Ein wohlgemeintes Wort.
Die Sünde wird immer mächtiger!“ klagt der Priester auf der Kanzel. „Die moralischen Krebsschäden der Gegenwart fressen sich immer tiefer ein in das Geschlecht der Menschen!“ ruft der Philosoph vom Katheder herab. „Bei der Entwickelung des innern Menschen scheint oft das Böse größere Fortschritte zu machen als das Gute!“ bemerkt der aufmerksame Pädagog. „Die Zahl der Verbrechen steigt, und das Raffinement wird fast beängstigend!“ spricht der Richter, und „Baut neue Zuchthäuser; die bisherigen reichen nicht mehr zu!“ respontirt ihm der Strafanstaltsbeamte. Die Eltern klagen über ihre Kinder, die Lehrer über ihre Schüler, die Lehrherren über ihre Lehrlinge, der Meister über seinen Gesellen, der Fabrikant über seine Arbeiter. Und der Menschenfreund?
Dieser kann und mag nicht glauben, daß die Schatten der Nacht dem hellen, belebenden Strahle des Tages Stand zu halten vermögen; aber er erkennt in vielen, in sehr vielen Fällen die Berechtigung zu diesen Klagen an, und seine stets rege Theilnahme veranlaßt ihn zum Nachdenken über die Ursachen derjenigen Krankheiten, an welchen der gesellschaftliche Körper leidet. Freilich ist die Gabe, in gelehrter, scharfsinniger und eingehender Abhandlung diesen wichtigen Gegenstand zu erschöpfen, wohl nur wenigen Auserwählten verliehen; aber es ist die Pflicht eines jeden wohldenkenden Menschen, auch Andere an den Erfahrungen, welche er in seinem Kreise gemacht hat, Theil nehmen zu lassen, und so das Seinige beizutragen zum großen Werke der Besserung. Auch das Kleinste und scheinbar Unbedeutendste ist hier von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit, und wenn ich um die Erlaubniß bitte, heut’ auf so ein Kleines aufmerksam machen zu dürfen, so geschieht es in der Ueberzeugung, daß gar mancher Freund des Kalendermannes -
Kalendermannes Aehnliches erfahren und Aehnliches gedacht hat und also meinem wohlmeinenden Worte seine Zustimmung nicht versagen wird.
Einer der Haupthebel, welche bei der Volkserziehung in Bewegung gesetzt werden müssen, sind jedenfalls die Bibliotheken, und bei einsichtsvoller Leitung und einer guten, verständigen Wahl der Bücher ist ihr Einfluß ein unberechenbar günstiger. Aber auch ebenso sehr schädlich ist die Wirkung einer aus schlechten Werken zusammengesetzten und von einer nur den eignen pecuniären Vortheil verfolgenden Hand geleiteten Bibliothek, und wenn wir in dieser Beziehung von unsern großen und öffentlichen Büchersammlungen nur Lobendes zu sagen haben, so lassen dagegen die im Privatbesitze befindlichen Bibliotheken viel, oft sehr viel zu wünschen übrig.
Die politische Körperschaft (Staat, Gemeinde etc.) verfolgt bei Anlegung einer Bücherei allgemeine, edle, lautere, auf das Wohl des Einzelnen und Ganzen gerichtete Zwecke; der Geschäftsmann aber folgt meist nur der Rücksicht auf das eigene Wohl, und da dasselbe, wenigstens in äußerer Beziehung, von dem Stande seiner Kasse abhängig ist, so greift er nach solchen Büchern, welche ihm die größte Einnahme versprechen und unterläßt es, darüber nachzudenken, welchen Gewinn oder Verlust, welchen Nutzen oder Schaden er mit diesem selbstsüchtigen Verfahren seinen Lesern bereite. Leider ist trotz des gegenwärtigen Dranges nach Fortbildung und Aufklärung das Verständniß für eine gute, nützliche Lectüre noch lange nicht in alle Schichten der Bevölkerung eingedrungen; vielmehr hängt eine nicht geringe Anzahl grade Derjenigen, denen die Oeffnung ihres geistigen Auges am meisten Noth thut, mit bedauerlicher Beharrlichkeit an dem von den Andern längst verurtheilten Genre der Ritter-, Räuber-, Kloster-, Geister- und Schauderromane, und
es ist deshalb nicht zu verwundern, daß dieses literarische Ungeziefer immer noch nicht vollständig auszurotten gewesen ist, zumal gewisse Verlagshandlungen sich nicht scheuen, den alten Schmutz immer wieder aufzuklauben und in neuer Gewandung an den Mann zu bringen. Aus diesem Grunde sind in den meisten Privatleihbibliotheken, ganz besonders aber in den sogenannten „Winkelbibliotheken,“ diese Scharteken zu Hunderten zu haben, und ich glaube nicht zu viel zu wagen, wenn ich die Behauptung ausspreche, daß auch mancher unserer besser oder gar bestrennomirten Bibliothekare sich im Besitze eines kleinen Winkelchens befinde, in welchem er dergleichen „Geisterfraß“ für einen etwaigen Gebrauch in Bereitschaft hält. —
„Was lesen Sie da?“ wurde ich kürzlich von einem mir bekannten Mann gefragt.
„Eine Abhandlung über die Darwin’sche Descendenztheorie.“
„Darwin? Das kann nicht viel Gescheites sein; ich kenne den Mann nicht. Lesen Sie doch von meinem Nachbar! Hab’ seine Bibliothek schon sechs Mal durch; lauter Interessantes, Geistreiches, Spannendes; habe grad’ jetzt sein schönstes, bestes Buch zu Hause.“
„Welches?“
„Der Felsendrache oder das blutende Herz.“
Ich hatte genug. Der Mann war Besitzer einer sogenannten „problematischen“ Existenz, spielte bei den Dilettantenvorstellungen im goldenen Löwen den dritten Liebhaber und trug als Folgen seiner durchwachten und durchlesenen Nächte jene scharfbegrenzten rothen Flecke, welche man Kirchhofsrosen nennt, auf den eingesunkenen Wangen. —
„Ich ziehe ab,“ hörte ich ein junges Mädchen sagen, „und vermiehte mich niemals wieder. Bei meinen Eltern kann ich wenigstens vier Bände wöchentlich lesen, und jetzt bringe ich kaum einen durch. Und noch dazu zankt die Herrschaft über ungeheure Oelverschwendung!“
Sie kam aus der Bibliothek und hatte sich geholt: „Mönch und Nonne, oder das gemordete Kind.“ —
„Mein Junge ist ein Tausendsapperlot,“ sagte mir in stolzer Vaterfreude ein würdiger Fleischermeister. „Wie der lesen kann, das glaubt kein Mensch! Sein Pathe hat eine Leihbibliothek und giebt ihm so viel Bücher, wie er haben will. Alle Wochen liest er seine fünfe, sechse durch und erzählt die Geschichten von Anfang bis zu Ende wieder her. Und ist noch nicht ganz dreizehn Jahre alt! Der muß mir ’mal studiren!“
Ich ergriff zwei der daliegenden Bücher. Das Eine war „Sallo Sallini, der große Räuberhauptmann,“ das Andere führte den Titel „Schatzkammer ehelicher Geheimnisse. Gedruckt bei Frankfurt 1719“ und war mit Zeichnungen versehen, die einen Erwachsenen erröthen gemacht hätten. —
„Mir fällt es gar nicht ein,“ erklärte ein Vater, „meine Tochter mit Wirthschaftsangelegenheiten zu belästigen; dazu sind die Dienstboten da. Das liebe Kind ist meine einzige Erbin und besitzt eine Bildung, welche das Mädchen zu einer bevorzugten Stellung berechtigt.“
Bei meinem nächsten Besuche traf ich die einzige Erbin wie gewöhnlich lesend. Ich bat sie um den Titel des Buches; es war „Gabello, der schöne Bandit.“ —
— Es wird wohl wenige unter meinen freundlichen Lesern geben, welche nicht einmal ein ähnliches Buch in der Hand gehabt haben, und der Einsichtsvolle wird mir Recht geben, wenn ich den Inhalt solchen Dütenpapieres mit dem Worte Gift bezeichne: Gift für den Körper, Gift für den Geist und Gift für das Herz.
Jedes Buch, welches nicht irgend einen positiven Nutzen bringt, ist schädlich; denn sowohl das dafür bezahlte Geld, als auch die daran gewandte Zeit und Aufmerksamkeit muß als eine Verschwendung betrachtet werden. Diese Verschwendung ist von Seiten dessen, der ein solches Buch nur zufälliger Weise einmal durchblättert, eine kleine zu nennen; bedeutender schon ist sie bei Demjenigen, welcher sich solcher Lectüre dermaßen ergeben hat, daß er jede freie Stunde auf sie verwendet, und die Zahl solcher Leser ist keine unansehnliche; könnte man aber all’ die vorhandenen Schwarten einmal an das Tageslichteziehen, um nachzuschlagen, wie oft sie gelesen, wie viel Stunden, Tage, Wochen, Monate und Jahre darauf verwendet und wie viel meist sauer verdiente Pfennige, Groschen und Thaler nach und nach an ihre Besitzer bezahlt worden sind, so würde man erstaunen und erschrecken. Und diese Verschwendung ist um so beklagenswerther, als diese kostbare Zeit, des Geldes einmal gar nicht zu gedenken, zur Aneignung nützlicher und Gewinn bringender Kenntnisse und Fertigkeiten verwendet werden konnte. Ich habe nicht wenige Burschen und Männer gekannt, welche sich selbst und ihre Familie lieber wirthschaftlich und geistig versumpfen ließen, als die Lesewuth zu zügeln, die sie beherrschte, und ich habe ebenso viele Mädchen und Frauen gesehen, die Löcher in ihren Strümpfen, die Lüderlichkeit in ihrer Haushaltung und die Falten in den Stirnen ihrer Männer nicht bemerkten, weil ihre Augen beschäftigt waren, den Inhalt irgend eines obscönen Buches zu verschlingen.
Welchen Hochgenuß versprechen uns denn nun eigentlich diese Bücher? Schlagen wir sie auf!
Zunächst sind sie alle darauf berechnet, die Phantasie des Lesers zu ergötzen. Ob dies auf Kosten der Wahrheit geschehe, das geht dem Verfasser Nichts an. Er schickt zuerst seine eigne erfindungsreiche Phan-
tasie auf Entdeckungsreisen, schüttelt dann den Staub, der ihr von dieser Reise anklebt, über die Schaar seiner Gläubigen aus und steckt endlich das Honorar für diese Menschen beglückende Anstrengung in den an die Theorie vom absoluten Nichts gewöhnten Geldbeutel. So prosaisch endet der poetische Flug.
Und der Leser? Dieser sieht sich aus seinen realen, vielleicht ärmlichen Verhältnissen in eine phantastische, reiche, buntbelebte Welt versetzt. Stolze Recken in goldschimmernden Rüstungen sprengen mit wehendem Helmbusche über den Plan; schön geschmückte Frauen vertheilen Preis und Minnesold; Sporen klirren; kostbare Gewänder rauschen; dort blinken die Schwerter; hier flüstert und kost es in der Laube; kühne, verwegene Gestalten dringen aus den Büschen; Dolche blitzen in ihren Fäusten; draußen auf hoher See schwimmt der Pirat, vom Sonnenscheine des Glückes und der Feder des Autors verklärt; zechende Mönche, liebeglühende Nonnen, feuerspeiende Drachen, stehlende Zigeuner, klappernde Gerippe, betende Eremiten, fluchende Sbirren, wandernde Troubadours, nächtliche Gespenster, bärtige Sarazenen, alles nur erdenklich Schöne und Häßliche, Anmuthende und Fürchterliche, Wonnevolle und Schauderhafte drängt der Verfasser in das blätterreiche Kaleidoscop, welches mit der vielverheißenden Bemerkung „Roman in zwölf Bänden“ vor dem Auge des entzückten Lesehungringen liegt, eng und bunt, plan- und zusammenhanglos zusammen. Er führt den Leser zurück in eine längst vergangene Zeit, für welche dieser kein Verständniß hat; er läßt ihm Erscheinungen und Verhältnisse erblicken, die es weder damals noch zu einer andern Periode gegeben hat oder geben konnte, und diejenigen Gestalten und Typen, denen eine frühere Wirklichkeit nicht abzusprechen ist, erscheinen in unwahren Beziehungen und werden von falschem Lichte beleuchtet. Die Helden des Romanes sind entweder so unmenschlich gut und fromm, daß ihre Tugend uns arme Sterbliche geradezu blendet, oder ebenso unmenschlich bös und gottlos, daß wir uns unmöglich überwinden können, an die Existenz dieser Satane zu glauben. Ihre sittliche Freiheit und Selbstbestimmung ist ihnen bei der erzwungenen Passage durch den Gänsekiel abhanden gekommen; ein dunkles Verhängniß hat ihr Schicksal vorherbestimmt; finstere Gewalten spielen mit ihnen Würfel; ob von der höchsten Vortrefflichkeit, ob von der tiefsten Versunkenheit, sie haben keinen Theil an ihrem moralischen Werthe oder Unwerthe und müssen die vorgeschriebenen Thaten ableiern wie eine aufgezogene Spieldose ihre Schnadahüpfl. So werden sie wie leb- und widerstandslose Marionetten an dem Faden der Erzählung über die Scene gezerrt, dürfen höchstens einmal durch den zahnlosen Mund einer alten, wahrsagenden Hexe oder Zigeunerin einen
scheuen Blick hinunterwerfen in die Tiefen, in welchen an dem Zwecke ihres Daseins herumgekocht und gebrodelt wird, und nehmen glücklicher Weise als Gegengeschenk für das verabreichte Trinkgeld die unvermeidliche Versicherung mit, daß am Rande des Abgrundes, nämlich auf der vorletzten Seite des zwölften Bandes, ein pflichteifriger Deus ex machina die Guten aus einer Hölle von Unglück und Qual in einen Himmel von Glück und Seligkeit emporschleudern werde, während die Bösen natürlich den umgekehrten Weg machen müssen.
Der Leser ist entzückt; er hat die Gegenwart vergessen und schwimmt auf den luftigen, trügerischen Wogen der ihm vorgezauberten Fata morgana. Er gehört unter jene Helden, er nimmt Theil an ihrem Glücke und berauscht sich an dem Nektar ihrer Seligkeit. Aber bei den unheilvollen Worten „Ende des letzten Bandes“ erwacht er aus diesem Rausche. Halb noch träumend, halb schon wachend reibt er sich die Augen und möchte an das Jetzt nicht glauben. Aber die eherne Faust der Wirklichkeit reißt ihn gewaltsam und ohne Erbarmen empor und stürzt ihn in den Kampf des Daseins, in welchem er sich die Mittel zur Befriedigung der kleinlichen, unromantischen Bedürfnisse des nackten Lebens erringen soll. Hier hilft kein Träumen, sondern hier giebt es Arbeit und Arbeit und immer wieder Arbeit. Er arbeitet auch; denn er muß; aber wie balde, wie oft sinkt sein Arm, um der Phantasie Zeit und Raum zu glänzenden Luftschlössern zu geben. Er hat falsche Lebensanschauungen eingesogen und nach und nach die innere Kraft verloren, die Anforderungen der Alltäglichkeit zu erkennen und ihnen gerecht zu werden. Die Verhältnisse, in denen er sich befindet, vermögen nicht, ihn zu befriedigen, und so geht er in die Leihbibliothek, um sich eine neue Dosis Opium zu holen, und aus einem neuen Buche die Lethe der Vergessenheit zu trinken. Durch das viele Lesen von dem Umgange mit Andern abgeschlossen, hält er sich in Folge seiner vermeintlichen großen Belesenheit und Bildung für besser und unterrichteter als diese und wird somit auch dem sanftesten Worte der Belehrung und Warnung immer unzugänglicher. Und noch Eins: Die weibliche Leserin sieht in jenen Romanen ihr Geschlecht von zarter Minne umwoben, von kühnen Männern umschwärmt und in süßen Liedern vergöttert. Die Helden sind ausgestorben; die Lieder sind verklungen; aber die Liebe, die stirbt und verklingt nimmer. An dieser hält sie sich fest; träumerisch hinschmachtend wartet sie auf ihren Ritter, und wenn er endlich erscheint, so umgiebt sie selbst ihn mit jenem Nimbus, in welchem er ihrem Seelenfrieden, ihrem Glücke gefährlich zu werden vermag, und wie viele, wie so sehr viele solcher vertrauenden Seelen
giebt es doch, die in Folge dieser Selbsttäuschung nur durch traurige Erfahrungen zu der Erkenntniß gezwungen worden sind, daß auch die Zeit der Burgfräuleins vorüber sei! —
Es ist eine der Hauptaufgaben des Romanschriftstellers, den sittlichen Gehalt seiner Personen genau abzuwägen und in die Tiefen ihres Seelenlebens einzudringen, um die successive Entwickelung ihres Characters zur anschaulichen Darstellung zu bringen. Seine Beispiele des Guten müssen als Vorbilder, und seine Beispiele des Bösen zur Abschreckung dienen; der Leser muß sich also in seinem eignen Innern gepackt und ergriffen fühlen und alle Phasen des geschilderten Bildungsganges mit erleben. Licht und Schatten müssen deshalb sorgfältig vertheilt und alle Extreme vermieden werden, damit die Lösung dieser Aufgabe nicht an der Unmöglichkeit der vorgeführten Bilder scheitere. Hierzu muß freilich vor allen Dingen der Verfasser selbst von dem rechten sittlichen Ernste durchdrungen und sowohl mit einer nicht blos oberflächlichen Menschenkenntniß, als auch einer glücklichen Darstellungsgabe versehen sein. Aber bei wie vielen Büchern der uns vorliegenden Art sind diese Bedingungen erfüllt? Der Verfasser füllt eine größere oder geringere Anzahl von Persönlichkeiten und Begebenheiten auf die Flasche, verkorkt dieselbe mit seiner berühmten Benamsung und klebt irgend eine Reclame machende Etiquette darauf. Jetzt ist das große Werk vollbracht, und Psychologie ist ihm die Krankheit, welche er schon in seinen Knabenjahren mit den Masern und dem Kinderfriesel glücklich überwunden hat. Die größte Genugthuung gewährt es ihm, wenn es ihm gelungen ist, seine Leser zum „Gruseln“ zu bringen, und deshalb klopft er seinen Stoff über den Leisten des Fürchterlichen. Auf der fünften Seite schon hat er seine Personen vorgestellt; auf der zehnten wird die Luft schwül; auf der zwanzigsten wittert es; auf der dreißigsten schlägt es ein; auf der vierzigsten beginnt das große Sterben und auf der letzten sind sie Alle todt außer den wenigen Bevorzugten, welche Se. schriftstellerische Majestät zur süßen Angewohnheit des Lebens begnadigt hat. Wozu also Talent und künstlerische Gestaltungsgabe! Und der sittliche Ernst? „Nur in aller Welt keine Scrupel; denn dieser sogenannte Ernst bringt nichts als Ladenhüter zu wege! Die Gefühle und Leidenschaften, welche das Fatum in die Menschenbrust legte, haben ihre Berechtigung; denn sie sind da. Räuber zu Lande und zu Wasser, Banditen im Ritterharnisch oder Calabreserhute, Vater-, Bruder- und Kindesmörder, Spitzbuben von jedem Kaliber, Inquis-, Jesu- und andere „iten“, alles das hat es gegeben und noch vieles Andre mehr. Warum also soll man nicht davon schreiben?“
So werden denn die Keime des Bösen, welche in der Verborgenheit des Busens schlummern, erweckt und groß gezogen, zur Blüthe und zur Frucht gebracht. Der Roman beschützt und verklärt den Verbrecher, läßt seine That als Heldenthat erscheinen und belohnt sie mit der großen goldenen Medaille. Nicht er ist ein Feind der Gesellschaft, sondern diese ist an ihm zur Verbrecherin geworden und muß deshalb bestraft werden. Kunibert von Eulenhausen, der berühmte Raubritter, wird ein Königssohn; Himmlo Himmlini, der Räuberfürst, wird ein Graf, und bekommt die schönste Frau hundert Meilen in der Runde; die italienischen Berge und Maremmen, die spanischen Sierren, die ungarischen Puszten, die sarmatischen Ebenen sind belebt von Bravos, denen eine glänzende Apotheose und ein rührendes Denkmal bevorsteht, und bekommt einmal einer dieser Jaromirs, Rocza Szandors oder Gasparinos den wohlverdienten Strick um den Hals, so möchte man in stiller Bewunderung seiner Großthaten und heiliger Entrüstung über ein so lebensgefährliches Maneuvre das ganze hochlöbliche Richtercollegium an denselben Galgen aufknüpfen, welcher die hohe Sendung zu erfüllen hat, die hölzerne Ursache eines so ledernen Endes zu sein.
Wie angeleimt sitzt der Leser über solch einem Buche und staunt die glänzenden, mit allen möglichen Pinseln und Farben herausgestrichenen Gestalten an. Er lebt sich in ihre Verhältnisse, in ihre Anschauungen, in ihre Denkweise hinein; er jubelt, wenn sie Erfolg haben; er ärgert sich, wenn sie unterliegen. „Nach Sevilla, nach Sevilla!“ ruft es in seinem Innern; er möchte mitthun, möchte sich mit gleichem Ruhme schmücken, sich eines ähnlichen Lebens erfreuen und würde Vater und Mutter oder Weib und Kind verlassen, um die Höhle auf dem Monte-Viso vertheidigen zu helfen oder irgend eine schöne, dunkelgelockte Marchesa zu erobern. Er merkt nicht, daß seine Rechtsbegriffe sich verwirren und ahnt ebenso wenig das Unheil, welches ihm aus dieser Verwirrung erwachsen kann. So werden die wohlthätigen Bemühungen seiner Eltern und Lehrer ihres Erfolges beraubt; die Eindrücke, welche eine gute, auf sein Wohl zielende Erziehung hinterließ, verwischen sich, und die bisher so sorgsam gehegten und gepflegten Bilder, welche er aus seiner unschuldigen Kinderzeit mit herübernahm, erblassen immer mehr. Er hat Theil genommen an der Schuld seiner Helden, zwar nicht in der That, aber doch in dem Gedanken, und leicht kann diese innere Schuld maßgebend werden für sein späteres Denken, Reden und Handeln. Die Luft, welche zwischen den Blättern seiner Romane ihm entgegen wehte, war verpestet; er hat die gefährlichen Miasmen eingeathmet, und der Krankheitsstoff, welcher nun durch seine Adern pulsirt, macht
seine geistige Organisation empfänglich und geneigt zur Ansteckung. Geht in die Zucht- und Arbeitshäuser und fragt die unglücklichen Bewohner dieser „dunklen Orte“, aus welcher schmutzigen Lache sie den ersten verführerischen Trunk schöpften! Vielleicht wird ihnen die nöthige Befähigung und Einsicht, auf die erste und eigentliche Ursache ihres Strauchelns zurückgehen zu können, mangeln; aber den Rinaldo, den Schinderhannes, den Abällino und Konsorten kennt fast jeder von ihnen, der nur lesen kann, und wenn ich auch weit entfernt von der Behauptung bin, daß die größte Schuld der sittlichen Korrumption auf das Lesen schlechter Bücher zu werfen sei, so ist doch für den Menschenfreund jedenfalls schon der einzelne Fall hinreichend, seine Aufmerksamkeit und Theilnahme zu erregen. Wer einmal Gift aus solchen Büchern gesogen hat, für den verwandelt sich leicht auch der Inhalt eines guten Buches in Gift, und moralisch werthlos bleibt sein Leben selbst dann, wenn er die Schranken des Gesetzes, welche er in seinem Innern anzufeinden gelernt hat, äußerlich respectirt. —
Während die Wahrheit des Letztbehaupteten nur bei eingehenderem Nachdenken zu bemerken ist, bedarf es nur eines Fingerzeiges zu der Ueberzeugung, daß das Lesen von Hexen-, Geister- und Gespenstergeschichten dem Aberglauben bedeutenden Vorschub leiste, und ich darf mich deshalb füglich mit der bloßen Erwähnung dieser Thatsache begnügen. Weniger in das Auge fallend aber ist ein Anderes.
Die Schablone, durch welche der Stoff der allermeisten dieser Romane gequetscht worden ist, heißt:
Sie liebten sich, sie sahen sich und haben sich endlich genommen.“
Dieses Bekommen und Genommen ist der Endzweck der ganzen Hetzjagd, ist des Pudels Kern, ist der Punkt, auf welchen sich alles zuspitzt. Der tapfere Jüngling erblickt die sittige Jungfrau – und sie natürlich auch ihn. Der tapfere Jüngling liebt die sittige Jungfrau – und sie natürlich wieder auch ihn. Aber der tapfere Jüngling soll die sittige Jungfrau nicht bekommen – und sie natürlich auch ihn nicht. Da fühlt er einen wüthenden Ingrimm über die Schlechtigkeit des ganzen Menschengeschlechtes und sprengt mit verhängtem Zügel zum Burgthore hinaus, um alle Riesen, Drachen, Geister und Ungeheuer todt zu schlagen, ihnen ihre Schätze abzunehmen und dann die sittige Jungfrau heimzuführen. Oder er schleicht sich bei nächtlicher Weile mit seinem Saitenspiele unter das Fenster der Holden und singt:
Ade ihr falschen Weiber.
Mich zwickt und drückt des Herzens Leid;
Drum werde ich ein Räuber!“
Er flieht in des Waldes düstere Gründe, übt sich so viel wie möglich im Handwerke und bricht nach
einigen Jahren als gefürchteter Räuberhauptmann hervor, um Alles, was ihm in den Weg kommt, seiner Rache aufzuopfern. Die geschlechtliche Liebe dominirt das Leben in allen seinen Erscheinungen und Gestaltungen. Unter ihrer Macht muß sich alles Andere beugen; kräftige Selbstbeherrschung, edle Verzichtleistung ist eines mannhaften Ritters unwürdig, und die freundliche Fee, welche über die Erde wandelt, um die Herzen in heiliger Sympathie zu einen, wird gezwungen, die Göttin des Hasses, die Beschützerin des Bösen und die Schirmherrin menschlicher Begierden zu sein. So steigt die Liebe von der schimmernden Burg herab in die feuchtkalten Schatten des Thales; sie schleicht um die Ecken; sie drückt sich in die Winkel, bis sie, das häßlich gewordene Angesicht verhüllend, ihren Fall beweint und im Kothe der Sünde untergeht. Und der Leser? Er geht mit ihr, er schleicht mit ihr; er fällt und sinkt auch mit ihr. Die höheren Zwecke des Lebens sind seinem Auge entrückt worden; nur Liebe und Erhörung sucht er; der Gedanke an sie begleitet ihn zur Arbeit und zur Ruhe, macht ihn vor der Zeit reif und durchdringt sein ganzes Denken und Sinnen. So wird er ein Sclave zerrüttender erotischer Gefühle, bringt ihnen diejenige Zeit seines Lebens, welche dem energischen Ringen nach einer gesicherten Lebensstellung gewidmet sein sollte, zum Opfer und verschwendet die Kräfte seines Körpers und Geistes in Vergnügungen, die er von der Zukunft erwarten und auch dann nur in den Stunden der Erholung suchen sollte. Und findet er die Befriedigung, die so Verderben bringend ist, weil sie immer neues und heftigeres Bedürfniß erweckt, nicht auf gesellschaftlichem Wege, so zieht er sich in die Einsamkeit zurück und wird von den üppigen Bildern seiner überreizten Phantasie zur Anwendung jenes geheimen und unheilvollen Giftes getrieben, welches so zerstörend auf die körperliche und moralische Gesundheit unserer jetzigen Jugend wirkt und dem wir den Mitleid erregenden Anblick so vieler greisen Jünglinge und Jungfrauen verdanken. Wollten diese Beklagenswerthen unsre Fragen offen und ehrlich beantworten, so würden wir erfahren, daß weitaus die Meisten von ihnen die Nahrung für ihre nur in der Verborgenheit zu befriedigenden Leidenschaften aus denjenigen Büchern nehmen, vor welchen zu warnen die Aufgabe dieses Aufsatzes ist, und jeder Vater und Erzieher wird einen konsequenten Vertilgungskrieg gegen dieses gefährliche Gezücht als eine seiner vornehmsten und heiligsten Verpflichtungen anerkennen. Derjenige aber, welcher der leitenden und beaufsichtigenden Hand entwachsen ist, möge auf sein Heil sorgfältig bedacht sein, seine Lectüre einer genauen und sorgfältigen Prüfung unterwerfen und alles Unreine rücksichtslos ausmerzen. —Karl May.