sich von dem Mädchen den Kopf vollends verdrehen! Könnte ich nur fort, ich wollte die Beiden beliebeln, daß ihnen Hören und Sehen vergehen sollte. Aber ich heiße nicht umsonst Berg mann, und ich werde Euch schon zeigen, wer Herr im Hause ist, nämlich der Mann oder die Frau und der Junge! — Jetzt schlägt es Zehn, und ich muß fort. Gute Nacht!“ — —

Und ganz draußen, im letzten Hause Breitenfelds wohnt der ehrsame Schneidermeister Grundmann. In dem kleinen, traulichen Stübchen ist Alles so sauber und blitzeblank, als sei die Wirthschaft eben erst im Laden gekauft worden, und wer nun gar in die vollen, runden Gesichter der beiden Leute blickt, welche hier ihr Wesen treiben, dem kann es nicht entgehen, daß in dem kleinen, einstöckigen Häuschen Glück und Zufriedenheit ihre Wohnstätte aufgeschlagen haben.

Dort im Großvaterstuhle am Ofen sitzt der Hausvater, gehüllt in einen weiten, großgeblumten Schlafrock, mit größtem Wohlbehagen den Duft einer Cigarre genießend, die er sich aller Augenblicke unter die Nase hält. Er will von dem Viertelhundert, welches ihm der heilige Christ gebracht hat, nur Sonn- und Feiertags eine rauchen und hat sich ganz genau ausgerechnet, daß der Vorrath dann grad bis zum zweiten Pfingstfeiertage reicht. Mit liebevollen Blicken verfolgt er die Bewegungen seiner Frau, welche im Begriff steht, den Tisch mit einem weißen Tuche zu bedecken und dann Tassen und Teller darauf zu stellen.

„Höre, Mutter, wo ist denn eigentlich unser Lieschen hin?“

„Ja, weißt Du, Vater,“ antwortet das rührige Weibchen, „das darf ich Dir gar nicht sagen, weil Du ganz gewiß bös darüber wirst, denn wo der Bergmann in das Spiel kommt, da — — —“

„Aha,“ fällt er ihr in die Rede; „da ist sie wohl mit

dem andern jungen Volke wieder einmal hinaus zum „wilden Manne“ gegangen, wo der Fritz niemals fehlt, wenn die Liese zu erwarten ist?“

„Errathen!“ nickte die Frau. „Du schliefst so fest und gut, und da habe ich ihr an Deiner Stelle die Erlaubniß gegeben. Ist es recht gewesen, Vater?“

„Warum denn nicht? Wir waren ja auch ’mal jung und sind der Geige nachgelaufen, so oft es sich nur möglich machen ließ. Freilich ist das Wetter seit dem Nachmittage schlimmer geworden; es ist ja so finster draußen wie in einem Kartoffelsacke, und der Schnee stürzt in ganzen Wolken vom Himmel. Aber was fragt man nach solchen Dingen, wenn man neunzehn Jahre zählt und — —“ setzt er mit pfiffiger Miene hinzu — „einen Schatz hat, von dem der Vater Nichts wissen soll.“

„Ja ja, Nichts wissen soll! Du wärst mir Derjenige, dem man Etwas verschweigen könnte! Ich glaube, Du hast es noch eher gemerkt als ich; weil Du aber geschwiegen hast, so bin ich auch still darüber gewesen, obgleich ich gern wissen möchte, was Du von der Sache denkst.“

„Das kannst Du gleich zu hören bekommen: Ich mag keinen Bergmann zum Schwiegersohn; diese Leute sind mir viel, viel zu reich und vornehm!“

Das Gesicht der Hausfrau hatte einige Besorgniß zeigen wollen, hellte sich aber bei dem Zusatze sofort wieder auf.

„Spaßvogel, der Du bist! Wohl weil sie dreihundert Thaler auf der Sparkasse haben und wir fünfhundert? Und zu vornehm? Warum denn eigentlich, wenn man fragen darf?“

„Ist es etwa nicht vornehm, wenn der Birkensteiner Nachtwächter nach Stadtmanier mit der Schnarre herumläuft und mich überall einen Hornduter nennt, weil ich bei der alten, guten Weise bleibe?“

„Und Du ärgerst Dich auch ganz schrecklich darüber, Du armer, armer Teufel Du!“

„Ja, ich habe leider einmal so einen ärgerlichen Charakter und falle deshalb jetzt auch ganz und gar vom Fleische!“ lachte er, indem er sich liebevoll mit beiden Händen über das runde Bäuchlein streicht. „Aber Spaß bei Seite, Mutter,

ich will Dir aufrichtig sagen, daß ich gegen den Fritz Nichts habe, obgleich sein Vater es an Feindseligkeiten gegen mich nicht fehlen läßt. Dafür aber kann der Junge nicht; er hat etwas Tüchtiges gelernt, ist lange Zeit in der Fremde gewesen und beträgt sich so gut und anständig, daß man seine Freude über ihn haben muß.“

„Da hast du Recht! Er hat sogar so etwas Vornehmes mit von der Wanderschaft gebracht; wer ihn nicht kennt, der glaubt gar nicht, daß er ein einfacher Tischlergeselle ist.“

„Nicht wahr, so Etwas fällt Euch Weibern gleich in die Augen?! Nenne Du es meinetwegen immerhin vornehm; es ist ganz gut von ihm, daß er sich für sich hält und von den Ausgelassenheiten der Andern Nichts wissen mag. Er ist mir einige Male begegnet und hat dabei die Mütze so tief gezogen und mir so höflich einen „guten Tag“ gewünscht, als ob ich der Herr Stadtrichter selber wäre. So Etwas thut Einem wohl, und ich bin ihm dafür, daß er an die alte Feindschaft nicht denkt, herzlich gut geworden. Auch ich bin gern zur Versöhnung bereit und habe daher stets Alles vermieden, was irgend welches Aergerniß erregen könnte, und wenn trotzdem der alte Bergmann Dinge hervorsucht, die mir gar nicht eingefallen sind, so bin ich nicht Schuld daran. Er freilich wird Feuer und Flamme spucken, wenn er erfährt, daß der Fritz ein Auge auf unsre Liese geworfen hat; wir aber wollen die Sache ruhig abwarten; der liebe Gott weiß ja Alles so einzurichten, daß es sich zum Besten schickt, nicht wahr Mutter?“

„Freilich, freilich, mein Alter! Komm, setze dich herüber an den Tisch; das Essen ist fertig, und wer bei solchem Wetter die ganze Nacht aushalten soll, der kann etwas Warmes schon vertragen.“

„Gut, hier bin ich schon!“ Er folgte ihrer Aufforderung; während des späten Abendbrotes rückt der Zeiger immer weiter vorwärts und steht endlich auf zehn Uhr. Da schiebt Grundmann die Tasse zurück und erhebt sich. Auch die Hausfrau steht auf, um ihm beim Ankleiden zu Diensten zu sein. Er fährt in die dicken, warmen Schneestiefeln, läßt sich die Mützenklappen über die Ohren binden und schmunzelt behaglich, als sie ihm den Pelz an die Arme schiebt.

„So nun gieb mir noch die Fausthandschuhe und das Horn! Ich komme vor vier Uhr nicht wieder, denn es dauert grad eine Stunde, ehe ich einmal herumkomme. Gute Nacht!“

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„Gute Nacht, Vater!“

Er tritt durch die vorsichtig geöffnete Thür hinaus in die stockfinstre Nacht, arbeitet sich bis zur nächsten Straßenecke durch den ellenhohen Schnee und setzt hier das Horn an die Lippen.

„Du — u — u — ut! hat Zehn geschlagen. Lobt Gott den Herrn!“

Hier in dem entlegenen Stadttheile, wo Keiner von den paar Großen wohnt, braucht er sich keine sonderliche Mühe zu geben und kann seine Sache so kurz wie möglich machen. Die Beine hoch emporziehend, steigt er weiter; jeder Schritt ist eine Anstrengung, die ihm trotz der Kälte den Schweiß aus allen Poren treibt, und so ist er froh, als er die zweite Station erreicht, wo er seine musikalische Fertigkeit zu produciren pflegt. Es ist ein Bäckerhaus, vor welchem er steht, und er hört lustiges Stimmengewirr durch die geschlossenen Fensterläden klingen. Er legt das Ohr horchend an einen der Läden und vernimmt den befehlenden Ruf:

„Wo bleibt denn der Quarkkuchen? Ich esse doch keinen andern. Schafft welchen her!“

Sofort setzt er das Horn an:

„Du — u — u — ut! Hat Zehn geschlagen!“ Und langsam und vernehmlich singt er weiter:

„Bewahrt das Feuer und das Licht,

Daß unsrer Stadt kein Schad’ geschieht.

Von Eurem Kuchenschmauß

Schickt mir auch, ’was heraus.

Und liegt der Quark nicht gar zu dick,

So lang’ ich nicht mit einem Stück!“

Der zarte und kunstvolle Reim hat angesprochen, denn man hört fröhliches Lachen erschallen und wenige Augenblicke später öffnet sich die Hausthür.

„Grundmann, alter Schwede, willst Du wirklich ein Stück Quarkkuchen? Komm herein!“

Er schüttelt den Schnee ab und tritt in die Stube, in welcher sich die zahlreichen Freunde einiger junger Familienglieder um eine duftende Groggterrine versammelt haben. Sie alle sind dem beliebten und spaßhaften Nachtwächter gewogen; ein ganzes Dutzend Gläser wird ihm entgegen gehalten, und er ist wirklich gezwungen, jedem Einzelnen gehörig Bescheid zu thun. Dann wird ihm der versprochene Kuchen in die weite Tasche seines Pelzes geschoben und er nimmt dankend Abschied von den freigebigen Leuten.

„Das ist ein schöner Anfang für das neue Jahr,“ brummt er vergnügt vor sich hin. „In zwei Minuten vielleicht fünf bis sechs Glas heißen Grogg getrunken, das ist ein ordnungsliebender Schneidermagen nicht gewohnt. Und wenn es sich gar wiederholen sollte, so weiß ich nicht was daraus werden kann!“

Das feurige Getränk hat ihm eine ganz ungewöhnliche Spannkraft verliehen; er kommt über die nächsten Schneewehen hinweg, er weiß gar nicht wie, und hat die nächste Ecke in der Hälfte der gewöhnlichen Zeit erreicht. Hier steht er vor einer Destillation und Liqueurfabrik, deren Besitzer ihm ganz besonders wohl will. Der muß natürlich seinen Vers haben.

„Du — u — u — ut!“ klingt es durch die Nacht, und die nun ganz gewiß lauschenden Ohren vernehmen den klassischen Vers:

„Hört Ihr Herrn, und laßt Euch sagen,

Die Glocke, die hat Zehn geschlagen.

Bewahrt das Feuer und das Licht

Und vergeßt dabei den Grundmann nicht!

Ein Schneider kann kein Rothschild sein,

Drum schenkt mir Einen gratis ein!“

Kaum ist der Vers beendet, so wird er in das Haus gerufen, in aller Liebe und Freundschaft gezwungen, alle möglichen Liqueursorten zu kosten, von denen eine immer besser schmeckt als die andere. Obgleich er ganz und gar kein Trinker ist, bedarf es doch keiner großen Anstrengung,

den süßen Inhalt der Gläser zu bewältigen, und für den Augenblick ist ihm auch ganz wohl dabei; aber als er wieder auf die Straße tritt, wo Schnee und Kälte ihm entgegenschlagen, da wird es ihm so altconservativ zu Muthe, daß er sich am liebsten gleich auf die Thürschwelle setzen und Denkübungen halten möchte. Aber er stampft trotzdem die Straße hinab bis an den Marktplatz, wo er vor dem Rathhause seine Kunst von Neuem zu zeigen hat. Im Rathskeller sitzen die Honorationen [Honoratioren] der Stadt, und die wollen natürlich etwas Gediegenes hören.

„Du — u — u — ut!“ klingt es zum vierten Male.

„Sobald es Zehn geschlagen hat,

Versammeln sich die Herrn der Stadt.

Sie sinnen hin, sie sinnen her,

Es spricht bald Dieser und bald Der,

Und ist das Sinnen und Reden aus,

So gehen sie so klug wie zuvor nach Haus.“

Das ist allerdings eine sehr gewagte Ehrenerweisung; aber er kennt seine Leute und tritt getrost und guten Muthes in das Zimmer, wo ihm von allen Seiten lachende Vorwürfe entgegenschallen und volle Gläser unter die Nase gehalten werden. Punsch, Negus, Glühwein, Rother und Blanker von zehn, zwölf Sorten, Bayrisch-, Lager- und Zuckerbier, Schlummersaft und Hoppelpoppel, Berliner Weiße und Döllnitzer Gose, erst kürzlich in Breitenfeld acclimatisirt, kurz alles mögliche Trinkbare, was grad bei der Hand ist, zeigt eine Inclination für den Nachtwächter, welcher ihr unmöglich widerstehen kann. Er trinkt und schlürft und trinkt bis er nicht mehr kann, hält ganze, halbe und Viertels-Gratulationen, und als er endlich zu seinem größten Erstaunen bemerkt, daß die Anwesenden alle um ihn herum zu tanzen beginnen, hält er sich zu solid für so eine ungewöhnliche Ausgelassenheit und macht sich kopfschüttelnd von dannen.

Draußen aber wird es nicht besser, sondern nur noch schlimmer. Es ist ihm gar nicht wie Neujahr, sondern gradezu fastnachtsmäßig zu Muthe; die Schneeflocken wirbeln ihm wie glühende Flammen und Funken vor den Augen; die Mütze wird ihm schwerer und immer schwerer, daß er sie kaum zu ertragen vermag, und an den Füßen hat er das Gefühl, als zöge er zentnerschwere Gewichte hinter sich her.

Aber die Pflicht ruft; vorwärts, bis zum Hotel de Sellerie, wo die Gäste sicher schon längst auf ihren Vers gewartet haben!

Er watet und stolpert weiter; der Weg wird ihm so lang, als habe er sich von Amsterdam bis Petersburg durchzuarbeiten; aber doch endlich verkündet ihm das Mückenlicht der berühmten einzigen Laterne, daß er sich der Breitenfelder Omnibusstation nähere. Hochaufathmend greift er zum Horne und setzt es an; aber trotz aller Anstrengung will kein Ton sich hören lassen; er bläst und bläst, daß ihm die Backen schmerzen, aber vergebens; es muß am Mundloche Etwas passirt sein, und darum schiebt er sich bis unter die Laterne, um das Ding zu untersuchen.

„Sapperlot,“ brummt er da ganz erstaunt; „so Etwas ist mir auch noch nicht passirt, daß ich von hinten in die alte Dute blase!“

Er dreht das Horn herum und setzt es richtig an, dennoch aber will es ihm nicht gelingen, den allbekannten Stundenseufzer hervorzubringen. Dazu ist ihm alles Gleichgewicht verloren gegangen; die Beine gehen trotz der schweren Stiefel unaufhörlich im Viersiebenteltackt, und die Augenlieder scheinen ihm bis auf den Pelzkragen herunter zu hängen. So kurios ist es ihm noch niemals weder im Magen noch im Kopfe oder sonst irgendwo gewesen, und er sieht sich den unbeschreiblichen Gefühlen seines Herzens vollständig rathlos gegenüber, bis sein Blick glücklicher Weise auf den Omnibus fällt.

„Endlich hab ichs, wie ich mir helfen kann! Jetzt ist es halb; um Elf fährt der Wagen erst ab, und wenn ich mich hineinsetze und eine halbe Stunde nicke, so ist der Affe fort, den sie mir aufgebunden haben!“

Gesagt, gethan! Er hätte sich wohl auch einen andern Ort suchen können, aber erstens ist er in dem Omnibus unbeobachtet, und zweitens findet er dort recht hübsch Schutz vor dem Schneegestöber, welches statt nachzulassen, immer ärger wird. Er öffnet die Thür, steigt in das Innere des alten Kastens, schließt den Eingang vorsichtig wieder zu und macht es sich dann so bequem, wie es sich unter den gegebenen Verhältnissen nur immer thun läßt.

Die Gäste im „Sellerie“ äußern allerdings einige Befremdung -

Befremdung darüber, daß heut von dem Nachtwächter Nichts zu hören und zu sehen sei, entschuldigen ihn aber sowohl mit dem Wetter als auch mit dem heutigen Festtage, der es ihm ja zur Pflicht macht, sich überall länger als gewöhnlich aufzuhalten. Währenddem füttert Hans seine beiden Gäule, schirrt sie dann ein und läßt sich endlich von dem Hausknechte das Thor öffnen.

„Das ist ein wahres Kosakenwetter,“ murrt er mißvergnügt. Muß ich armer Teufel Nachts elf Uhr zwei Stunden weit durch Schnee und Wind und Finsterniß kutschiren, obgleich kein Mensch Lust hat, in die alte gichtbrüchige Budicke zu kriechen!“

Er streicht den Schnee vom Bocke, legt eine trockene Decke unter, nimmt darauf Platz und greift dann in die Zügel.

„Ahü! Werft die Beine ein Bischen munter auseinander, wenn wir nicht stecken bleiben sollen! Adieu, Wilhelm; um Zwei bin ich wieder da! Beim wilden Manne“ halte ich heute gar nicht an; die Birkensteiner mögen auf ihren Stiefelsohlen nach Hause fahren! hü!“

Die Peitsche knallt, und das Fuhrwerk setzt sich in Bewegung. Der gute Hans hat keine Ahnung davon, daß er ganz gegen seine geäußerte Meinung doch einen Passagier mitnimmt, er zieht den Kragen so weit wie möglich in die Höhe und läßt die Pferde laufen, was die Beine hergeben. Grundmann aber liegt ausgestreckt auf dem bequemen Längssitze und verspürt nicht das Mindeste von dem Fortschritte, welchen das segensreiche Institut mit seiner ahnungslosen Persönlichkeit in Scene setzt. Der ungewohnte Alkoholgenuß hat ihn betäubt, und da man dem Wagen an Stelle der Räder ein Schlittengestelle untergelegt hat, so gleitet er vollständig ruhig und geräuschlos durch den tiefen Schnee dahin. Der „wilde Mann“ wird erreicht, noch ehe eine halbe Stunde vergangen ist. Es ist Tanz hier. Ganz sicher würden die dort anwesenden Birkensteiner gern einsteigen, und jedenfalls verlassen sie sich darauf, daß Hans anhalten und nach Passagieren fragen werde; dieser aber hat nun einmal heut keine Lust dazu und fährt an dem Wirthshause vorüber. Jetzt geht die Straße bergab, was das Fortkommen beschleunigt, und noch hat es nicht Zwölf geschlagen, so hält

der Omnibus vor dem Gasthofe zum „blauen Löwen“ in Birkenstein, unter dessen Thür alsbald der Hausknecht erscheint, um Kutscher und Pferde in seine Obhut zu nehmen.

Die Pferde werden ausgespannt, und bald steht das Institut wieder einsam und verlassen vor der Thür. Bei der immer gleichmäßigen Bewegung hat Grundmann ohne Störung fortgeschlafen, jetzt aber, wo diese Bewegung aufgehört hat, kehrt ihm nach und nach die Besinnung zurück. Er beginnt, sich zu regen, da jedoch die Bank nicht an allzu großer Breite leidet, so gleitet er von derselben herab und fällt auf den harten Boden. Ganz erschrocken fährt er empor.

„Sapperlot! Von welchem Kirchthurm bin ich denn da hinuntergestürzt? Und wer bin ich denn eigentlich? Wie — wenn — warum — wer — ich weiß ja gar nicht, was mit mir los ist! Ich bin — nun ja, der Nachtwächter Grundmann bin ich, so viel ist sicher, aber wo liege ich nur?

Er richtet sich auf und stößt dabei mit dem Kopfe an die Decke.

„Nannu, was ist denn das?“ ruft er, mit beiden Handen um sich greifend. „Oben zu, hüben zu, drüben zu, hinten zu — wer hat mich denn in diese Kiste eingesperrt? — und vorn — aha, da giebt es mehr Spielraum — ein Schritt — zwei Schritte — drei — hier ist gar eine Thür; da muß ich sehen, wo man hinkommt, wenn man hineingeht!“

Er faßt den Drücker und öffnet. Halb noch berauscht, halb schlaftrunken und dabei von seiner unerklärlichen Lage vollständig verblüfft, schreiter er tapfer vorwärts und liegt im nächsten Augenblicke, alle Viere von sich streckend und von der „einzigen“ Laterne beschienen, draußen im Schnee.

„Himmel — — —!“ Das Kraftwort bleibt dem guten Manne im Munde stecken, denn glücklicher Weise ist ihm plötzlich Alles klar geworden. „O, ich Esel, der ich bin! Nein, nein, so Etwas hält man wahrhaftig nicht für möglich! Kann mich da nicht besinnen, daß ich in den Omnibus gestiegen bin, um ein wenig zu nicken, und hier steht er doch der Wagen, da brennt die Laterne am „Sellerie,“ und es ist nur ein Glück, daß ich noch zur rechten Zeit wieder aufgewacht -

aufgewacht bin, sonst hätte mich der Hans bemerkt und ich wäre blamirt gewesen für alle Zeiten. Das Schläfchen hat doch geholfen. Wenn nur auch das Wetter besser geworden wäre! Aber jetzt vorwärts, ehe es Elf schlägt!“

Fest glaubend, daß er in Breitenfeld sei, wandert er in die finstre Gasse hinein, geht an der ersten Ecke vorüber und bleibt dann an der zweiten stehen, um seines Amtes zu pflegen. Noch aber hat er das Horn nicht an den Mund gebracht, so läßt sich ihm grad gegenüber eine Schnarre vernehmen und eine ebenso schnarrende Stimme ruft:

„Hat Zwölf geschlagen. Lobt den Herrn!

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Mit einigen raschen Schritten ist er über die Straße hinüber und hat die frevelnde Person trotz ihrer ungeheuren Länge beim Kragen. „Halt, Bursche, ich will Dich lehren, hier den Nachtwächter zu spielen und mich mit Deiner Schachtelmannsschnarre zu foppen! Her mit dem Dinge!“ „Wa — wa — wa — wa waaaas? ruft erstaunt der Andre, indem er sich von dem unerwarteten Griffe loszumachen sucht. Wer ist Er denn, Er Grobian, daß Er es wagt, einen ehrsamen Tischlermeister und Stadtnachtwächter mitten in der Amtirung straßenräuberisch zu überfallen, he?“

„Einen ehrsamen Tischlermeister und Stadtnachtwächter? I, der Tausend! Es fällt Dir wohl gar ein, Bruderherz, hier den Bergmann zu spielen? Das kann Dir schlecht bekommen, denn ich werde Dich einspinnen, und Du magst dann morgen sehen, wie Du Dich wieder herauswickelst. Es ist kein Spaß, grad zum Neujahrstage den Leuten weiß zu machen, daß es schon Zwölf geschlagen hat, wenn ich noch mitten in der Zehne sitze. Her mit der Schnarre, sage ich!“

„Kerl, Er ist verrückt! Mir fällt es gar nicht ein, den Bergmann blos zu spielen, denn ich bin er doch leibhaftig, und Zwölf hat es geschlagen, daß es pufft. Und einwickeln will Er mich, und die Schnarre will Er haben, die Schnarre, das Zeichen und Insignum meiner amtlichen Würde? Da möchte ich doch auch mit dabei sein! Nein, so Etwas ist mir doch in Birkenstein noch niemals vorgekommen!“

„In Birkenstein? Nein, aber hier in Breitenfeld wirst Du es erleben und zwar jetzt gleich. Her damit, sage ich, oder ich mache Strafantrag auch noch wegen Widersetzlichkeit!“

„Wegen Widersetzlichkeit? hier in Breitenfeld? Nein, das ist mir zu toll! Nun ist meine Geduld zu Ende! Thut der Kerl, als ob er in Breitenfeld sei und will mich, den Nachtwächter David Heinrich Bergmann wegen Widersetzlichkeit in Strafe bringen! Wer ist Er denn, Er alberner Christlieb Er, daß Er mir da solch hirnverbranntes Zeug vorschwatzen kann?“

„Ich? Wer ich bin? Da ist bald gesagt, mein lieber Junge! Ich bin der Nachtwächter Eduard Ludwig Grundmann, und nun wirst Du wohl mit Deinem Bergmann schweigen und mir endlich die Schnarre geben!“

„Der Grundmann will Er sein? Das käme mir ja ganz ungeheuer gelegen, wenn’s wahr wäre. Dick genug ist Er dazu und dumm genug auch. Ja, wahrhaftig, da hängt das Horn. Das ist mir lieb, ganz außerordentlich lieb, daß er [Er] mich auf diese Weise einmal hier in Birkenstein besucht, Herr College, und ich werde so gut für Sein Unterkommen sorgen, daß Er sich ein Beispiel daran nehmen kann!“

„Höre, Schatz, laß die Komödie nun endlich einmal aufhören! Ich bin eine alte, seelensgute Haut und lasse mir wohl auch ’mal einen Spaß gefallen, aber er darf nicht in die Länge gezogen werden, wie Du es machst. Meine Geduld geht auf die Neige, und wenn — — —“

Er unterbricht sich, denn in diesem Augenblicke schlägt es Zwölf, und, wahrhaftig, das sind nicht die Breitenfelder, sondern die Birkensteiner Glocken, und nun weiß er auf einmal, wo Barthel Most holt.

„Na?“ fragt Bergmann triumphirend. „Geht Ihm nun bei diesem Klange endlich ein Seifensieder auf? Daß Er wirklich der Grundmann ist, das weiß ich nun und habe auch

meine Freude dran; aber sage Er mir doch um aller Welt willen, wie Er zu dieser Stunde her nach Birkenstein kommt, ohne zu wissen, wo er sich befindet!“

„Das will ich Ihm sagen: Ich habe fünf Minuten vor Zwölf im „Sellerie“ ein Glas Birkensteiner Lagerbier getrunken und solches Bauchgrimmen darauf bekommen, daß es mich in dieser kurzen Zeit von Breitenfeld bis hierher gerissen hat.“

„So! da mag Er zusehen, ob es Ihn auch wieder so schnell nach Breitenfeld zurückgrimmen wird. Für jetzt aber wollen wir uns nach einem ruhigen Quartiere für Ihn umsehen.“

„Oho, Bergmann, das ist doch wohl Sein Ernst nicht! Ich habe weder Ihm Etwas gethan noch mich sonst gegen irgend Wen vergangen, und so kann von einer Arretur gar keine Rede sein. Und übrigens kennt Er mich ja und weiß, wo ich zu suchen bin, wenn es sich ja um eine Anzeige und Bestrafung handelte.“

„Papperlapapp! Vorhin wollte Er mich einspinnen, jetzt wird er [Er] selbst eingesponnen. Habe mir schon längst einmal so Etwas gewünscht und werde nun nicht so dumm sein, Ihn so mir Nichts, Dir Nichts wieder aus dem Garne zu lassen. Er mag sich dann vor unserm Herrn Stadtrichter über Sein Bauchgrimmen verantworten, und es wird für Birkenstein ein wahres Fest sein, wenn der Breitenfelder Nachtwächter als Gefangener durch die Straßen geführt und nach dem Rathhause geschafft wird. Vorwärts marsch!“

„Aber, Mann, so nehme Er doch Verstand an! Es kann Ihm ja — — —“

„Ach, was Narrenspossen! In solchen Dingen habe ich gar keinen Verstand. Laufe Er nur, sonst werde ich Ihm Beine machen. Er wird im Loche recht hübsch Zeit haben, einen Reim über Seine eigne lustige Geschichte zusammen zu schmieden. Uebrigens wird es von jetzt an mit Ihm als einziger Dichter aus sein; wir haben auch unsre Meriten; das merke Er sich nur!“

Dagegen ist Nichts zu sagen, und dem armen Grundmann bleibt nichts Anderes übrig, als sich ruhig in das Unvermeidliche zu fügen. Uebrigens aber ist er neugierig, wo der schadenfrohe Rivale ihn eigentlich hinstecken werde. Dieser

hat zwar von einem Rathhause gesprochen, in Wahrheit aber hat Birkenstein kein solches, sondern es ist unter dieser Bezeichnung nur ein kleines Häuschen zu verstehen, welches der Gemeinderath gemiethet hat, um dort seine Sessionen abzuhalten. Dieses Privatgebäude hat keinen einzigen Raum aufzuweisen, welcher als Gefängniß dienen könnte, und es ist auch sonst in Birkenstein keine Vorrichtung getroffen, mit der es direct auf das „Einspinnen“ abgesehen wäre. Erwartungsvoll steigt er also vor dem Arrestator her, bis dieser ihm ein gebieterisches „Halt“ zuruft.

„Hier herein geht es! Das ist unser städtisches Arrest- und Budenhaus, zu dem ich stets den Schlüssel bei mir führe. Für eine Nacht ist der Aufenthalt ganz passabel. Vagabunden werden am andern Morgen freigelassen, und schwere Inculpaten transportirt man weiter; daher hat man es noch nicht für nothwendig gehalten, für solche Leute einen Fünfmalhunderttausendthalerpalast herzubauen. So, da ist die Thüre auf, und nun nehme er [Er] gefälligst Zutritt!“

Er weigert sich nicht, einzutreten, denn es ist ihm ein glücklicher Gedanke gekommen. Bergmann verschließt die Thür sorgfältig von außen, wünscht eine „geruhsame Nacht“ und geht dann weiter.

„So, da bin ich in eine schöne Tinte gerathen! Das hat man davon, wenn man seine Illumination im Omnibus verschlafen will, und ich möchte nur das Halloh sehen, wenn mich der Bergmann durch die Gassen führt! Aber so wohl soll es ihm nicht werden, und wenn ich mir mit dem Kopfe ein Loch durch diese alte, wackelige Hütte rennen müßte! Eigentlich ist es eine schauderhafte Unvorsichtigkeit, mich, einen Mann von Fach, in so ein mürbes, morsches Ding zu stecken und mir dabei zuzutrauen, daß ich gemüthlich warte, bis man mich wie einen gezähmten Bären zur Schau stellt. Wollen doch einmal nachsehen, ob sich irgend ein Ausweg finden läßt!“

Er tastet sich in dem Raume umher und findet, daß derselbe fast ganz mit Theilen von Jahrmarktsbuden angefüllt ist. Läden sind jedenfalls auch da, aber so hoch angebracht, daß er sie nicht erreichen kann; es bleibt ihm also nur die Thür übrig. Das Schloß derselben ist von uralter Construction und außerordentlich fest; auf dieser Seite ist Nichts

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zu thun. Jetzt lehnt er sich an die Angelseite der Thür, um zu sehen, ob ein Druck viel­leicht von einigem Er­fol­ge sei. Es prasselt. Er nimmt einen fe­ste­ren Halt mit dem Fu­ße, lehnt sich mit der Schulter kräftig an und drückt und schiebt — es knirscht und prasselt, aber es giebt nicht nach. Da holt er tief Athem und sammelt seine Kräfte zu einem Kapitalstoße: eins, zwei, drei, krach, die altersschwachen, durch und durch verrosteten Angelhaken fahren aus dem knackenden Gewinde, die Thür fliegt verkehrt auf, und der ehrsame Schneidermeister und Nachtwächter Eduard Ludwig Grundmann aus Breitenfeld liegt zum zweiten Male im Schnee, jetzt freilich sehr zufrieden mit dieser Demuth predigenden Stellung.

„Bravo, bravissimo! Hurrah! Vivat, das städtische „Arrest- und Budenhaus“ soll leben, dreimal hoch, und abermals hoch und noch hundertmal hoch! Das war ein wahrer Riesenstoß, und ich habe gar nicht geglaubt, daß ich so ein fürchterlicher Simson bin. Es fehlt nur noch, daß ich das Thor auf die Achsel nehme und es statt Wetterfahne auf die Kirchthurmspitze hänge, dem Bergmann und der Stadt Birkenstein zum ewigen Angedenken und warnendem Exempulum! Nun aber muß ich so schnell wie möglich machen, daß ich nach Breitenfeld komme, kein Spaß in diesem Wetter! Aber, halt — der Omnibus geht ja Punkt ein Uhr von hier ab — bin ich blind hergefahren, kann ich auch wieder blind mit zurückfahren; aber um Tausend willen darf der Hans Nichts davon merken. Ich schleiche mich hier durch die Stadt und warte bei den Scheunen, die draußen an der Straße stehen. Sobald der Wagen kommt, steige ich auf, und hurrah, geht es heim! Freilich muß ich diesmal mit dem Verdecke fürlieb nehmen, denn es könnte leicht beim „wilden Mann“

Jemand einsteigen, der mich nachher verriethe; aber ich habe ja den dicken Pelz, und es ist immer besser, sich überschneien zu lassen, als in dieser städtischen Versorgungsanstalt stecken zu bleiben. Doch zuvor will ich die Thür anlehnen, damit man so spät wie möglich hinter meine Schliche komme!“

Unterdessen hat der glückliche Bergmann es sich angelegen sein lassen, die Kunde von seiner Eroberung in alle Gast- und Schankwirthschaften zu tragen. Sie wird von Jedermann mit Freude begrüßt, und überall, wo Bergmann seine Neuigkeit verkündet, ertönt ihm Lob und fließt ihm Dank in der tropfbaren Form von allen seinen Lieblingssorten. Es ist ihm vollständig unmöglich, solche Anerkennung zurückzuweisen; er trinkt und trinkt bis die Nase im rothblauen Glanze schimmert und fühlt sich so seelig, so ungeheuer wohl, daß er sich vor lauter Vergnügen im Schnee herumwälzen könnte. Aber seine Natur, obgleich der geistigen Getränke gewohnt, ist in Folge des zu reichlichen Genusses dem Einflusse der kalten Nachtluft doch nicht gewachsen. Es wird ihm ganz seltsam und possirlich unter der Mütze; die treue Schnarre in der Hand, schießt er im Zickzack von der einen Straßenseite immer auf die andere hinüber, und endlich fühlt er das unwiderstehliche Bedürfniß, sich niederzusetzen, um die aufrührerischen Gedanken wieder in die gehörige Ordnung zu bringen.

„Ja, setzen muß ich mich, setzen, nur eine einzige Minute! Aber wohin denn, damit mich Niemand sieht? Halt, da ist ja der „blaue Löwe“ mit dem Breitenfelder Omnibus! Der geht erst um Eins ab, und ich kann also getrost ein Bischen hineinkriechen. Das ist eine Idee, eine Idee so gescheidt, wie sie der Kerl, der Grundmann, in seinem ganzen Leben nicht haben könnte. Der setzte sich mitten auf den Marktplatz und ließ sich drei Stock hoch überschneien. Aber hinten steige ich nicht ein, da ist es zu luftig; ich quartire mich in’s Rauchcoupee, da ist es eng und warm. So, so, guten Abend, meine Herren, da sind wir hinne, und nun wollen wir die Thür hübsch zumachen, sonst zieht es an die Füße!“

Es raschelt und rumort noch einige Secunden in dem Wagen, und dann ist Alles still; die Idee, auf welche er so stolz ist, scheint guten Erfolg zu haben; aber was die Zeit betrifft, so hat er sich jedenfalls verrechnet, denn eben schlägt

es Eins, und das Thor öffnet sich, um Hans mit seinen Pferden durchzulassen.

„Hott hü, Brauner! Ist das eine Finsterniß! Ich muß wahrhaftig das halbe Leben daran wagen, diese Arche Noah vollständig leer nach Breitenfeld zu bringen. Wenn ich Etwas zu sagen hätte im Lande, so setzte ich mich hinein, Eure Birkenfelder Sippschaft müßte sich vorspannen, und ich kutschirte gemüthlich heim nach meinem „Sellerie!“ Gute Nacht!“

„Gute Nacht, Hans,“ antwortet der Hausknecht und verschwindet gähnend hinter dem Thore.

Der mißmuthige Kutscher kann sich nicht gleich beruhigen. Er brummt noch Allerlei in den Bart und bemerkt dabei nicht, daß draußen an den Scheunen Einer hinten aufgesprungen ist, der bis auf das Verdeck steigt und sich dort, tief in den Pelz gewickelt, lang niederlegt. Als die Steigung, welche die Straße hier erleidet, überwunden ist, greifen die Pferde besser aus, und nach wenigen Minuten ist der „wilde Mann“ erreicht. Dieses Mal ist es nicht leer und öde vor dem Hause, vielmehr herrscht ein Leben hier, welches mehr als regsam genannt werden muß. Wie gewöhnlich sind die Birkensteiner mit den Breitenfeldern in Conflict gerathen und legen einander die streitigen Paragraphen mitten auf der Straße mit den Fäusten aus. Deshalb scheint es dem vorsichtigen Hans nicht gerathen, Halt zu machen; er giebt das übliche Warnungszeichen mit der Peitsche, die Kämpfenden fliegen auseinander und er fährt im scharfen Trabe zwischen ihnen hindurch, verfolgt von den Vorwürfen Derer, welche gern eingestiegen wären.

„Hm, anhalten!“ raisonirt er vor sich hin; „da könnte ich meine schönsten Prügel mit nach Hause nehmen, und wie es dem Geschirr ginge, das kommt noch obendrein! Halt, da stehen Zwei, die auf mich warten. Brrr! Das ist ganz gewiß der Fritz mit seinem Lieschen, die er nach Hause bringt. Der mag auch von dem Spectakel Nichts wissen und wartet darum allemal hier auf mich. Fritz, bist Du es?“

„Ja. Du willst uns heut wohl gar nicht mitnehmen?“

„O doch! Aber ich sah Euch in der Dunkelheit erst, als es vorüberging. Steig ein und mache Dir’s bequem. Es ist leer wie immer.“

„I, der Tausend,“ murmelt der da oben auf dem Verdecke; „komme ich so hinter Eure Schliche? Aber brav ist es doch von dem Burschen, daß er so hübsch für die Liese sorgt! Nun kann ich allerdings nicht eher heruntersteigen, als bis der Wagen wieder vor dem „Sellerie“ steht.“

Er legt sich leise auf die andre Seite, zieht die Beine an sich, weil es so wärmer ist, und sucht nun jedes Geräusch zu vermeiden, um seine Anwesenheit nicht zu verrathen. Die Kälte dringt doch nach und nach selbst durch den dicken Pelz; es fängt an, ihn zu frieren, und daher ist er froh, als der Omnibus endlich vor den ersten Häusern der Stadt hält, wo die beiden Liebenden aussteigen. Dann geht es vollends bis zur Station. Dort spannt Hans aus, das Thor wird verschlossen, und die „Arche Noah“ steht nun unbeachtet im Scheine des verlöschenden Laternenlichtes. Schon will Grundmann sich erheben, um abzusteigen, als er unter sich ganz unerwartet ein Geräusch vernimmt.

„U — aaah! U — aaah! Hanne!“ ruft eine schnarrende Stimme.

„Sapperlot, da steckt noch Einer, von dem der Hans gar Nichts gewußt hat! Wer mag das sein?“

„U — aaah! Hanne, gucke doch ’mal an die Uhr, welche Zeit es ist!“

„Das klingt wahrhaftig grad, als ob’s der Bergmann wäre!“

„Hanne! Brenn Licht an; ich habe den Grundmann erwischt!“

„Ja, er ist’s. Na, freue Dich, Alter; jetzt wirst Du was erleben müssen! Der hat aus lauter Freude über mich zu viel getrunken und ist dann grad so wie ich in den unglückseligen Kasten gerathen. Besser konnte es gar nicht kommen!“

„Licht will ich haben! — — Au! Wo bin ich denn?“

Ein kräftiger Stoß gegen die Decke zeigt, daß er sich hat erheben wollen. Es entsteht ein Tasten und Rumoren, welches von unverständlichen Lauten und Ausrufen begleitet ist, bis nach langer Zeit endlich die Thür aufgestoßen wird.

„Puh, ist das eine Kälte da draußen in der Kammer! Hanne! — — — Was? — Häuser? — Und eine Straßenlaterne? — Das ist ja der „blaue Löwe!“ — Und hier steht

der Omnibus! — Jetzt, jetzt fällt es mir ein; ich bin ja hereingekrochen, weil es mir so ganz absonderlich im Kopfe summte! Da muß auch die Schnarre noch daliegen; ja, hier ist sie. Es ist nur gut, daß ich aufgewacht bin, ehe angespannt worden ist! Nun wird es gleich um Eins sein, und ich will machen, daß ich in die Neugasse komme; dort muß ich ein Viertel auf Zwei den Uhligbäcker wecken!“

Er krabbelt vorsichtig über die Deichsel herab und geht in die nächste Gasse hinein. An der ersten Ecke bleibt er stehen und schwingt die Schnarre.

„Hat Zwölf geschlagen. Lobt den Herrn!“ Darauf steigt er weiter und biegt in eine Quergasse ein.

„Das ist die Neugasse. Ein Haus — zwei Häuser — drei Häuser — vier Häuser — jetzt, das fünfte ist es. Uhlig! Meister Uhlig! Heda! Schrrrrrrrr!“ ertönt die Schnarre. „Meister U — U — Uuuhlig, ’s wird Zeit!“

„Was ist denn das für ein Spektakel hier!“ ruft es barsch grad neben ihm, und eine kräftige Hand reißt ihm das heilige Zeichen und Insignum seines Amtes aus den Fingern. „Da oben wohnt ja der Schuhmachermeister Henneberger, und es ist an einen Uhligbäcker in ganz Breitenfeld gar nicht zu gedenken!“

„Spektakel hier —? Henneberger —? Breitenfeld —? Was fällt Ihm ein! Meine Schnarre her!“

„Das warte Er nur ruhig ab! Also, wer ist Er, und was hat Er hier auf der Hintergasse zu suchen?“

„Auf der Hintergasse? Die haben wir mein Lebtage noch nie in Birkenstein gehabt. Lasse doch Er einmal sehen, wer Er ist!“

Er bückt sich nieder und bringt seine Karfunkelnase grad bis an diejenige seines innerlich triumphirenden Gegners.

„Wa — wa — wa — waaaas? Das ist ja der Grundmann! Da ist der saubere Patron also ausgebrochen, und statt sich schleunigst von dannen zu machen, ist er zum zweiten Male so keck und unverschämt, mich anzuhalten! Das konnte eine schöne Litanei geben, wenn ich Ihn am Morgen auf das Rathhaus bringen sollte. Aber gut, daß ich Ihn wieder habe! Diesmal wird Er angebunden, und Er soll zu Seinem Schreck erfahren, was es heißt, sich einer gesetzmäßigen Gefangenschaft gewaltthätiger Weise zu entziehen. -

entziehen. Wir haben hier in Birkenstein schon noch Mittel und Wege, einen lebensgefährlichen Verbrecher zahm und gefüge zu machen!“

„Ich glaube, Er hat geträumt oder ist total betrunken! Wir sind hier in Breitenfeld, und ich möchte wirklich wissen, wie es möglich ist, daß ich heut in Birkenstein ausbrechen konnte. Er ist wohl der Nachtwächter Bergmann? Das ist mir lieb, und ich werde so gut für Sein Unterkommen sorgen, daß Er sich ein Beispiel daran nehmen kann!“

Bergmann weiß, daß er in Birkenstein vorhin ganz genau dieselben Worte zu Grundmann gesagt hat; die Sicherheit des Letzteren macht ihn stutzig, aber sie steigert auch seinen Zorn.

„Ich will Ihn schon bebeispielen, Er Nichtsnutz Er! Denkt Er etwa, weil Sein Mädchen mei­nen — — —“

Er hält mitten in der Rede inne, denn es schlägt zwei Uhr. Aber das sind nicht die Birkensteiner Glocken, und jetzt schlägt noch eine zweite Uhr; das muß auf dem Breitenfelder Rathsthurm sein. Der Schreck fährt ihm in alle Glieder und färbt sogar die Nase weiß, wie man sehen könnte, wenn es nicht gar so finster wäre.

„Na, geht Ihm bei diesem Klange endlich der richtige Seifensieder auf? Aber sage Er doch nur, wie Er um diese Zeit nach Breitenfeld kommt!“

„Wie ich nach Breitenfeld komme? Das kann nicht anders als mit dem Omnibus geschehen sein. Ich hatte so einen kleinen Käfer und bin hineingekrochen, um mich auszuruhen.“

„Ja, so wird es schon sein! Und wenn man einen Käfer hat, so träumt man allerhand tolles Zeug von Arretiren und Durchbrennen und so weiter. Na, das wird bei Ihm ja gleich in Erfüllung gehen, denn es versteht sich ganz von selbst, daß ich Ihn als nächtlichen Ruhestörer nach Nummer Sicher bringen muß.“

„Das wird Er doch nicht an mir thun!“

„Warum denn nicht?“

„Ich an Seiner Stelle würde Verstand annehmen!“

„Papperlapapp! In solchen Dingen habe ich gar keinen Verstand! Er wird eingesponnen und am Morgen im Triumphe durch die Straßen geführt. Ich werde Ihm zeigen,

daß Er Seine Meriten nicht alleine hat! Vorwärts marsch, wenn ich Ihn nicht auch noch wegen Widersetzlichkeit anzeigen soll!“

Bergmann muß sich wohl oder übel in das Unvermeidliche fügen. Der alte Bramarbas ist ganz still und weich geworden und geht gesenkten Hauptes neben seinem Erzfeinde her. Er denkt an die fürchterliche Schande, welche ihn erwartet, an das Gelächter der Straßenjugend und an all die Folgen seiner unglückseligen Omnibusfahrt. Und das Alles hat er vorher im Wagen ganz genau geträumt, nur daß die Rollen umgewechselt waren; denn das sieht er ein, daß er den Grundmann in Wirklichkeit gar nicht arretirt haben kann. Wie so ein Traum doch in Erfüllung gehen kann, und unglücklicher Weise mit ganz verkehrtem Gesichte! Er entschließt sich, gute Worte zu geben, aber sie fruchten Nichts. Grundmann antwortet kaum auf die dringenden Bitten, mit denen ihn Jener bestürmt, und wandert ungewöhnlich raschen Schrittes aus einer Gasse in die andere, bis sie gar an das Ende des Städtchens gelangen, wo sie vor dem letzten Hause stehen bleiben. Der Nachtwächter zieht einen Schlüssel hervor und öffnet die Hausthür.

„Tretet jetzt mit hier ein; das Uebrige wird wohl von Euch selbst abhängen!“

Nachdem er den Eingang wieder verschlossen hat, öffnet er die Stubenthür und bleibt mit künstlich erstaunter Miene unter derselben stehen. Wie am Abende stehen die Tassen auf dem weiß- behängten [weißbehängten] Tisch, und an demselben sitzen die Nachtwächterin, Lieschen und Fritz. Sie haben das Erscheinen Grundmanns vor vier Uhr nicht erwartet und sind alle Drei höchlichst betroffen darüber, daß sie ertappt worden sind. Was aber ihren Schreck bis zum noch höheren Grade steigert, das ist eine lange, wohlbekannte, rothblaue Nase, welche sich an der Pelzmütze Grundmanns vorübergedrängt und ein unheilverkündendes Schnauben hören läßt.

„Gehe Er einmal auf die Seite, Herr College,“ läßt sich die Schnarrenstimme vernehmen; „ich muß doch sehen, was der Junge eigentlich hier zu suchen hat!“

Rasch entschlossen, nimmt Fritz sein Mädchen an die Hand und zieht es hinter dem Tische hervor.

„Ich will Dir’s zeigen, Vater, und wenn Du sie Dir

richtig ansiehst und Dich auch ein Wenig hier in der Stube umschaust, so wirst Du Nichts dagegen haben!“

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„Ach was an­se­hen und um­schau­en! Ein Berg­mann darf kei­ne Grund­mann hei­ra­then. Da­bei bleibt es!“

„Jawohl, Herr Col­le­ge, ei­ne Grund­mann darf kei­nen Berg­mann hei­ra­then! Das wä­re mir ei­ne Sa­che, wenn mein Mädchen den Sohn eines Mannes nehmen wollte, der hinter Schloß und Riegel gesessen hat! Die Grundmanns wären ja blamirt von jetzt an bis auf fast vierhundert Jahre zurück!“

„Hinter Schloß und Riegel? Mein Vater?“ frägt Fritz. „Ihr Wort in Ehren, Herr Grundmann, aber da hat man Ihnen eine Lüge weiß gemacht.“

„Du bist hier ruhig, Junge, und wartest, bis wir Alten fertig sind!“ weist sein Vater ihn zurück. „Höre Er, College, ich will Ihm ’mal was sagen: Lasse Er mich los, so will ich es Ihm auch verzeihen, daß Er hinter meinem Rücken diese Dummheit zugegeben hat!“

„Und dann?“

„Was denn dann? Die Dummheit hat dann natürlich aufzuhören!“

„Höre Er, College, lasse nun auch Er sich ’mal was sagen: Was Er da eine Dummheit nennt, das ist eigentlich eine ganz respectable Klugheit zu nennen, auch abgesehen davon, daß sie Eurer gottlosen Feindseligkeit endlich einmal ein Ende machen würde. Mein Mädchen ist wenigstens eben soviel werth, wie jedes andere, und wenn ich seinem [Seinem] Fritz Gerechtigkeit widerfahren lasse, so kann Er das auch mit ihr thun! Kinder, habt Ihr Euch denn wirklich so recht

von Herzen lieb? Ungefähr so, wie ich und die Mutter uns gern haben?“

„Ja, Vater,“ sagt das Lieschen, nimmt ihn beim Kopfe und giebt ihm einen herzhaften Kuß. „Noch viel mehr! Nicht wahr, Fritz?!“

„Freilich! Wenigstens wird es bei mir so sein.“

„Na, na, na, na! Macht mir nur aus der Fliege nicht gleich einen Elephanten. Da hört Er’s, Herr College! Was wird Er machen können, wenn es so steht?“

„Darüber mache Er sich nur keine Sorge! Ich werde den Jungen schon wieder zu Verstande bringen.“

„Gut, wenn das Sein Wille ist, so sind wir mit der Heirathsgeschichte fertig, und die andere kann wieder losgehen. Nehme Er seine Mütze und komme Er!“

„Er wird doch nicht Ernst machen wollen. Die beiden Geschichten gehen einander ja gar Nichts an. Ich heiße nicht umsonst Bergmann, und der Mann muß Herr im Hause sein, so habe ich zu meiner Alten gesagt, und ich kann also unmöglich mein Wort zurücknehmen!“

„Und ich heiße nicht umsonst Grundmann, und was ein Mann will, das will er. Entweder Er sagt ja oder Er geht jetzt mit mir! Ich gebe Ihm fünf Minuten Bedenkzeit.“

Die Andern wissen nicht, wie der Bergmann nach Breitenfeld gekommen ist, und also auch nicht, was das mit dem Mitgehen zu bedeuten hat; sie sehen nur, daß der Eine den Andern in die Ecke zieht und mit leiser Stimme gute Worte giebt, aber Grundmann läßt sich von seinem Vorsatze nicht abbringen.

„Die fünf Minuten sind vorüber,“ meint er endlich. „Wenn Er nachgiebt, wird kein Mensch Etwas von der Omnibusgeschichte erfahren; bleibt Er aber bei Seinem Satze, so mag Er zusehen, was daraus wird.“

„Wenn ich auch Rücksicht nehmen wollte, so ist doch meine Alte dagegen. Die sieht die paar Pfennige an, und wir haben dreihundert Thaler auf der Sparkasse.“

„Was das anbelangt, so reichen Eure Dreihundert noch lange nicht an unsre Fünfhundert, und wir werden unser einziges Kind nicht blos und blank aus dem Hause gehen lassen!“ meinte die Hausfrau.

„Fünfh — — was sagt Sie da? Fünfhundert? Wie

habt Ihr die denn zusammengebracht in den schlechten Zeiten? Das wäre Etwas! Also wenn ich ja sage, so bleibt der Omnibus unter uns?“

„Das versteht sich! Was ich einmal sage, das gilt.“

„Nun gut, da nehmt Euch meinetwegen; ich will Nichts mehr dagegen haben. Aber Ihm muß ich vorher erst Eins sagen. Wenn ich nehmlich jetzt auch anfange, Gedichter zu singen, so darf Er nicht denken, daß es auf Seinen Aerger abgesehen sei. Ich habe auf einmal so eine schrecklich poetische Ader bekommen, daß ich den ganzen Tag in Reimen reden könnte.“

„Das kann mich nur freuen, denn dann wird Er mir bei der Hochzeit auf die Toaste, welche ich bringe, auch gehörig antworten können. Für heut aber hängen wir den Nachtwächter an den Nagel; er hat das neue Jahr so schon schlecht genug angefangen. Setze Er sich her, Herr College; es wird sich auch für uns noch eine Tasse finden lassen!“

„Schön! Oder vielleicht gar ein Gläschen Alten mit etwas Rum dazwischen!“