Maghreb-el-aksa.
Von Karl May.
Maghreb-el-aksa“, d. i. „der äußerste Westen“, lautet der arabische Name Marokkos, dessen Sultan jüngst von einer rachgierigen tunesischen Odaliske Gift erhalten haben soll. Der Herrscher ist nicht daran gestorben, vielmehr geben die neuesten Nachrichten sein Befinden als ein ziemlich befriedigendes aus, dennoch aber lauern
Schakal und Hyäne an den Stufen seines Thrones mit Gier auf das jedenfalls blutige Erbe, und die jenseits des Wassers lagernden Wappentiere der Mittelmeerstaaten sind sprungbereit, ihre „am Fuße des Atlas etablierten Interessen zu wahren“ — wie der diplomatische Ausdruck lautet.
Schon hört man Marokko als das afrikanische Bulgarien bezeichnen, und von allen Seiten richten sich gespannte Blicke auf das Land, welches zwar längst nicht mehr ein für uns mit sieben Siegeln verschlossenes Buch zu nennen ist, aber doch des Eigenartigen und Befremdlichen so viel bietet, daß man, besonders in Erwartung der dort bevorstehenden Ereignisse, wohl wünschen mag, etwas echt Maghrebinisches, wenigstens im Bilde, kennen zu lernen.
Eine vortreffliche Gelegenheit dazu bieten die Aufnahmen des Zeichners der britischen Mission, welche im April des laufenden Jahres von Tanger aus nach der Hauptstadt des Landes ging.
Da sehen wir zunächst das lebenstreue Bild marokkanischer Musikanten, welche den Empfang der Mission beim Gouverneur von Dukalla verherrlichen sollen. Sich tanzend vor- und rückwärts bewegend, lassen sie die schrillenden Pfeifen erklingen, während der dunkelhäutige Dirigent die Tabl, ein dem Tamtam ähnliches Instrument, dazu schlägt. Von Harmonie ist dabei freilich keine Rede, denn Seine Excellenz, der „General Baß“ hat sich in Dukalla noch niemals sehen lassen.
Will der Beduine Gäste empfangen, so thut er das am liebsten durch ein Lab-el-barud, zu deutsch Pulverspiel (S. 982), und je vornehmer diese Gäste und je mehr ihrer sind, desto bedeutender ist die Menge des Pulvers, welches verschossen wird. Die Empfangenden jagen den Ankommenden in wilder Carriere entgegen, bis hart an sie heran, so daß es scheint, als ob sie dieselben niederreiten wollten. Dann reißen sie ihre Pferde herum und sprengen wieder zurück. Das wiederholt sich, bis das Duar oder Tschar, das Zelt- oder Häuserdorf, erreicht ist. Dabei wird geschossen und aus Leibeskräften geschrieen; es scheint, als seien alle vom Scheitan oder den bösen Dschinns der Wüste besessen, und wollen die Gäste sich höflich erweisen, so stimmen sie mit ein und suchen die anderen womöglich noch zu überbieten. Es gibt das eine Szene, die gar nicht zu beschreiben ist.
Dann stehen die Frauen und Töchter am Eingange der Zelt- oder Hüttenreihen und rufen den Nahenden ihr „Marhaba“ (Willkommen) entgegen (S. 997). Die eine oder andere läßt sich von der Begeisterung vielleicht hinreißen, den Gruß vollständig auszuführen: „Ahla wa sahla wa marhaba — viel Familie, leichtes Leben und Unbeengtheit wünsche ich dir!“
Auf der Kehrseite dieser schimmernden Münze sind die Bettler zu sehen, deren sich der eigentliche, stolze Sohn der Wüste schämen würde (S. 1007). Er teilt den Stammesarmen so viel von seinem Reichtum mit, daß sie nicht zu betteln brauchen. Der
seßhafte Maure aber ist härteren Herzens. Redet ihn ein Bettler mit einem „Dachel allah — ich bitte dich um Gottes willen“ an, so sagt er ihm vielleicht ein „Allah jusellimak — Gott behüte dich!“ und geht mit geschlossenen Händen weiter. Wir aber wollen den hier am Ausgange des Lagers stehenden Bittstellern freundlichere Geber wünschen, welche nach den Worten des Propheten handeln: „A’mel cher wa irmih fil baher — thue Gutes und wirf es ins Meer!“
Haben diese Gäste sich vom Staube der Reise gesäubert und ausgeruht, haben sie den Pillaw, das Kuskussu und den obligaten, in Fett schwimmenden Hammel gekostet, dann werden Besuche gemacht oder empfangen, die Herden besichtigt, oder der Scheik el Urdi, der Herr des Lagers, ladet sie ein, sich von der Vortrefflichkeit seines Schahin zu überzeugen.
Ein gut „abgetragener“ und „berichtigter“ Falke ist der Stolz seines Besitzers und wird sogar auf Gazellen abgerichtet, denen er auf den Kopf stößt, um ihnen das Augenlicht zu nehmen. Ein Schahin muß kühn und stets kampfbereit sein und darf sich selbst vor el Büdsch, dem gewaltigen Bartgeier, nicht fürchten. Der Beduine reitet, wenn er mit dem Falken jagt, stets sein bestes Pferd, vielleicht gar ein Radschi pak („reine Adern“), welches von Mohammeds Lieblingsstute stammt. Es kennt jede Bewegung seines Herrn, es beobachtet ihn genau. Sobald er dem Falken die Kappe abnimmt, hält es sich sprungbereit, und kaum streckt er den Arm aus, um den Vogel abzuwerfen, so schießt es ohne Kommando mit ihm von dannen, dem Wilde nach, welches es ebenso scharf beobachtet hat wie sein Herr.
Während der Falkenjagd nur von dem wohlhabenden Bewohner der Ebene gehuldigt wird, liebt der arme aber verwegende Bewohner der Atlasberge einen anderen Sport, welcher freilich mit unserem siebenten Gebote nicht gut in Einklang zu bringen ist. Das Wort Haremi, Räuber, gilt ihm als eine sehr ehrenvolle Bezeichnung. Dabei ist er ungemein höflich und wird niemand die Taschen leeren, ohne bei jedem Gegenstande, den er nimmt, ein freundliches „Bidesturak“ oder „’an isnak — mit Ihrer Genehmigung“ zu sagen.
Ganz unvergleichlich ist bei den marokkanischen Tribus der militärisch sein sollende Empfang vornehmer Gäste (S. 968). Es geht da freilich ohne Pomp nicht ab, aber ein deutscher Kavalleriewachtmeister würde, wäre er dabei, gar nicht aus dem Kopfschütteln herauskommen. Der Scheik oder gar der Kaid selbst kommandiert zwar: „Has dur — Gewehr über!“ oder „Isalam dur — präsentiert das Gewehr!“ Aber wie diese Befehle vollzogen werden, das könnte den ältesten Karrengaul, welcher vor zwanzig Jahren in der Front stand, zum Durchgehen bringen.
Dennoch ist der Anblick einer solchen Truppe nichts weniger als lächerlich. Jeder einzelne Reiter ist ein Charakter, ein würdevoller, -
würdevoller, selbstbewußter Repräsentant seines Stammes und seiner Art. Die Fremdwörter uniformieren und nivellieren würden bei ihm auf den zornigsten Widerstand stoßen. Er ist ein geborener Krieger und hält es für beleidigend, sich erst dazu drillen lassen zu sollen Er hat als kleiner Bube zwischen Pferdehufen geschlafen und die Hälfte seines Lebens im Sattel zugebracht. Die Ausdrücke Radschal und Chejal, Mann und Reiter sind für ihn ganz gleichbedeutend. Wehe dem, der ihm sagen wollte, daß er schlecht im Sattel sitze oder seine lange Flinte nicht richtig anzufassen verstehe!
Daß er ein Reiter sei, und zwar ein ausgezeichneter, das zeigt er täglich und stündlich, mag sein Pferd, vor dem todbringenden Smum fliehend, die ungemessene Weite der Wüste oder Steppe förmlich verschlingen oder mag es, von glühendem Durst verzehrt, langsam, Schritt um Schritt über die eigenen Hufe stolpern. Wenn die Schläuche ausgetrocknet sind und die Zunge wie sengendes Erz im Munde liegt, wenn die Augen wie durch Blut und Feuer sehen und der kraftlose Körper trotz des Sonnenbrandes keinen Tropfen Schweiß mehr hat, wenn jeder Schritt den Körper schmerzt und das Ziel doch noch so fern liegt, dann gilt es, Mann zu sein.
Da sucht sein Blick am niedrigen Horizonte vergeblich nach Hilfe. Wasser, nur Wasser kann Rettung bringen, und er weiß es doch genau, daß es, soweit sein Pferd ihn heute auch schleppen mag, nicht einen einzigen Tropfen gibt. Oder sollte er sich irren? Dort drüben, links, blitzt und wallt es wie eine ganze Wasserflut. Es ist ein See, ein großer See! Das Pferd des voranreitenden Führers öffnet prüfend die Nüstern und wiehert freudig auf. Auch der ihnen begegnende Ben Amir, welcher sich nach der Hauptstadt betteln will, deutet mit der Hand hinüber und grinst freundlich mit seinem Negergesichte, aber der Führer blickt hinweg und sagt traurig: „Das ist Chylaf el hawa, die Lüge der Luft, das ist Mah esch scheitan, das Wasser des Teufels. Wer dieser Lockung folgt, der reitet irre und ist verloren!“
Ueberwindet der Reisende solche Gefahren, dann erquickt ihn doppelt der Anblick weißschimmernder Häuser, grünender Gärten und um diese her lagernder Zelte. Sein Herz ist von Dank erfüllt und alles Ungute, Unreine scheint von ihm gewichen zu sein. Desto größer ist sein Mitleid mit den verhüllten Gestalten, welche einsam seitwärts am Wege sitzen, weil es ihnen verboten ist, mit einem gesunden Menschen in Berührung zu kommen. Es sind Aussätzige, dem entsetzlichen Schicksale verfallen, daß ihnen die Glieder einzeln absterben und sich aus den Gelenken lösen.
„Ana dscho ahn, ana’ atschan — ich habe Hunger, ich habe Durst!“ rufen sie in flehendem Tone.
Wenn der Mitleidige sich nähert, so erheben sie sich, setzen ihre Schalen, in welche er die Gabe legen soll, zur Erde
und entfernen sich, um erst dann zurückzukehren, wenn er sich entfernt hat. Ihr Dank folgt ihm in Segensrufen nach.
Auch die Mitglieder der britischen Mission kamen an solchen Bedauernswerten vorüber, bei deren Anblick biblische Erinnerungen erwachen; dann lagerten sie, als letzte Rast vor der Hauptstadt, bei einem Palmenwalde, an einem Wasser, welches ihnen und ihren müden Tieren reichliche Erquickung bot.
Das war im April. Sie durften friedlich unter Palmen wandeln, und bei den Pulverspielen waren die Flinten blind geladen. Jetzt rüstet man dort zum mörderischen Kampfe. Dieses herrliche Land hat schon so viel Blut getrunken. Es steht unter dem Zeichen des Halbmondes. Geben wir es — fi aman allah — in Gottes Schutz!